Gotteshäuser, Gemeinde, Gottesdienst

Grau und grün, in den natürlichen Tönen wettergefärbter Bretter, stehen Gotteshäuser wie dieses auf hügeligen Straßen oder in einer Senke, mitten im Dorfe oder in einer Vorstadt, fast schon im Freien; mit diesen spitzen Dächern deren unelegante und natürlich schöne Kurve so viel ungekünstelten Ausdruck hat, gegliedert und vielfältig, schlicht und zusammengesetzt wie die Seele des Menschen, die sich in ihm entfalten soll. Seine dünnen Säulen von geglätteten Balken sind wie Töne, die kleinen Fenster und die menschenniedrige Tür die einer Heimstätte. Stets sind Bäume in der Nähe und die Holzhütten der einfachen Juden, deren Leben um dieses Gebäude kreist. Drinnen öffnet sich hinter einem Vorraum, in welchem sich der Wasserbehälter zum Waschen der Hände findet, der nicht sehr große Saal, von dessen niederer Decke gegossene Leuchter aus Messing hängen, in einfachen Formen, gebaucht oder kugelig; der geweißt oder von der Zeit gedunkelt ist wie ein Gemälde, und den keine Malereien schmücken. In der Mitte, von Stufen emporgetragen, steht das viereckige, umzäumte Gehege, in welchem die Thora vorgelesen wird, sie, die, an der Ostwand in einem oft andächtig geschnitzten Schrein bewahrt, von Stickereien auf Seide oder Samt verhangen, geschrieben von andachtsvoller Hand auf Pergament und gerollt wie die Bücher vor viertausend Jahren, hier feierlich enthüllt wird. Hier entfaltet sich der eine Träger der jüdischen Seele: das Gebet. Nicht jene Art von Gottesdienst ist hier zu finden, die auch in den großen Städten des Ostens sich langsam gebildet hat, gebildet nach der Analogie des Westens und nichtjüdischer Kulte wahrscheinlich, in der der Vorbeter die Achse des Gottesdienstes ist, um die die Gemeinde nur wie ein murmelndes Bad schwingt, passiv bis zum Stillschweigen vor dem Gesang des Chasan und gar seines Chores. Hier ist der Vorbeter vielmehr nichts anderes als eine laute Stimme unter lauten, der ausgesetzte Träger des Rhythmus der alle bewegt, und jeden aus sich selbst.

Die Gemeinsamkeit dieser Gemeinde entsteht mehr aus der in allen waltenden Seelenart als aus der Gleichheit des Textes. Mit allen verbunden ist jeder Betende der alleinige Träger des gemeinsamen Betens, seine Stimme entsendet von allen aus zu Gott, dem sich Alle öffnen, dies Gebet, und sein Körper, Träger der Hingabe, schwingt hin und her, vorwärts und rückwärts, je tiefer er sich verliert, je höher er sich entzückt. Der Gebetmantel, der Tallith, im „liberalen“ Westen oft nur ein koketter und überflüssiger Ritualschmuck, zur schmalen Stola verschämt gefaltet und blitzend mit seiner goldenen oder silbergewirkten Borte — im Osten hüllt er den Beter ein, entwest den Kontur seiner Gestalt, trennt ihn aus der Welt und, oft auch über den Kopf gezogen, löscht ihm das Licht dieser Welt, damit das göttliche Licht ihm um so heller scheine. Ja, das Gebet ist noch laut im Osten, zu jeder Stunde des Betens entzündet sich allgemach die Glut des Ansturms auf die Höhe des Herrn, und für oberflächliche und westliche Ohren und Augen ist das ein peinlicher und geschmackloser Eindruck, diese rücksichtslosen Stimmen, diese geschüttelten Gestalten, diese fremdartig artikulierten, geheulten, gestöhnten Melodienteile, die zu einem wilden schreienden Chorus zusammenbrausen und die sogar außerhalb der Mauern des Hauses wie das Brausen der fernen Brandung, wie das Rufen wilder Menge tönen. Wer aber je in einer Moschee der Islamländer geweilt hat und es durfte während des Gebetes, der erkennt im Juden den Orientalen. Der Rhythmus, der dort die Körper bewegt, ist entgeisteter, weniger persönlich, geregelter durch die Vorschrift, ist in den objektiven Teil des Gebetes eingegangen; beim Juden blieb er subjektiv, mehr vom Antrieb geformt und aus der einzelnen Seele des Beters nach der Gewalt der Stunde brechend. Aber das auch findet sich im Orient, und kurz, der betende Ostjude in seiner äußersten Verzückung ist dem Derwisch näher als irgend einem modernen Juden. Die Andacht, diese in sich versinkende, sich still öffnende, den himmlischen Frieden in sich empfangende Gebärde des Westens, ist dem motorischen, dynamisch bewegten, wie der Pfeil von der Sehne geschnellten Wesen des betenden Juden genau entgegengesetzt.


Aber nicht einmal in dieser Umgebung zeigt sich ganz, wie der Jude und der Raum, in dem er betet, in Wirklichkeit einander gehören. Erst in dem kleinen Beth-Hamidrasch, dem „Bessmedresch“, das nicht größer ist als eine große Stube und von denen es in jeder Stadt viele gibt, in Gassen versteckt, hoch oben in Häusern oder hinter mehreren Höfen, erst in ihnen enthüllt sich das. In dieser Stube gibt es einen großen Ofen, den kleinen Schrein der Sefer-Thora, viele Bänke, die auch die große „Schul“ füllen, Pulte mit Kerzenhaltern und, hier besser bemerklich als in jener. Wände mit Folianten verstellt. Zu den vier Stunden des Gebetes — früh morgens, am Vormittag, am Nachmittag und gegen Sonnenuntergang — , füllt sich das „Bessmedresch“ mit Betern, und sie sind hier noch reiner, noch entbundener als in dem großen Baume. Vorbeter ist hier, wem gerade diese Ehre zuteil ward, und keine größere ist hier zu vergeben. Aber auch zu allen anderen Stunden des Tages und der Nacht sind hier Juden beieinander. Ihre Profile und die gebogenen Schultern heben sich von den geometrischen Ornamenten der Bücherwand belebt und rührend ab. Da sitzen sie, von der Straße gekommen, müde, ruhend, zerlumpt und alltäglich — und im Sitzen kommt ein wenig Stille in sie, Entspannung, Erleichterung. Ist's Winter, so suchen sie die beglückende Wärme des Ofens, und das Ausruhen wird zum Schlafe. Und niemanden stört der schlafende Jude, und niemand ihn. Er ist daheim, dies ist aller Haus und also auch sein Haus. Neben ihm reden Einige von den Ereignissen der Stadt oder der allgemeinen Zeit, die politischen Fragen geben zu einer regen Erörterung Anlass. Andere besprechen ein Geschäft, einer liest die Zeitung. An einer Ecke betet ein Nachzügler sein einsames Gebet, der Tallith ist seine Mauer. Und nachdem er es beendet hat, unmittelbar danach, mischt er sich in die Unterhaltung einer der Gruppen oder tut wie der Schläfer. Denn im Osten ist nicht die Trennung durchgeführt, die das Leben des Westens so voller Schema, Erstarrung und leerer Maske macht: hier Ort des Betens und sonst nichts, dort Ort der Politik, des Geschäftes, der Ruhe. Sondern eines fließt ins andere, eines trägt das andere und erträgt es. Die Seelen sammeln sich jäh zur einen Haltung und werfen sich jäh in die andere. Die Andacht erlaubt keine Störung, die Extase kennt keine Störung. Und der Gott, der des Menschen Schöpfer und Vater ist, erscheint ihm nicht als ein ausschließendes und bannendes Wesen das keine Entweihung seines Ortes duldet, sondern als so hoch und zugleich so allgemein, so gütig und so vertraut, dass vor ihm jede Alltagshaltung des Juden, seines Lieblings und angelobten Besitzes, erlaubt und frei erscheint. So wenigstens empfindet es der Jude. Er ist daheim auch wo sein Herr ist, und dieser Raum, das Haus des Gebetes und der Lehre, ist ebenso Volkshaus wie Gotteshaus. Darum können darin auch Versammlungen eine Stätte finden, die ganz weltlich sich mit den Problemen und Nöten der Gemeinde befassen, ohne dass irgendwem auch nur der Gedanke an ein Sakrileg käme, und dem wahrhaft Frommen am allerletzten, denn er weiß, dass die Brücke zu Gott nicht in irgendeiner Räumlichkeit fußt, sondern in der Seele der Betenden.

Betet dieser Jude? Man möchte darauf schwören. Zwischen seinem Gesicht und dem Buche in seiner Hand ist eine magnetische Verbindung ausgespannt. Die alten und schweren Linien seines Gesichtes, vom Leben gehöhlt, sind jetzt Kanäle für eine Aufmerksamkeit, die die erschütternde Seligpreisung des Geistes ist; sein Mund, andächtig geöffnet, spricht lautlos Worte die ihm bis ins Herz klingen. Die Hand, die das Buch hält, ist wie ein Spiegelbild unter das Gesicht gelegt: als spiegele sich im weißen Wasser des Bartes seine zusammengepresste Geistigkeit; und wie ein kleines Tier, ausdrucksvoll, erfahren und gegliedert, wagt sich die andere Hand verletzlich und scheu aus der Höhle des groben weiten Ärmels. Dieser Mensch mit dem Umriss der Versunkenheit betet aber nicht: er liest. Und der Jude mit dem Buch: das ist erst der eigentliche Jude. Hier sind Gefilde ausgebreitet, die seine eigentliche heimatliche Ebene sind, endlos bis zum Horizont des Unwissbaren. Hier kennt er alle Gefahren und überwindet alle, hier auch fühlt er sich, ein allzu oft Gejagter, dem Leben nur schwer Gewachsener, endlich frei, fruchtbar und mächtig. Hier spielt er wie ein Läufer mit seinen Kräften. Es ist wohl wahr, in dieser Freude und Geborgenheil verbirgt sich auch eine Gefahr: die Verleumdung des Lebens. Aber sie droht nur dem Jungen; der alte Mann, müdegehetzt von diesem unerbittlichen und ebenbürtigen Gegner, darf sich mit Recht in diese Rettung flüchten. Und das tut er nun. Das Buch ist ihm alles, ihm, der in herrlichen Mythen die Erschaffung der Buchstaben aus dem Feuer des göttlichen Thrones an den Anfang der Schöpfung stellt. Am Buche reguliert sich ihm die Welt: was von ihr in Bücher einging, das allein ist wert und wichtig; alle anderen Erscheinungen treten vor ihnen zurück. Und darum ist er so dankbar und glücklich, wenn seine heimische Umwelt und Seinesgleichen in Bücher gebracht, zum Dasein der Buchwürdigkeit erhoben werden; jetzt erst ist dieser Umwelt und ihm selbst die volle Würde und Dauer wahrhaft lebender Dinge geschenkt worden. Dies Gefühl ist vielleicht einer der Gründe, die der jüdischen Epik einen so tiefen Erfolg verliehen; und wenn gar in hebräischer Sprache, der heiligen Sprache, ein Dichter solche Gegenstände gestaltet, werden sie selbst mit Ewigkeit geweiht, so tief auch sonst die Bescheidenheit des Juden ihn von so sprengenden Gefühlen über sich selbst abhalten möchte. Dem hebräischen Dichter, aber auch dem jüdisch schreibenden Dichter, wird aus dieser Einstellung ein Glanz und eine Liebe entgegengebracht, wie sie nur einfache Völker ihren Schaffenden zu schenken vermögen. Bialiks oder Schneurs Geltung im Ost Judentum ist unvergleichlich mit der weit abstrakteren, unverbindlicheren, wirkungslos bewunderten oder gar nur berühmten deutscher Dichter von ähnlichem Rang; und nur die unbedingte Nachfolge, die Stefan George von seinem Kreise geleistet wird, ist mit dieser ursprünglichen und blutvollen Geltung und Führerschaft zu vergleichen. Hier aber ist es ein ganzes Volk von Armen und Alltäglichen, nicht die mühsam Erlesenen der höchsten Bildung ohne volkhafte Verwurzelung, die ihre Dichter so lieben: Mendele und Scholem Alejchem, Asch und Agnon und vor allem der herrliche Jizchak Lejb Perez sind die Söhne des Volkes, und ein ganzes Volk ist ihr begeisterter, dankbarer, entflammter Leser. Der Jude, der das Buch in der Hand hält, das ist der bewaffnete und getröstete Jude; er lebt in Gefilden, die ohne Leid und Sünde sind.

Was nun aber erst von dem Juden sagen, der im Bethhamidrasch oder daheim vor dem aufgeschlagenen Talmudtraktat sitzt? Um ihn ist der Ring geschlossen, er ist glücklich. Um seine Lippen spielt ein zartes Lächeln, in dem tiefen Schatten des Blickes ist die Versunkenheit des völlig Wunschlosen. Der Abschnitt des Buches, der vor ihm liegt, bedeutet ihm Abbild und Enträtselung der Welt, ein Lebensführer durch alles Verworrene, zugleich in seiner Schwierigkeit eine geistige Anstrengung, Aufgabe, Übung höchsten Ranges — und einen Gottesdienst, die Erfüllung eines religiösen Hauptgebotes. In der Lehre forschen, das heißt: Talmud lernen. Er sagt „lernen“ schlechtweg; denn es ist eine ewige Aufgabe ihrem Wesen nach, und nur durch die unablässige, ein Leben lang dauernde, ganz hingegebene Versenkung in sie vermag man sich ihr zu nähern. Schon das pure Verständnis des Problems, das gerade vorliegt, ist dem Fremden eine unvergleichliche Schwierigkeit. Denn der Talmud ist zunächst ein Protokoll: die Aufzeichnung der Diskussionen (Gemara) in den Lehrhäusern Babylons (und Jerusalems). Diskutiert wird die Anwendung der mündlich überlieferten, später schriftlich fixierten Lehre (Mischna) auf das Leben der Juden der damaligen Zeit und unter den Verhältnissen in diesen Ländern etwa um das Jahr 200 bis 400 unserer Zeitrechnung, in der syrischen, aramäischen Sprache, deren sich die Juden damals mündlich bedienten. Jedes Gebot der Mischna knüpft an eine Stelle in der Thora, dem hebräisch geschriebenen Pentateuch an; die Begründung eines Gebots aus ihr geschieht aber nicht logisch-kausal, sondern entweder mnemotechnisch, also wortmäßig, wobei die vielfältigen Bedeutungen eines und desselben hebräischen Wortes reichlich benutzt werden, oder nach Analogien anderer Thoraworte, die zu der hier vorliegenden Stelle innere Beziehungen haben. Die Auslegung solcher Worte wird nun diskutiert, gemäß den verschieden geübten Bräuchen, und zwar gewöhnlich zwischen den Anhängern zweier Schulen, der strengeren und milden. Sie diskutieren nicht nur die Fakta oder die Bedeutungen, sondern vor allem auch die Prinzipien des Denkens, nach denen entschieden wird; und das immer an irgendeinem konkreten Fall, der dadurch seine Vereinzelung verliert und eine beispielhafte Wichtigkeit enthält. So kommt es, dass mitunter Menschen, die von alledem nichts wissen und nur das rohe Wort wahrnehmen, in diesem tiefsten, unaussprechlich weisen Buche ein absurdes, wüstes, oft fast unsinniges Gezänk um des Kaisers Bart zu hören glauben; sie hören nur ihre eigene Unwissenheit, Und auch die Lobredner dialektischer Schulung in der Gemara verwechseln eine Nebenwirkung mit der großen Aufgabe: das ganze Leben des Juden (des Menschen) und all seine Gebräuche, all die vielen Verschlingungen und Überraschungen des Tags und der Stunde so im Gesetz zu verwurzeln, dass die Entscheidung und das Leben der Weisesten und reinsten Lehrer für jeden Juden maßgebend wird; nicht aber so, dass ihm fertige Rezepte gereicht werden, die ihm Entscheidung ersparen, sondern so, dass ihm Geist und Gewissen für das Wesentliche geweckt werden, und so, dass sein Denken fähig wird, aus dem Einzelfall das Prinzip seines Zustandekommens herauszuschälen, dann wieder in die runde Fülle des Gegenwärtigen zurückzusinken, und nun, umfangen vom Geschehen und es zugleich von oben überblickend, diesem Einzelfall volle Gerechtigkeit zu gewähren. So ist der Talmud, der selbst Kommentar ist, und von den wichtigsten Kommentatoren von „Raschi“ und den „Tosafisten“ an bis auf diesen Tag weitergedacht und fortlaufend gedeutet wird, heute eine Literatur von zwanzigtausend Bänden, eine radikal abstrakte und ebenso radikal weltzugewandte Geistigkeit, Methode und Inhalt, Denkprozess und Ratschlag, Historie und unabweisbare Gegenwart. Er ist das Gehirn des Juden. Er ist das jüdische Volk noch einmal. Er ist die Durchsetzung Gottes im Menschenleben. Und er ist voller Weisheit und voller Beispiel. Denn in den Lehren und Aussprüchen der Lehrer und Schulhäupter ist stets ein Mensch enthalten, eine reine und ganze Gestalt. Die Essenzen ganzer Menschenleben, in inniger Einheit vollbracht oder erstrebt, stehen oft in einem Satze ausgesprochen. Sie werden mit Zügen aus dem Leben der Meister von den Schülern berichtet, die selbst wieder Lehrer sind, und in denen sich Existenzen zu erkennen geben, deren Demut und Reinheit uns Zerteilte und Entgeistete mit Erschütterung befällt. Ja, Weisheit vor allem ist im Talmud, nicht Klugheit oder Erkenntnis oder Philosophie oder Theologie, sondern die Weisheit des Lebens selbst, und in dieser Atmosphäre aufzuwachsen, mit diesen Beispielen und Ahnungen menschlicher Möglichkeit umgeben sich zu bilden, das gibt selbst den jungen Talmudschülern und nun gar erst den alten eine Aura von Reinheit des Um-das-Leben-Wissens, um das Eine das Not tut Wissens, vor der wir stolzen Okzidentalen schweigen lernen. Dass nach der Überwindung solcher Schwierigkeit des Lernens unsere Wissenschaft und Philosophie dem Ostjuden sehr leicht fällt, sei nur beiseite bemerkt.

Und nun sehe man am Abend und in der Nacht — als träfe man seinen alten Schuster oder Droschkenkutscher nach Feierabend gewohnheitsmäßig in Kants Kritiken oder Marxens Kapital vertieft — im „Bessmedresch“ oder daheim diese alten Männer mit den groben großen Arbeitshänden, das Gesicht zusammengeballt oder ganz gelöst, nach einem Tage voller Broterwerb vor einem Traktat der Gemara sitzen und selten allein, meist zu zweien, „lernen“. Leise murmelnd, leise singend, lesen sie sich den Text vor und bringen ihn sich nahe, indem sie ihn jüdisch formulieren, Kommentator nach Kommentator vergleichen und anwenden, und all das in einer wunderlich unmelodischen Melodie.

Denn schon dass diese geistige Arbeit nicht schweigend oder gesprochen verrichtet wird, dass sie gesungen, gesummt, modulierend versprachlicht wird, gibt ihr das Einprägsame und Entrückende großer Lehrgedichte oder Zauberlieder. Der Melos ersetzt den Vers. Der Oberkörper des Mannes muss sich dieser Melodie anschließen, er gerät in jene pendelnde Bewegung, die die völlige Unterjochung des motorisch angelegten Juden unter eine, unter diese geistige Stimmung aussagt. In dem Wiegen des Leibes werden alle zerstreuenden Sondertriebe und Absichten des ganzen Menschen eingefangen und abgeleitet; sie werden vom Juden durch Bewegung ebenso unschädlich gemacht wie vom Inder durch die absolute Unbewegtheit. Und wenn nun zwei Lernende beieinander sitzen, summend und wankend über den schwierig gedruckten Folianten, deren vokalloses Aramäisch und Hebräisch in verschiedenen Drucktypen Mischna, Gemara und Kommentar darstellt, innehaltend und in immer leidenschaftlicherer Rede, die man so wenig versteht wie die Auseinandersetzungen zweier Mathematiker an der strittigen Stelle einer langen schweren Formel, das Problem hin und her wendend, in Thesis und Antithesis, in dramatisch gesteigertem Hin- und Herwenden die Schwierigkeiten erst aufdeckend, immer neue Facetten von Widerspruch aufblitzen lassend: bis das Prinzip der Übereinstimmung aller Weisen aller Zeiten plötzlich seinen Sieg enthüllt der durch den Ursprung aller Menschenerkenntnis aus der einen göttlichen Weisheit a priori gesichert ist, bis der Standpunkt gefunden ist, von dem aus die Synthesis sich erschauen lässt: wenn zwei unscheinbare Juden so miteinander lernen, haben sie eine Intellektualität, eine geistige Ahnenreihe und Seinshöhe hinter und unter sich, vor der jedes andere nahöstliche Volkstum, was geistige Kapazität anlangt, in die Blässe primitiver Anfänge zurücksinkt. Hier ist die Wurzel einer geistigen Kraft, die den Juden zwingt, sich überall an die Spitze zu stellen, wo Denken und Denkenkönnen vorausgesetzt wird. Dass aus solcher Fähigkeit und Schulung, Tradition und Forderung (denn Knaben von zwölf bis fünfzehn Jahren müssen im Stande sein, die schwierigsten Probleme und Gedankengänge, sofern sie sie „gelernt“ haben, bei einer Prüfung aus dem Kopfe zu rekonstruieren) auch unerfreuliche Erscheinungen erwachsen können, reine dialektische Spielwut anstelle der Erkenntnis, moralische Equilibristik und selbstbetrügerische Jonglierkunst anstelle der ethischen Festigung treten können, sei zugegeben; aber es gibt keine Natur- oder Seelenkraft, die nicht auch Gefahren brächte, und „wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. So verwurzelt sich der Jude im Abstrakten, reiche Ströme des Lebens zieht er aus ihm aufwärts ins Wirkende. Wie aber entfaltet er sich im Konkreten, im Dasein, in dieser Farbenfülle, Lustfülle, anstürmenden Gestaltenfülle des Daseins? Dieser Jude, die feierliche Pelzmütze auf dem Kopf und ganz in den Gebetmantel gehüllt, der einen so gesammelten und zärtlichen Blick auf den Gegenstand in seiner Hand richtet, feiert ein Fest, ein Sommer- und Erntefest, das Fest der Laubhütten, und der Gegenstand in seiner Hand ist ein aus Weide, Myrthe und Palme gebundener Strauß, ein Feststrauß, dessen notwendige Ergänzung eine zitronenartige Frucht ist, der „Essrig“, duftende Frucht Palästinas. Aber von allem, was Frucht und Strauß im wirklichen Leben bedeuten, von dem Lachenden und Leichten, dem Leuchtenden und üppig Schmuckhaften ist nichts geblieben als ein Gegenstand ritueller Fürsorge und Ängste, der im Gebete an gewissen Stellen geschüttelt wird, umhergetragen und mit Segenssprüchen gebraucht. Nichts von hohem festlichem Lebensgefühl mehr weht um diesen Strauß — nichts Straußhaftes ist an ihm — , und damit wird er erst völlig zum echten Symbol. Die konkreten Beziehungen zum hohen feiervollen Leben sind dem Ostjuden geschwächt bis zu einem Grade, der das Festliche in seinem wahren Sinne überhaupt nicht mehr versteht, — kein gehobenes, jauchzend dankbares Lebensgefühl mehr geht dem Rhythmus des Jahres nach. Das ist der Preis, den der Jude hat entrichten müssen. Die Festversammlungen des antiken Israel sind Gelegenheiten zu einer veränderten Gebetsordnung geworden, zu Arbeitsruhe, besseren Mahlzeiten und einem Spaziergang vielleicht — aber Feste sind sie nicht mehr. Zwar darf man bitter fragen: wo sind in Europa wirkliche Feste? Der Jude ist auch hier nur ins Extrem gegangen; das Übel aber ist ein allgemeiner Verfall, und wir wollen ihm nicht anrechnen, dass er daran Teil hat. Nur dass in der Tat hier das Extrem gelebt wird: der Überschwang der Seele, der sich im Gebet so stark ergießt, hat auf das Lebensgefühl des Festfeiernden gar keinen Bezug gefunden; er spürt keinen Aufruf, fühlt sich nicht betroffen. Es ist selbstverständlich geworden, dass dem so ist; wo hat der europäische Jude denn quellenden Zugang zum Ablauf des Jahres? Dieser Städter in seiner Gasse? Und wie sollen sich ihm aus konkreten Ereignissen Feste ergeben, wenn die Ereignisse, die einst solche Feste schufen, in der Vorzeit des Volkes liegen, selbst Abstrakta geworden sind? Sie und ihren Gehalt spürt er stark: die Befreiung aus Ägypten, die Gesetzgebung am Sinai, die Errettung aus Hamans, des ewigen Feindes, Händen, die Wiederweihe des Tempels — diese Bedeutungen sind ihm voll gegeben; nur das Festliche in der Begehung, nur der Anteil des ganzen Lebensgefühls daran ist geschwunden; kaum dass der ursprüngliche Übermut des Purimfestes, seiner Verkleidungen und Spiele, noch schwach nachzuckt. Und doch ist im Ostjuden die Fähigkeit des vollsten Feierns, des festlichen Jubels noch da: denn der achte Tag dieses Laubhüttenfestes ist ein wahres Fest — aber dieser Jubel strömt aus der Freude an der Thora, der Lehre, deren letzter Abschnitt an ihm verlesen wird, den Kreislauf des Jahres beschließend. An diesem Tage werden die Thorarollen alle dem Schreine entnommen, der sie sonst birgt, und die Thora, seine heilige Geliebte, im Arme, tanzt der Jude im Hause der Lehre einen endlosen, wild-verhaltenen Tanz. Ja, er tanzt Reigentänze vor Gott, zu Melodien zuckend vor Kraft und Monotonie gehen die Rollen von Arm zu Arm, Stampfen und Staub erfüllt den Baum, der solches nur einmal im Jahre sieht: nicht im Freien auf der Wiese, nicht im berauschenden und exaltierenden Licht der Sonne tanzt der Jude seinem Gotte diesen davidischen Tanz — aber er tanzt. Und erst an diesem Tanze spürt man zutiefst die Entfremdung von allem Natürlichen, die den Ostjuden gefangen hält. Diese Greise und Männer mehr noch als die Jungen, die in ihren Gebeträumen wirklich tollen und jauchzen, diese springenden Juden mit wehenden „Tallejssim“ und geschüttelten Barten, tanzend selbstverständlich ohne Frauen als Orientalen die sie sind, zur Festesfeier um des Buches willen, das den Weg zu Gott enthält, den Weg des Lebens: diese Tänzer haben das Erschütternde an sich, mit dem sich jede echte Erkenntnis einstellt: wie weit weg vom Leben selbst sie sich entfernt haben. Und schon werden, mit Fahnen und Fähnchen in blau und weiß, mit Rosinen und anderen bescheidenen Leckereien, die Kinder selbst auf den gleichen Pfad geführt: Ssimchath Thora, „Ssimchestoire“ ist das einzige jüdische Kinderfest des Ostens ...

Versteht der Ostjude so die aus dem Leben selber quellende Freude nicht mehr — um so tiefer ist ihm die Trauer gegeben, die aus dem Geschick der Nation, des jüdischen Volkes, quillt. Ja, hierin ist er, Hiob unter den Völkern, allen anderen voraus, maßgebend, unerreichbar. Am neunten Ab, an jenem Teige, der zweimal den Fall des Tempels, den Fall des Volkes sah, ist eine echte und leidenschaftliche Verzweiflung in allen Versammlungen der Juden. In Pantoffeln und weichen Schuhen — das Ablegen der Stiefel ist das erste Zeichen der Trauer des Orientalen — treten sie in die Lehrhäuser; sie kauern auf dem Fußboden oder sitzen auf niederen Bänken und Schemeln, kleine Kerzen neben sich, ein kleines Buch in der Hand: im Halbdunkel erbleichen die Gesichter zu Schemen. Und zwischen zwei Kerzen beginnt der Vorbeter die Klagelieder des Jirmijahu zu lesen — zu singen, in einer schneidenden und schluchzenden Melodie, eintönig und aufregend in der beständigen Wiederkehr lang modulierter Klagetöne. Und das ist die Unsicherheit des Lebens selbst, die hier zur Erschütterung sich steigert; die Toten nicht nur jenes Jahres bestürmen die Seelen der Juden, die sich nun für vierundzwanzig Stunden der Speise enthalten werden; Tote des Mittelalters treten ein. Tote des ewigen Mittelalters das um die Juden webt: die Fülle der Erschlagenen aller Opfertage und Pogrome tritt ein, alle Bethäuser sind gepresst voll Seelen, die um die Kerzen wehen. Unendliches Leid saugt dem Menschen am Herzen; zum furchtbaren Gefühl des Lebenden von seiner Vergänglichkeit tritt das Grauen vor der Rohheit des Mitmenschen, der sich in jeder zornigen und gehässigen Erregung auf den Wehrlosesten stürzt, mit der physikalischen Treue des Gesetzes vom geringsten Widerstand. Und hier, um den wehrlosen Juden, ist die Glorie des stets Geopferten entfacht. Am neunten Ab, mitten im Glanz des europäischen Sommers, knüpft der Jude die Kette, die ihn an alle seine Toten bindet; er besucht die Friedhöfe und sieht die Steine, die von den Vergangenen künden. Die Trauer und die Verzweiflung sind an die Stelle der Freude und Erntelust getreten; hier lebt der Jude so heftig im Wirklichen des Untergangs, wie kein Westvolk das vermag. Das Gefühl nationalen Bedrohtseins, welches den Besiegten und Gelähmten des Weltkrieges so schwach pulst, dass von wahrer Volkstrauer überhaupt keine Spur im Öffentlichen zu merken war, dieses Gefühl flutet im Juden echter als Fremden vorstellbar. Denn die Trauer des Juden, unvergänglich über Jahrtausende und mit der furchtbaren Gegenwart ganz eins, wird ihm zugleich fruchtbar: sie wendet sich gegen sein eigenes Sein und Wesen; und wenn er auch aufschreit um Erlösung und im Hasse gegen den Schänder und Mörder: zuvörderst schlägt er doch an seine eigene Brust; er hat sein Ziel und seinen Weg verleugnet, hat gegen den Geist gesündigt, er ist der Urquell selbst des Leidens und der Schmach, nicht die Anderen, die Fremden, die Feinde! Wie hätten sie ihn, den Juden und Diener Gottes, schlagen und töten können, wenn er sich nicht elend von seinen Quellen entfernt und sein gebotenes Wesen verraten hätte! Diese Wendung, Zeichen nationaler Würde, jüdischer Aufgabe und menschlicher Reife, zugleich: aber Quelle der Erneuerung und ewiger Wiederaufrichtung diese Wendung, so scheint es, versteht der Europäer nicht, zum mindesten nicht der Deutsche, der wie besessen auf fremde Ursachen seines Unheils starrt und nur schwankt in seinem Hasse, ob er sich gegen den Engländer, den Franzosen oder — den Juden wenden solle ... Das physikalische Gesetz des geringsten Widerstandes ist in ihnen allen dreimal wach, noch heute. Arme Besiegte ohne die Frucht der Niederlage ...

Der Jude trägt seine Vergangenheit mit sich, gebeugt aber unermüdlich. Er neigt seine starken Schultern, Lastträger Gottes der er ist, und mit gebogenen Knien schreitet er langsam dem Ziele zu, das ihm gesetzt ist. Vergangenes in die Zukunft zu tragen. Denn es ist keine leere Last, kein ödes Eisen der Eroberung, kein fruchtloser Stein; es ist nährende Frucht seiner geistigen Erde. Am Abend wird er sie niedersetzen und sich hinlegen um zu sterben; denn er will ruhen. Aber wie er sie von seinem Vater übernahm, soll sein Sohn sie weitertragen. Überlieferung ist das Wort, das seine Last und seine Nahrung aussagt. Mit unvergleichlicher Kraft belebt sich ihm das, was anderen Völkern längst völlig unwirksamer Ballast wäre. Ihm nämlich wird sie, dem Volk ohne Land und Grenze, zum Bürgen der heiligen Dauer, und Dauer wieder, nach vorn unbegrenztes Leben auf der Erde, ist ihm zwar zunächst ein Selbstwert, vor allem aber der Träger der göttlichen Erfüllung. Wie ein furchtbares Eintreffen prophetischer Flüche sieht er die Gegenwart und die nähere Vergangenheit — näher nämlich für ein Volk mit sechstausend Jahre langem Bewusstsein; da sind die Abirrungen eingetroffen, die Müdigkeit des Gottesdienstes, der Selbstverlust und die Freude und Sehnsucht am leichten Leben der Anderen; aber mit ihnen grauenvoll eingetroffen der Fluch und die Rache, Hass, Blut und Tod, Verächtlichkeit und Schmach, Jagd und Aussaat über die ganze Erde — alle Worte der Propheten, ihre schlimmsten Träume und maßlosesten Verwünschungen. Und aus ihnen zieht der Jude die grenzenlose Gewissheit, auch der sanfte, linde, selig verklärende Teil dieser Reden werde eintreffen, das Furchtbare der Gegenwart mit grauenvoller Trostkraft verbürgt die Glorie die da kommt. Und da er Jude ist, und also weiß, wie tief des Menschen mitwirkende Verflechtung in sein Geschick ist, dass nämlich der waltende Herr ihn gewürdigt hat, das Werk der Erlösung mitzuwirken, und nichts von oben herabgegossen wird, sondern im Mute und Tun des Menschen die Mitgift des Heils liegt, vernimmt er die Aufgabe, mitzubereiten was dereinst kommt, indem er vor allem dauert, nicht erlischt und nicht verfließt. Hier gibt es für ihn keine Grenze des Nationalen und des Religiösen, sondern die Einheit Volk als Träger und Helfer der göttlichen Gnade. Und so darf von der Überlieferung kein Bröckchen abgebrochen werden, denn dann ist kein Halten mehr. Jede seelische Vorsichtsregel ist hier erlaubt, wo es gilt, das Gebäude, die chinesische Mauer um das Volk, zu stützen; die geringsten Gebote noch, deren Ausübung an sich vielleicht schon sinnleer erscheinen könnte, werden von diesem großen Sinn her belebt und unaufgebbar. Man bittet um Taufall und Regen zu Zeiten, wo nur in Kanaan Tau und Regen Notwendigkeiten sind, ohne einen Acker Landes zu besitzen: man behält das Mannbarkeitsalter des Knaben bei, ohne dass, in europäischem Klima, die körperliche Voraussetzung dafür da wäre. Man hütet sich, die selbständige Stellung der Frau, die im gelebten Leben längst Fakt ist, religiös anzuerkennen. Und da Kinder die Bürgen der Dauer sind, ist noch dem größten Elend, das durch geborene Kinder immer größer wird, große Kinderzahl ein Segen. So wird die Überlieferung, das Gesetz und die Lehre, Zentrum des Lebens, und der wilde Widerstand, das tiefe Misstrauen begreiflich, mit dem jede Bewegung kämpfen muss, die versucht, den Bann des Gesetzes zu lockern, weil sie sicher zu sein glaubt, die Fortdauer des Volkes und vor allem die Lösung seiner ewig jüdischen Aufgabe: Heiligung des Lebens, auf anderer Basis feststellen zu können.

Solche Bewegungen des Volkes hat es stets gegeben. Denn das Leben, die Lebenskraft des Volkes selbst warf sich von Zeit zu Zeit gegen die Mauer der Tradition. Muss es doch unmöglich scheinen, dass eine solche Umpanzerung mit starrer Vergangenheit ein Volk von so unerschöpflicher Lebensfülle, von so zäher Daseinsfreude für immer sollte bezwingen können. Die Kraft des Kerns und seine Lebendigkeit selbst haben allen diesen Befreiungsversuchen, so verschieden sie unter sich sein mochten, Wirkung und Fülle, Widerhall und Existenz gegeben; von ihr her empfingen das nationale Judentum und die sozialistische Bewegung, die Aufklärung (Haskalah) und der Chassidismus ihre Werbekraft. Die drei ersten dieser Bewegungen, im Westen entstanden, griffen auf das Ostjudenvolk nur über; die vierte, unvergleichliche, aberbrach aus ihm selbst: der Chassidismus. Heute weiß man im Westen von ihm vor allem aus den Veröffentlichungen Martin Bubers, die ja erst im Anfang stehen, und die, niemand weiß es besser als Buber selbst, vorläufig erst im Erklärenden, noch nicht im Gestalteten den adäquaten Ausdruck bekommen haben, so rein und leuchtend die Umrisse des Baalschem, jenes erschütternden und ganz reinen Menschen und seines Urenkels, des Rabbi Nachman von Bratzlaw, in den beiden Büchern enthalten sind, die uns dieser unser Lehrer gegeben hat. Ihm, dem wir so viel mehr noch verdanken, danken wir auch die Deutung dieses religiösen Phänomens, das im Ostjudentum noch heute ein Leben hat, wenn es auch nicht mehr jenes echte ist, das vom Baalschem und seinen wirklichen Jüngern einst ausging. Der Urgrund des Judentums, jene von den Essäern gelebte buchstabenlose Frömmigkeit des Tuns, brach wieder ans Licht. Nicht das Lernen, sondern das tätige innige Leben, nicht das Buch, sondern Mensch, Gemeinschaft und Natur wurden wieder Primat des jüdischen Daseins. Und so treffen wir heute noch — aber in den Gegenden, in die uns die Schickung des Krieges brachte, nur vereinzelt — jene Juden, die von der Reinheit, Heiterkeit und Schlichtheit umweht scheinen, mit der die chassidische Lehre gegen die Gewalt des Forschens auftrat. Sie gibt dem schlichten reinen Menschen des Alltags, des tätigen Lebens, den Schimmer des Gottgefälligen wieder. Wer in Hingabe und inniger Demut seinen Menschenbrüdern liebevoll und dienstfroh zugewandt, nicht vereinzelt, sondern als Glied einer Gemeinschaft fühlend, reinen Geistes und mit reinen Händen, seinem Werktag nachgeht, ist vor dem Höchsten nicht geringer als der Tag und Nacht Forschende. Dieser simple und ungelehrte Jude, der mit ganzer vom Gewinn unverzerrter Seele beim Strumpfwirken ist oder beim Wiederherstellen von Uhren, auch er ist gerechtfertigt, auch er dient Gott. Und durch diese Wendung ward das Leben dieser einfältig Tätigen mit einem Male erlöst und geweiht; die unaussprechliche Heiterkeit des guten Gewissens ward ihnen wieder; ja, die Freude trat zu ihnen und verklärte gerade diese Belasteten und Armen zu einer warmen Menschlichkeit und Würde, die unvergleichlich ist. Sie tönt in den oft wortlosen Tänzen und Melodien der Chassidim mit einem bezaubernden Rhythmus; sie spricht aus ihren Bewegungen und gelassenen Mienen noch heute. Sie haben zu alledem noch den Helfer und Fürsprech, der sie in den schweren Zweifeln des Lebens tröstend berät: den Zaddik, den Erwählten und Geheiligten, dessen Gebet eine magische Wirkung hat, der den Willen Gottes spüren und sogar wenden darf ... Eine ungeheure Erlösung bringt diese Lehre in das harte Leben des armen Juden und noch ein Letztes — einen Abglanz der großen Natur. Denn sobald der Baalschem und seine Jünger das Entzückende der Erde wieder entdeckt und in seine gottfrohe Würde eingesetzt hatten, konnte solches wohl verdüstert werden, aber verloren ward es nicht; denn diese kleinen östlichen Städte, eingebettet in Natur, mussten ja wieder und immer neu die Helligkeit des Feldes im ersten Grün verspüren und die befreiende Luft, die aus den Wäldern wehte. Von der mystischen Lehre des Chassidismus ging wenig verdüsternde Erdverneinung aus; der Kampf der menschlichen Seele blieb auf die irdische Tat gerichtet, und selbst die Seelen Wanderung, die sie aufnahm und ausbildete, bewirkte Erdbejahung: denn wenn auch Ziel war so zu leben dass man nicht von neuem in den Kreisgang der Wesen einzutreten brauchte, sondern in die Gemeinschaft der Reinen erlöst einging, blieb doch unser Dasein auf der Erde und seine Verrichtungen der einzige Weg dies Ziel zu finden, und darum durfte es nicht in Krampf und düsterer verneinender Buße hingebracht werden — denn niemand kennt den Grund seiner Wiedergeburt — sondern in hingebend reiner menschenliebender und die Verrichtungen der Hände fromm machender Tätigkeit. Was damit für das Ostjudentum ausgesprochen wurde, kann nur ermessen wer die Größe des Anteils werktätiger Berufe unter den Juden weiß. Man sollte eigentlich den stupiden Reden über das Händlertum des Ostjuden nicht so viel Wert beimessen, dass man die noch dazu überholten Zahlen anführt, die uns über die Verteilung der Berufe durch die letzte russische Volkszählung gegeben werden: nach ihr waren Handwerker, Arbeiter und dergleichen produktiv Schaffende mehr als 53%, Händler und Vermittler 31% aller selbständigen Juden — dies aber in den durchaus abnormen Zuständen der mit Juden übersättigten Westzone des ehemaligen Reiches. Sprechender noch sind die Zahlen dort, wo der Jude freier wählt was er tut, in New York etwa, wo 1.900 Handwerk und Fabrikation unter ostjüdischen Einwanderern 61,08% Männer und 71,80% Frauen beschäftigte gegen nur 38,04% und 36,07% der Gesamtbevölkerung. Und nur bemitleiden kann man denjenigen, der aus den dreifach kranken Zuständen der Okkupation etwas über die Lust oder Unlust des Juden zur Arbeit orakelt. Gehen wir lieber wieder in unsere Sphäre ein: der Jude des Ostens ist breit auf Arbeit gestellt, auf Handwerk vor allem, weil er, um sich ganz als Lebender zu fühlen, ein Heim haben muss, in dem seine Tätigkeit sich, und nicht in einer unpersönlichen Fabrik, vollziehen darf. Dieser Schuster, der in einer noch so kleinen Werkstatt seine Sohlen hämmert, ganz vertieft und froh verloren in das Glück des Arbeitenkönnens, das ist der wahrere Jude des Ostens. Denn ein Tätiger muss schon fast vergewaltigt sein, um nicht mit dem ganzen Körper, mit Augen und Muskeln lebendig sein zu wollen; und in diesem Volk ist ja das Leben noch nicht entartet; zur Existenz des Händlers (und des Lernenden) aber gehört die Verkümmerung der Freude am Auswirken des Körpers. Arbeit ist in jedem Sinne das Gegengift gegen Sorge; das Vertrauen auf Gottes Hilfe ist niemals im Ostjuden zum Verwerfen der Arbeit ausgeartet; sie vielmehr und ihre Frucht sind die Träger der göttlichen Hilfe. Und erst, wer nicht mehr arbeiten kann, wer betteln muss, ist wahrhaft verlassen und arm ... Dabei ist kaum zu erwähnen, dass die Arbeit des Juden redliche und treue Leistung ist. Gelernt haben was man tut, und so gut als möglich verrichten was man gelernt hat: diese Handwerker-Gesinnung, die ja nur in eine hohe Sphäre gehoben zu werden braucht, um dem Geiste des wahrhaft Schaffenden, des Künstlers, nahe zu sein, ist auch im Ostjuden lebendig wie in jedem Redlichen; auch sie religiös begründet und geweiht. Wer seine Zeit mit andachtloser und herzlos oberflächlicher Geschäftigkeit vergeudet, vergeudet sein Leben und vertut das, was ihm zum Dienste Gottes gegeben ward, die Zeit; er ist ohne Verbundenheit, der Betrüger hat keine Gemeinschaft. Daher wird man weit eher über die Unpünktlichkeit des ostjüdischen Handwerkers zu klagen haben — wie jedes Handwerkers — als über schlechte Arbeit; weil man ja gern Eile verspricht, die dem Besteller immer wichtig ist, und die man auch gerne leisten möchte — wenn nicht die ausgeführte Arbeit immer mehr Zeit brauchte als die vorgestellte ... Es ist ein oft entzückender Humor um diese altmodischen Männer, die hinter der europäischen Zeit ein gutes Stück zurückbleiben; in vielen Städten des Ostens, den großen besonders, hat sie der Pole überholt, der auch als Klein-Industrieller das moderne Tempo und die Maschine viel leichter in seinen Dienst nimmt als der Jude, dem die abschnürende Gesinnung der Zeit — Arbeit ohne Geist, ohne seelische, mit nur intellektueller Beteiligung — so sehr viel langsamer in die Lebensführung eindringt. Arbeit und Seele: hier sind sie noch verbunden; ein gesinnungshaftes Element ins Leben tragen, dem man ohne Unterbrechung angehört, ob man nun arbeitet oder sinnt, betet oder sich sorgt, das ist der Bürge der Ganzheit. Und so zerspalten die Seele des Juden sein mag in ihrer großen Dualität von Gegenwartselend und Zukunftsfreude, hierin ist sie nicht geteilt, sondern ein Rest von Fülle und Einheit macht aus dem Arbeitenden einen Menschen — einen von Gott geschaffenen Menschen.

Einen allgemeinen Fluch der Zeit aber und der Arbeit trägt auch der Jude: er ist hässlich geworden. So oft auch die Schönheit adligen Geistes sein Gesicht verklären mag mit der Helle einer vertieften und hohen Stirn — sein Alltag ist mit Düsterkeit, Farblosigkeit, Schmutz und Armut verderbt. Da seht ihn, vor seinen Karren gespannt, mit der Schulter ins Geschirr drängend wie ein Pferd mit seinem Bug, die Fäuste um die Deichsel gelegt, als wären sie ein Teil seines Geschirrs; das Tier im Joch ist schöner als er, so arm und abgetrieben es auch sei; ja noch der Karrenhund, der missbrauchte Renner der Steppe und der gefangene Jäger, hat mehr Anmut als er. Die Schönheit des Menschen, die befreiende und vergöttlichende Leuchte, ward in ihm unsichtbar unter einer dicken Asche. Sie ist im Leben des Ostjuden keine wirkende Macht mehr, sie, die im Urjuden so stark war wie biblische Gesänge sagen. Nur die jungen Mädchen und die Kinder haben sie noch; aber das ist hier nicht gemeint. Schönheit des Lebens nämlich als Sehnsucht, als Ziel, ist dem Ostjuden verdächtig; er wendet sich scheu oder erbittert von ihr ab. Sie ist Griechentum; sie ist die Maske des „bösen Triebs“, sie ist der Feind. Sie ist Sinnlichkeit und Freiheit. Sie bricht das Gesetz, sie lockt den Menschen in fremde Lebensformen, sie ist der Kürzer der Dauer. Um ein so hohes Gut wie Dauer zu erkaufen, muss man hoch opfern; und diese Seite des Daseins, die leuchtendste, wird geopfert. Sie ist es ja, von der alle Anfechtung des Lebens kommt, sie verführt die Jugend. In erotischer Sinnlichkeit das Böse schlechtweg zu sehen und die Schönheit des Lebens mit hineinzuwerfen in die radikale Abkehr von ihr: das ist die furchtbare Optik, die das späte Judentum in die Welt gebracht hat — die Kehrseite einer Spiritualität, die von nordischen Völkern aufgenommen wurde, die aber erfunden zu haben bei einem Mittelmeervolk unheimlich und drohend wirkt. Der „Epikuräer“, der „Apikojres“, ist dem Juden der Abgefallene und Verdammte an sich. Dieser Kampf und Krampf gegenüber einem so lebensverherrlichenden und strahlenden Phänomen sagt ja, wie stark im Juden der Antrieb dazu noch immer ist; nur dass ihm das gute Gewissen, Mut, Freude, Bejahung vor ihm völlig und wild ins Gegenteil umgeschlagen sind. Sobald dieser Dämon auftaucht, verliert der Jude Haltung und Besinnung; er fühlt, dass ihm, wie er heute ist, der Spaten an die Wurzel gesetzt wird. Freiheit des Lebens, Schönheit des Lebens: das ist der Verzicht auf die Zucht Gottes. Wer glücklich leben will — glücklich im Sinne des freien antiken Menschen — ist verflucht; wer seine Persönlichkeit spielend und rein ausbreiten will auch im sinnlichen Bezirk des Lebens, der hört auf, zu Gott zu wollen. Mit allen Trieben kann man das Leben heiligen: nur mit Sinnlichkeit und Schönheit nicht. (Der Baalschem empfand das Gegenteil). Und so kennt der Ostjude der alten Generation nur eine Freiheit: die des Verzichts. Ein Nachgeben in diesem Punkte ist ihm undenkbar. Das Sinnliche ist ihm unrein geworden, sofern es nicht in die Ehe geleitet wird, um des Zeugens willen; alle Forderungen moderner Sittlichkeit, welche als Ehe nur die wahre menschliche Gemeinschaft gelten lassen, die ohne die Verführung einer nur in ihr stillbaren Sinnlichkeit, um der Verbundenheit willen eingegangen wird, lehnt er mit einer so zornigen Heftigkeit ab, dass hier Verständigung unmöglich wird. „Schönheit“ auf einen Juden angewendet — , „ein schöner Jude“ — sagt aus, dass dieser Jude frommen, mildtätigen, reinen Gemüts ist, der Thora zugetan, dem Lernen ergeben, auf Gottes Willen eingestellt; Schönheit ist lediglich der Seele erlaubt. Der Körper des Menschen aber ist seine Verführung, Versuchung, sein Übel. Er existiert im wahren Sinne nicht. Er ist ein Tier, auf dem die Seele zu Gott reitet, ein störrischer, zu peitschender und in Hunger zu haltender Esel.

Nun gibt es auf diese Tatsache eine Unendlichkeit von Perspektiven, und es scheint nicht möglich, sich mit ihnen allen zu befassen. Man kann soziologisch sagen, dass diese Hässlichkeit typisch kleinbürgerlich sei: der Ostjude ein Volk des geringeren Mittelstandes und von hier aus alles ableitbar. Man kann auch darauf verweisen, dass diese körperliche Hässlichkeit des Juden ein Dorian-Gray-Phänomen sei: an ihm werde die Seelen-Hässlichkeit seiner Knechter, Peiniger und Verfolger leibhaftig. Jeder hässliche und scheu schleichende Jude sagt dem Jäger Edom: Ich bin du; sieh deine hässliche und verzerrte Seele auf mir ausgebreitet. Aber wir, hier nicht so sehr erklärend als beschreibend, darlegend was lebendig ist, gedenken nicht die Apologie des Juden zu betreiben. Wir müssen vielmehr von dem Supplement dieser Schönheitsfeindschaft des Juden reden, der positiven Hälfte dieses gegen-natürlichen Wertens, aber kurz, denn sie ist allzu unbestritten: der Ostjude hat das Geschlecht gebändigt, er hat auf der Basis dieses starken und stürzenden sexuellen Triebes ein Gebäude der Sittlichkeit des Handelns errichtet. Nicht wie du willst, sondern wie ich will, spricht er zum Triebe. Und man sehe nur diese Männer, diese breiten, schweren, mächtigen Fuhrleute, Packträger oder Schmiede! Wie diese schwarzbärtigen Kerle sich mit dem Dämon herumschlagen, der so stark ist wie sie! Dies stiernackige und keineswegs intellektualisierte Menschenvolk mit wachen und gierigen Sinnen — und dann vergleiche man, dann vergleiche der Westen, der so oft vergleicht, diesen jüdischen Mann in Männergesellschaft mit Nicht-Juden gleicher Klasse. Es kommt gottlob oft zu drolligen Derbheiten, aber es kommt nie zur Zote, zu jener geistlosen, stinkenden Zote, die den deutschen Stadt- und Landarbeiter auszeichnet (Anmerkung eines Armierers). Der Jude beherrscht das Geschlecht; die Frau ist ihm nie das wandelnde Geschlechtsorgan wie dem andern, sondern ein Mensch. Hier ist eine Reinheit des Empfindens allgemein, die mit Verdrängung nichts zu tun hat. Wir wissen ja, wie heute jede Zucht und sublimierende Beherrschung eines Triebes, und besonders dieses Triebes, von Dilettanten des Seelischen — und wie breit ist diese Sippe heute — mit seinem Gegenteil, der Verdrängung, verwechselt wird. Nun ist hier nicht der Ort, nachzuforschen, wie viel echte Verdrängung den Bau des Juden unterhöhlt, und ob nicht an den Affekten der Schönheitsfreude und des Durstes nach Auswirkung in der äußeren Welt, nach Ansehen, Macht, freier, leichter Leiblichkeit wirklich Verdrängungen gefährlicher Art vollzogen worden sind; (hier liegt vielleicht soweit er von ostjüdischen Einzelnen bejaht wird, eine Quelle des bolschewistischen Terrors bloß); nur gerade dort, wo ein Trieb streng fixiert, in seiner Existenz anerkannt und nun in die Kandare genommen wird , darf man von Verdrängung nicht reden, sondern von Zucht und Kultur. Ja, das Geschlecht, dieser zerstörende, menschenjagende Dämon der bürgerlichen Welt ist hier ohne Seitengasse und Ausflucht gezwungen worden, aufbauende Arbeit zu leisten; er, der in der Form der Freiheit die Dauer sprengen möchte, muss sie gerade gewährleisten. Er ist ganz in die Ehe geleitet worden; davon wird noch zu reden sein; und so sicher es ist, dass individuell bereicherndere Lösungen vorkommen mögen des Problems der Bejahung und Fruchtbarmachung von Affekten: kollektiv, für eine Menschheit, ist noch keine tragendere gefunden worden. Denn die Teilung der Lebenssphären, die dem antiken Griechen so herrlich und dem modernen Europäer so grotesk geriet, ist dem in die Einheit stürzenden Juden nicht beschieden.

Das ist aber evident: auf solchen Grundlagen konnte sich weder gesellschaftliche Kultur noch schaffend oder aufnehmend ein starkes Verhältnis zur bildenden Kunst, ja, zur Kunst überhaupt, gestalten — mit alleiniger Ausnahme der Kunst, die im Buch und auf der Bühne wirkt, zur Dichtung und Literatur. Der Strom, der aus dem Geiste direkt quillt, der gelesene Strom konnte sich auswirken; der Geist aber, der in den Masken der Formen spricht und der die Sinnlichkeit des Lebens hell entfaltet, musste, als Schöpfung wie als Geschmack, notwendig mit der Puritanisierung des Sinnlichen verkümmern. Im Ästhetischen ward der ostjüdische Schöpfertrieb Gast des Westens, ein lange unsicherer und verlegener Gast. Es gibt erst seit kurzem ostjüdische Maler von schöpferischem Rang und noch kaum Bildhauer, Architekten und selbst Kunstgewerbler, wie doch schon lange schöpferische Dichter; gibt auch keinerlei sicheren und treffenden Geschmack des Publikums auf diesem Gebiete, wie es ihn im Literarischen sehr wohl gibt. Und so tief verliebt der volksliedhaft zeugende Ostjude in Kultur-Musik ist: für die große Musik hat er das Organ nur als Einzelner. Er, der die Abstraktion des Denkens so wohl beherrscht, versteht noch wenig den Unterschied zwischen dem singenden Weltgeiste in der deutschen Musik und aller anderen; er setzt ihn der singenden Sinnlichkeit des neueren Italieners gleich; und am nächsten noch steht ihm jene musikalische Sphäre des Elegant-Melancholischen oder Rassig-Gewinnenden in der ungenialen Art, die im Osten selbst Polen oder Russen hervorgebracht haben. Die weltlichen Festlichkeiten der Ostjuden haben keine eigene Prägung — ausgenommen wieder alles, was um Eheschließung kristallisiert ist — und unterscheiden sich von anderen bürgerlichen Veranstaltungen nur durch Überlastung mit Darbietungen, Unzulänglichkeit der einzelnen Leistung und Stillosigkeit der Zusammenstellung; die Möbel ihrer Häuser sind ganz und gar unempfundener westlicher Import aus schlimmsten Tagen, die Geräte des Lebens nicht minder, und wenn die Männertracht durch den langen, altdeutschen Rock (Kaftan nennt man das ja wohl im Westen) noch eine eigene Gestaltung hat, zu der die festlichen pelzverbrämten Strejmel würdevoll beitragen, ist die Frauentracht einfach Warschauer oder Wiener Westen, allgemeiner Westen, oft mit guten, oft mit bösen Allüren getragen, und von einzelnen Jüdinnen mit viel Takt und Sinn für nicht das Schöne sondern den Schick erzeugt. Und Manieren, Lebens- und Umgangsformen sind nur in jener unbekümmerten und naiven Natürlichkeit da, die man ohne ausdrückliche „Kinderstube“ bekommt — Herzlichkeit zwar und feines Empfinden bei wirklichen Anlässen Takt zu zeigen; aber zur Verzweiflung des Westjuden, der seinerseits nicht geneigt ist, von „Manieren“ und „Takt“ abzusehen, weil er sie sich ja eben erst schwierig genug eingebläut hat — der einfache Ostjude ist nicht „fein“. Man denke! Er redet sehr laut, er schmatzt und schlürft bei Tische, er steckt das Messer in den Mund ... Der Westjude fällt in Ohnmacht vor Scham, denn der Nichtjude könnte ihn mit jenem verwechseln oder identifizieren! — Eine drückende Enge liegt auf all diesen Bereichen menschlich-lebendiger Auswirkung, und nichts verlockt so stark zur Flucht aus der jüdischen Umwelt als der Glanz, die Helligkeit und Weite, die das europäische Leben trotz all seines Zerfahrenen und Gefälschten vor dem Ostjuden ausbreitet der es kennen lernt. Aber ach, wir wissen selbst sehr wohl, dass die Anklage, die in diesen Feststellungen liegt, nur wenig Recht hat, laut zu werden. Denn der Ostjude ist wahrhaftig dieser Mensch, der an die Maschine gefesselt ist, der mit gekrümmtem Rücken, ohne Luft, Sonne und Muße unermüdlich tretend und verkümmert das schmale Brot des Tages schaffen muss. Das Rad surrt, der Staub fliegt auf, die Augen, rotgerändert vor Ermüdung, tränen schon, aber in der Überfülltheit der „Tscherta“, wie in den unfreiwillig-freiwilligen Ghetti New-Yorks und Londons hilft nur die Rastlosigkeit selbst zum Brote. Wo Juden sind, werden Juden nicht Hungers sterben, fühlt der Ostjude indem er diese neuen Ghetti aufsucht; vom fremden Blute hat er nichts als Feindschaft zu erwarten. Und so liegt über einem ganzen Volke die armselige und trübe Atmosphäre unerlösbaren Kleinbürgertums, wo nicht die schrecklich ausgeraubte und trostlose des Proletariats. Alle schaffenden Kräfte dieses Volkes vermögen nur nach innen zu schlagen, ins Ethische abzuströmen; die Erdfreude, das liebe Leben, von der göttlichen Freiheit verschönt und Menschenwürde schon außen in Gehaben und erfreulicher Breite des Daseins zur Schau bringend, bleibt abgeschnürt durch Mangel an Nahrung und Mangel, vor allem, an Raum. Und dabei müssen wir, vom unbarmherzigen Auge des Volkwollenden geleitet, diese Grausamkeit noch segnen; denn wenn dem Ostjuden plötzlich jede Hemmung von außen genommen wäre, wenn ihm der Raum beliebigen Landes in der ganzen Breite des östlichen und westlichen Kontinents offen stünde: so groß ist der Überdruck des Elends, der Not und der drängenden, lebenwollenden Kräfte, dass nichts dafür bürgt, es werde der Ostjude nicht explosiv ausgesät werden, wie der Samen einer platzenden Frucht, und die letzte geschlossene Volkheit der Juden zu Individuen ausgebreitet werden. Der Hass der Völker ist eine Form politischer, bewahrender Vorsehung ...
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das ostjüdische Antlitz