Erste Fortsetzung

Es gibt viele im bolschewistischen Sinne „unzuverlässige“ Elemente, die gar nicht Kommunisten sind, überhaupt keine Gesinnung haben, aber „sauzufrieden“ sind, solange sie bei dem „Schwindel“ ein reiches Leben mit minimaler Arbeitsleistung und maximalem Genuss für sich führen können. Eine derartige Gemütsverfassung stützt das Bolschewistenregime ebenso wie die Armee und der Terror der „Tschreswytschaika“. Diese, die „außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution, der Spekulation und Sabotage“, wird von einem Gewährsmann so geschildert:

„Sie hat ihre Befugnisse zur Niederhaltung jeder Gegenbewegung und Ausmerzung des Bürgertums eigenmächtig zu derart ausschweifenden Blutorgien ausgeweitet, dass sie, die eigentlich nur als Vollzugsorgan des Terrors gedacht war, zeitweise den ordnungsmäßigen Sowjetorganen über den Kopf zu wachsen drohte. Mehr als einmal waren beide Gewalten an ihren obersten Stellen schon hart aneinander geraten, und tausendfach hat im Lande die „Außerordentliche“ mit voller Willkür in die Geschäfte der ordentlichen Lokalräte eingegriffen und sogar unter deren Mitgliedern ihre Opfer gesucht. Die Mitschuld an den haarsträubenden Unmenschlichkeiten und die gemeinsam geübten Gewalttätigkeiten und Verbrechen haben die Tschreswytschaikaleute zu einer besonderen Kaste zusammengeschmolzen und die blutigsten Henker als moderne Großinquisitoren, den Letten Peters, den Polen Dschershinski und den vor Jahresfrist ermordeten Juden Uritzki, als unbeschränkte Machthaber an ihre Spitze gestellt. Die Kommissare sind stets auf der Hut vor diesem neuen Jakobinertum, und nur mit äußerster Vorsicht hat der Zentralrat sich kürzlich entschlossen, Maßnahme zur Milderung dieser Schreckenskammern zu verkünden. Noch auf dem 7. Kongress hat jedoch Lenin seine devote Verbeugung vor dieser Institution zu machen für gut befunden, indem er erklärte, „der Bolschewismus könne auf deren Mitwirkung nicht verzichten. . . .“


Auch in der „Außerordentlichen“ haben, wie man sieht, gerade die Nichtrussen den Weg an die Spitze gefunden. Gelegentlich bricht der Hass, namentlich gegen die Juden, durch. Als im vorigen Jahr der jüdische Präsident des Hauptexekutivkomitees in Moskau, Swerdlow, nach Orel kam, wurde er dort scheinbar begeistert empfangen und auf Händen getragen. Mit einem Male prellten ihn die Tragenden in die Höhe, ließen ihn wie zufällig auf das Pflaster fallen, und verschiedene Leute traten ihm mit Stiefeln auf die Brust, bis er tot war. Solche Explosionen sind aber eine Ausnahme.

Natürlich kann das System nur ausgeübt werden, solange die Masse der Bauern auf dem Lande, mehr als vier Fünftel der Gesamtbevölkerung, durch ihre primitive Naturalwirtschaft physisch einen ausreichenden Lebensunterhalt hat. Die Bolschewisten tun auch alles, um die alten im Volk vorhandenen geistigen Kräfte zu zerstören, namentlich die Religion und das Ansehen der Kirche. In Moskau hat man in mehreren der großen Heiligtümer der russischen Kirche die Reliquienbehälter und die Särge der Heiligen geöffnet und die Überreste pietätlos umhergeworfen. Dazu sind kinematographische Aufnahmen gemacht worden, und diese Akte der Schändung werden in den Kinotheatern den Massen vorgeführt, um ihr zu zeigen: So wenig konnten die „Heiligen“ dagegen tun, dass wir sie verhöhnt und beleidigt haben!

Zu dem bolschewistischen System gehört es, dass wenn Besuch von außen kommt, namentlich Abgeordnete von England, Amerika, Deutschland oder Frankreich, der Schein eines gedeihlichen kommunistischen Arbeitens und Lebens erweckt wird. Dann funktioniert auch zeitweilig die elektrische Beleuchtung, einige Straßen werden gereinigt, und in den Fabriken, die man den Besuchern zeigt, wird Paradearbeit vorgeführt. Die bolschewistischen Führer sehen wohl ein, dass ihnen das Wasser an den Hals steigt, aber mit tönenden Phrasen und mit Ausnützung des Auslandes fassen sie eine Art von krampfhafter Hoffnung, darüber hinwegzukommen. Auf dem 3. allrussischen Gewerkschaftskongress, der am 6. April 1920 eröffnet wurde, hat Trotzki, nach dem Bericht der „Ekonomitscheskaja Shisn“ (Nr. 78 vom 14. April) gesagt:

„Trotz des Arbeitsaufschwunges, den wir beobachten, und einzelner wirtschaftlicher Erfolge, fährt unsere Lage fort, äußerst schwer, um nicht zu sagen tragisch zu sein. Wir haben kein Recht, das vor der Masse zu verbergen, im Gegenteil, wir sind verpflichtet, ihr das zu sagen. Noch hebt sich die Linie unserer wirtschaftlichen Entwicklung nicht, sondern fährt fort zu sinken. Das Grundkapital unseres Transportes, das rollende Material, die Lokomotiven, werden aufgerieben. Wir bringen keine neuen Lokomotiven hervor. Die Reparaturen bedeuten aber nur Pflaster auf den kranken Organismus, der unbedingt stirbt. Ein neuer Organismus, neue Lokomotiven, kommen nicht als Ersatz. Die Grundlage unseres Transportes wird also zerstört, und unser Transport wird im Grunde immer schlechter, trotz einzelner Verbesserungen an der Oberfläche. . . . Wir müssen den Arbeitermassen sagen, dass noch zwei bis drei Jahre unerhörter Anstrengungen, unerhörter Opfer nötig sind, vor denen die Opfer an der Front des bürgerlichen Krieges verblassen. Der Feind, der uns umgibt, ist ein unpersönlicher kriechender Feind: Hunger, Bettelarmut, Finsternis, Epidemien, allgemeiner Verfall.“

Und was gab Trotzki als Heilmittel gegen diese von ihm ganz richtig geschilderte verzweifelte Not an? Er forderte den Kongress auf, „mit Empörung alle Zweifel beiseite zu schieben“ und die „höchste Militarisierung des Geistes und der physischen Kräfte“ zu beschließen. Das heißt: Restlose Ausdehnung des Systems der Zwangsarbeit auf das gesamte Volk. Ein Mann wie Trotzki kann nach den Ergebnissen, die dieser Versuch bisher gehabt hat, in seinem Herzen kaum noch daran glauben, aber umso richtiger ist sein Urteil, dass der letzte Rest des vorhandenen Wirtschaftskapitals ohne Ersatz verbraucht werde. Die Predigt von der rettenden Zwangsarbeit der Millionen ist Utopie; vielleicht Selbsttäuschung, vielleicht nicht einmal das. Einmal muss das Ende da sein. Einmal werden die Transportmittel so heruntergewirtschaftet sein, dass überhaupt keine Nahrung mehr in die Städte kommt und nichts mehr nach den Fabriken gebracht werden kann. Einmal müssen die Dinge so weit sein, dass es in den Städten keine Heizung, kein Holz, keine Kohle, kein Gas, kein Licht, keine Medikamente, keine Reparaturen, keine Kleidung mehr gibt. Dann ist der Bolschewismus von selber zu Ende. Dann werden die Städte ungeheure Leichenhäuser sein, wo die Toten nicht mehr, wie jetzt, in Massengräber auf den Friedhof geschüttet werden, sondern in den Wohnungen liegen bleiben, weil niemand mehr da sein wird, sie zu beerdigen — und das flache Land vom Eismeer bis zur Mündung der Wolga eine zusammenhanglose Menge von Dorfgemeinden auf einer Kulturstufe, die an vorgeschichtliche Barbarei erinnert. Vorher werden sich wohl die letzten bolschewistischen Führer mit einer Tasche voll Juwelen und mit einigen Predigttexten des kommunistischen Evangelismus nach Lenin aus Sowjetrussland hinausbegeben haben. Die andere Möglichkeit, Aufnahme des Handelsverkehrs mit Sowjetrussland, würde aber wahrscheinlich auch nicht mehr bedeuten, als Verlängerung der Agonie auf russischem Boden und Öffnung aller Schleusen für die bolschewistische Weltpropaganda. Man muss sich vorstellen, was das heißt: Mit Gold- und Wertgegenständen gefüllte Kisten und Koffer auf die wirtschaftlich zerrüttete und
sozial durchwühlte westliche Welt in Europa loszulassen, und damit die Druckerpressen und die Gemüter der unzufriedenen leidenschaftlichen Masse in Bewegung setzen. Man versteht, warum den Bolschewisten heute alles daran liegt, Verkehrsfreiheit zu bekommen, d. h. Eisenbahnmaterial, Maschinen, Techniker, Propaganda.

Der allgemeine Ruin des russischen Lebens erschwert alle Versuche, den Bolschewismus von innen heraus zu überwinden. Angenommen selbst, es gelänge, irgendwo Kräfte zu sammeln und einen ersten Erfolg gegen die Sowjetgewalt zu erzielen, so bleiben darum doch die Verkehrsnot, die Hungersnot und die allgemeine moralische Zerrüttung bestehen. Selbst ein Brussilow an der Spitze einer militärischen Gegenrevolution wäre hilflos dagegen. Auch er müsste, wenn er alle großrussischen Kräfte zusammenfassen will, entweder erst in jedem Dorf die Bauern aus dem geraubten Eigentum vertreiben und sie entwaffnen, oder mit ihnen unter Anerkennung des Raubes paktieren. Für das erste würde es einer Millionenarmee und eines jahrelangen Krieges bedürfen. Wo in Russland gibt es hierzu die Transportmittel, die Verpflegung und das Geld? Welche auswärtige Macht würde den notwendigen Milliardenkredit geben? Und wenn er gewährt würde, so würde der mit seiner Hilfe zu führende Kampf leicht zu einem wirklichen Kampf gegen das russische Volk werden, denn wenn die überwältigende Mehrzahl seiner Angehörigen in einem Punkte übereinstimmt, so ist es der Wille: unter keinen Umständen Wiederkehr eines dem alten, irgendwie ähnlichen Systems! Der zweite Entschluss aber, die Anerkennung des Landraubes der Bauern, würde bedeuten, dass alle Hoffnungen der bürgerlichen russischen Parteien in Bezug auf eine Restauration von vornherein enttäuscht wären, denn nachdem durch den Bolschewismus das industrielle Leben Russlands auf lange hinaus zerstört ist, bilden die einstigen Großgrundbesitzer, aus denen fast das ganze russische Beamtentum und ein großer Teil der russischen „Intelligenz“ hervorging, den aktivsten Faktor für alle politischen Restaurationsversuche.

Es ist ganz gleich, auf welche Weise einmal der Bolschewismus sein Ende findet — er wird im heutigen Sowjetrussland auf jeden Fall eine Wüste hinterlassen, deren Zurückgewinnung für Zivilisation und Menschlichkeit immense Anstrengungen und eine sehr lange Zeit fordern wird. Der Russe hat die Redensart „ein General auf weißem Pferde“: für den großen militärischen und politischen Triumphator, dem alle Herzen zustimmen, der alles in Ordnung bringen und die russische Macht zur höchsten auf der Erdet erheben soll. Wenn aber der General auf weißem Pferde heute käme, so könnte er auch nichts Anderes tun, als hilfeflehend seine Hände nach der nichtrussischen Welt ausstrecken. Es ist nichts da in Sowjetrussland, um den Wiederaufbau zu beginnen. Folgendes ist da: Ein ruiniertes nationales Betriebskapital, zerstörtes Eisenbahnmaterial, größtenteils verwüstete Fabriken, ein Volk, das nicht mehr zu arbeiten versteht und nicht arbeiten will, ein in, primitiver Naturalwirtschaft zurückgesunkener anarchischer Bauernstand, verhungernde Städte, eine beinahe ausgerottete Intelligenz, furchtbarer Klassenhass; endlich Rohstoffe und Lebensmittel in so geringer Menge, dass es für Wissende nur ironischen Wert hat, wenn für die nächsten Jahre von Russland als einem Exportreservoir für die übrige Welt die Rede ist. Ebensogut könnte man die Wüste Sahara für ein solches erklären.

Außenpolitisch haben die Bolschewisten das wirksame und geschickte Mittel gebraucht, ein Bündnis mit der muhammedanischen Bewegung in Asien zu schließen, das sich hauptsächlich gegen England richtet. Lenin und Enver-Pascha sind heute Genossen. Das Ziel ist der Sturz der englischen Herrschaft in Indien und Vorderasien. Mittel sind die Propaganda unter den Muhammedanern auf Grund der Formel „Fort mit den europäischen Ausbeutern und Unterdrückern!“ und das bolschewistische Gold. Der Feldzug in Persien und im Kaukasus wird mit geringen militärischen Kräften, aber mit genügend Gold und viel Propaganda geführt. Die Hauptkräfte sind gar nicht Russen, sondern mit dem Bolschewismus verbündete Muhammedaner: Tataren, Türken, Perser usw. Die Revolutionierung ganz Persiens und selbst die Gewinnung Afghanistans sind keine Unmöglichkeiten, wenn den Bolschewisten Zeit genug bleibt.

Wenn man fragt, was für ein Programm es gibt gegen den Bolschewismus und für die Wiederherstellung von Frieden, Zivilisation und Wirtschaft in Osteuropa, so muss man sagen, dass nur ein gemeinsames europäisches und womöglich auch amerikanisches Programm helfen kann, und dass jeder Plan, Russland heilen zu wollen, falsch und töricht wäre, wenn er darauf ausgehen sollte, die früher gewaltsam zusammengehaltenen, jetzt mit dem Eintritt äußerer Freiheit von selbst auseinandergegangenen fremdnationalen Bestandteile des einstigen Zarenreiches wieder durch Zwang aneinanderzubinden. Die
Tatsache, dass kein Russland im früheren Sinne mehr da ist und auch nicht wieder geschaffen werden kann, sondern dass ein neues osteuropäisches Staatensystem sich bildet, mit einer Anzahl von größeren und kleineren selbständigen Gliedern, ist unabänderlich. Wie lange es dauert, bis sie anerkannt wird, das hängt nicht zuletzt von der Einsicht in der öffentlichen Meinung der Völker ab, die sich jetzt mit Russland beschäftigen. Der Bolschewismus ist eine speziell großrussische Erscheinung. Auf die Randgebiete des einstigen russischen Reiches, die früher sogenannten Fremdvölker, lässt er sich nur vorübergehend und mit Gewalt übertragen; einwurzeln kann er dort nicht, weder in Polen, noch in der Ukraine, noch im Kaukasus oder im Baltikum, noch in Finnland.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das osteuropäische Problem