Das zaristische Russland. 03 Die Leibeigenschaft

Aus dem Russischen übersetzt von Alice Panin
Autor: Panin, Victor, Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Landeskunde, Völkerkunde, Leibeigenschaft, Bauern, Sitten, Bräuche, Freiheit,
3. Die Leibeigenschaft.

Unerwartet schnell senkt sich zuweilen das nächtliche Dunkel über die Steppe . . . es kommt einem vor, als hätte eine unsichtbare Hand in gigantischem Schwunge ein unermesslich weites Trauergewand über das während des Tages ermüdete, abgequälte Antlitz der russischen Erde gebreitet . . .

Am dunkelblauen, finsterblauen Himmelsgewölbe zeigen sich zaghafte Sterne, als wagten sie nicht hell zu erglänzen . . . sie flimmern ängstlich wie die züngelnde Flamme der Wachskerzen unter düsteren Tempelgewölben am einsam verlassenen Sarge . . .

Horchst du bin, so ertönen im nächtlichen Dunkel tausenderlei verschiedene unterdrückte Stimmen . . . es stöhnt einer leise . . . es weint jemand bitterlich . . . verzweifelt, hoffnungslos entringt sich tiefes Schluchzen einer gequälten Brust . . . kalter Schauer überrieselt dich, du fürchtest einen Schritt zu tun, denn es dünkt dich, als wäre die Mutter Erde verwundet abgequält . . . als drückte sich jeder Schritt schmerzhaft in ihre Brust und rufe Wehklagen hervor.

Wunderlich, unverständlich bist du, o russische Steppe!

Seit Jahrzehnten wandere ich als obdachloser Nomade ziellos, ohne Weg und Steg, auf deinem Antlitz, unglücksvolle Erde . . . und nirgends konnte ich etwas anderem als Tränen, kummervollen Seufzern begegnen . . . Oft wandte ich mich an dich mit der Frage:

„Was bist du so trübselig in Gedanken versunken, meine Herzinnige?" . . . Sie aber schweigt rätselhaft, die Runzeln ihres leidenden Gesichtes wollen sich nicht glätten, und Tränen fließen . . . fließen . . .

Es nimmt mich wunder, weshalb es in meinem eigenen Leben keine Freude gibt, und ich als Wanderer vor dem Leben fliehe, ich flüchte, als folgte mir jemand auf den Fersen . . . das ist wohl das Stöhnen meiner leidenden Erde, das mich verfolgt . . .

Ferne in tiefem Dunkel sehe ich ein einsames Licht flackern. Es scheint ganz nah, aber ich kenne den trügerischen Schein dieser nächtlichen Lichter, und ich sage zu meinen ermüdeten, verwundeten Füßen: Nicht so bald kann ich euch Ruhe gönnen . . . Und was ist das für ein Rastort? Das ist weder ein Dorf, noch eine Ansiedlung, ich weiß, das ist eine Nachthut der Pferde. Und doch ist es so unendlich wohltuend, in der Dunkelheit neben sich ein menschliches Wesen zu fühlen . . . die schwache Flamme des Wachtfeuers wärmt zwar nicht sehr, aber sie schläfert leise meine irrenden Gedanken, meine Grübeleien ein . . . Ich raffe mich auf und eile.

Ein Hund bellt und stürzt auf mich zu.

„A-u! A-u! Barboska!" — Vom Wachtfeuer her ertönt eine klare Kinderstimme, die unwillig und besänftigend zugleich den Hund ruft.

„Brüderchen, wollt ihr den Hund zurückrufen?" schreie ich in der Richtung des Feuers, und lange noch hallt das Echo meiner Worte in der Steppe wieder, lange noch spottet mir jemand nach: „Ue!"

„Komm nur heran, Mensch, keine Angst!'' ertönt als Antwort ein greisenhaftes, dünnes Stimmchen, und im Schein des Feuers sehe ich, dass sich jemand erhebt und sich in der Richtung auf mich zu bewegt, wobei er unterwegs dem Hund unwillig zuraunt:

„Barboskä, so hör’ doch auf, du Kläffer!"

Ich gehe auf die Stimme zu.

In der Dunkelheit ersteht vor mir die gebeugte Gestalt eines Greises, mit einem Stabe in der Hand. Er antwortet auf meinen nächtlichen Gruß und fragt besorgt:

„Bist du auch nicht erschrocken, du Gottesmensch? Du musst nichts fürchten. Der Hund ist nicht böse, aber der Köter liebt zu kläffen!'' — Wir sitzen bloß zu dritt um das Feuer, der gebrechliche Alte, ein flinkäugiger Junge von elf Jahren, der in Lumpen gekleidet ist, und ich, ein obdachloser Wanderer.

045 Bauer in Wintertracht

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044 Tarantasse

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046 Bauernstube

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047 Großrusssin

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048 Dorfmusikant

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063 Russland, bettelnder Pilger

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066 Russland, Ein Hausierer

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070 Dorf an der Wolga

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083 Bauernkinder in Kleinrussland

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