Das bolschewistische Russland.

Über die bolschewistische russische Gegenwart gehen die Urteile ungefähr ebensoweit auseinander, wie über die bolschewistische Zukunft. Diejenigen, die die Lage des Bolschewismus für innerlich schwach halten, müssen die Frage beantworten, woher es kommt, dass die russische Sowjetregierung sich bisher nicht nur gegen alle innere Opposition, nicht nur gegen die Versuche konservativer russischer Generale, Denikin, Koltschak, Judenitsch, Wrangel, die vom Auslande her unterstützt wurden, sondern auch gegen die großen gegnerischen Ententemächte erfolgreich behauptet hat. Was den Angriff durch die vier Generale betrifft, so ist die Frage leicht zu beantworten. Alle vier hatten keine politische Basis in dem Lande selbst, das sie wiedererobern wollten. Das Bürgertum in Sowjetrussland ist gewaltsam dezimiert, erschöpft, verhungert und keiner Kraftleistung fähig; außerdem ist es durch die Bolschewisten radikal entwaffnet. Die bei weitem überwiegende Hauptmasse der russischen Bevölkerung aber, die Bauernschaft, begegnete allen Versuchen zur Wiederherstellung der früheren Ordnung, die von der Seite der einstmals in Russland regierenden Schicht ausgingen, mit Misstrauen und Feindschaft. Der Bauer hat alles Land genommen und er will es nicht wieder hergeben. Dies war der entscheidende Grund, an dem Denikin, Koltschak und die übrigen Führer der mit militärischer Gewalt unternommenen Restitutionsbewegung scheiterten. Die ersten waren unklug genug, die vertriebenen Gutsbesitzer selbst mitzubringen, die Bauern zu bedrohen und die frühere Gewaltherrschaft, das „zarische“ System, wenn auch vorläufig ohne Zaren, in den von ihnen besetzten Gebieten wieder einzuführen; Wrangel war insofern klüger, als er den Bauern das Land, eine demokratische Regierungsweise und alle möglichen anderen Reformen versprach, aber die Bauern glaubten ihm nicht.

Dass von Seiten der russischen Bourgeoisie keine Versuche zum Sturz des Bolschewismus ausgehen konnten, hing wie gesagt mit der vollkommenen Entkräftung dieser Schicht zusammen. Die Bauern opponierten dem Bolschewismus vorläufig auch nicht, denn sie wurden von der Sowjetregierung nicht daran gehindert, sich das Land der Gutsbesitzer anzueignen. Das war vom bolschewistischen Standpunkt aus grundsätzlich inkonsequent gehandelt, denn das Land sollte ja sozialisiert werden, aber es war praktisch gehandelt, denn die Bauern hatten auf diese Weise kein Interesse daran, sich dem Bolschewismus aktiv zu widersetzen.


Komplizierter ist die Frage, weshalb auch die Ententeregierungen bisher machtlos gegen die Sowjetherrschaft geblieben sind. Für England ist die Erklärung in der Hauptsache folgende: Innerhalb der englischen Arbeiterschaft spielten früher die Gewerkvereine, die Trade Unions, eine politisch maßgebende Rolle. Durch den Krieg, durch das Munitionsgesetz, das die gewerkschaftlichen Arbeiter zwang, mit ungelernten Arbeitern zum selben Lohnsatz zusammenzuarbeiten, durch die allgemeine Wehrpflicht usw. ist heute aber auch die Masse der ungelernten englischen Arbeiterschaft zu einem politisch mächtigen Faktor geworden. Mit den geschulten Gewerkvereinen konnte die englische Regierung jede Politik vereinbaren, die im englischen Reichsinteresse lag. Die heutigen Arbeitermassen in England sind aber hierzu nicht politisch genug erzogen. Sie sympathisieren mit den Bolschewisten, und der leitende englische Staatsmann, Lloyd George, sieht sich gezwungen, wenn er seine Stellung behaupten will, auf die hinsichtlich der auswärtigen . Politik verständnislose Arbeitermehrheit Rücksicht zu nehmen. Englands ursprünglicher Wunsch war es, in Russland ein demokratisch reformiertes, politisch von der englischen Unterstützung abhängiges Zarentum wiederherzustellen, Russland annähernd in seinen früheren Grenzen zusammenzufassen und einen möglichst großen Teil des Landes
für eine wirtschaftliche Nutzung durch das englische Interesse zu organisieren. Das Aufkommen der Sowjetherrschalt widersprach den wirtschaftlichen Plänen Englands in Russland, und die englische Regierung hätte daher lebhaft gewünscht, sie zu beseitigen, aber man war dazu nicht imstande, weil die Arbeiter mit ihrer Vorliebe für die vermeintliche „Arbeiterherrschaft“ der Bolschewisten Widerspruch erhoben. Der Druck, der von den Arbeitern ausging, war so stark, dass die englischen Truppen aus Nordrussland zurückgenommen werden mussten und dass später auch die Versuche, Polen gegen Sowjetrussland mit Material zu unterstützen, stark gehindert wurde. Diese innerpolitische Wandlung der Verhältnisse in England muss nicht nur in Bezug auf die englische Politik in Osteuropa, sondern auch weit darüber hinaus als ein Faktor von großer Bedeutung betrachtet werden.

Ähnlich wie der englischen Regierung ist es auch der französischen ergangen. Frankreich hatte sich ursprünglich die Ukraine als besonderes Interessengebiet ausbedungen; man dachte aber in Paris nicht an eine selbständige Ukraine, sondern höchstens an eine ukrainische Autonomie innerhalb eines er- neuerten Gesamtrusslands, und man wollte von Süden her eine militärische französische Aktion zum Sturz der Sowjetregierung beginnen. Französische Kriegs- und Transportschiffe und ein französisches Landungskorps waren bereits nach Odessa geschickt. Kaum aber waren die Truppen gelandet, so brach auf der Flotte eine Meuterei zugunsten der Sowjetregierung aus. Zwei Tage lagen die französischen Kriegsschiffe im Hafen von Odessa unter roter Flagge. Schließlich gelang es, die Meuterei zu beschwichtigen, aber nur gegen das Versprechen, dass die Soldaten wieder eingeschifft und nach Frankreich zurückgebracht werden sollten. In der Eile des Abzuges blieben sogar die an Land gebrachten Tanks auf dem Hafenkai von Odessa stehen. Die Bolschewisten eroberten Odessa, nahmen die Tanks, brachten sie nach Petersburg und verwendeten sie gegen die anmarschierenden Truppen des Generals Judenitsch.

Diese Umstände sind es in der Hauptsache, denen der Bolschewismus es verdankt, wenn er sich bis heute in Russland an der Herrschaft hat halten können. Die Fortexistenz der Sowjetregierung ist nicht eine Folge ihrer inneren Stärke, ihrer Organisationskraft oder moralischen Autorität, sondern sie ist
eine Folge davon, dass es weder innere noch äußere Feinde von solcher Aktionskraft gibt, dass sie gegen den Bolschewismus energisch Vorgehen könnten. Der Bolschewismus entbehrt nicht nur jeder wirklichen inneren und äußeren Stärke, sondern er hat im Gegenteil überwältigende Beweise seiner wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen und politischen Unfähigkeit gegeben. Betrachten wir zunächst die Verhältnisse in Sowjetrussland, wie sie sich bis zum Ende des Sommers 1920 gestaltet hatten. Ein gefährliches Anzeichen war zunächst der Rückgang der Getreideproduktion. Die Bauern hatten die Gutshöfe geplündert und verbrannt, das Inventar unter sich verteilt, aber das Gutsland meistens gar nicht bestellt, weil sie keinen Bedarf nach so viel Getreide hatten, wie sie auf ihrem alten und neuen Besitz zusammen hätten produzieren können. Erstens brauchten sie keine Steuern zu bezahlen und konnten um soviel weniger Getreide bauen. Zweitens war die russische Industrie in solchem Verfall, dass es so gut wie gar keine Waren für den bäuerlichen Bedarf in den Städten zu kaufen gab. Auch hierfür fehlte also das Interesse, Korn zu bauen, um für Geld oder Naturalien Waren zu erhalten. Drittens fürchteten die Bauern Requisitionen und sagten sich: Wir wollen überhaupt nicht mehr anbauen, als wir selbst für unser Brot und für unsere Schnapsbrennerei nötig haben. So verwandelten sich große Flächen des einstigen russischen Ackers in Gras- und Buschland. Wie vor Urzeiten fing man an, weil das Eisen fehlte, mit hölzernen Pflügen und Eggen das Land zu bebauen. Der Bauer hatte seine Nahrung von seinem eigenen Felde, seine Kleidung von seinen Schafen, seinen Flachs und den Häuten seiner Tiere. Wie die Dinge sich bis zum Sommer 1920 in Sowjetrussland entwickelt hatten, habe ich damals an verschiedenen Stellen in der deutschen und außerdeutschen Presse geschildert. Ich will hier zunächst den Stand der Dinge, wie er bis zur Ernte des Jahres 1920 war, nach meinen Aufzeichnungen von damals rekapitulieren:

Seit dem Aufkommen des Bolschewismus erlitten sowohl die industriellen als auch die landwirtschaftliche Kultur Russlands einen reißend schnellen Niedergang. Meistens wird bei der Schilderung der bolschewistischen Zustände an die Städte gedacht, aber auch auf dem flachen Lande sieht es in kultureller Hinsicht sehr schlimm aus. Die Bauern zerschlagen kostbare landwirtschaftliche Maschinen oder reißen Eisenbahnschienen auf, um Eisen für Pflugscharen, Beile und Sensen zu bekommen. Kultur und Sittlichkeit stürzen in den Abgrund. In manchen Dörfern gibt es noch Gottesdienst, Taufen und Trauungen, in vielen nicht mehr. Von Schule und Gericht ist nur auf dem Papier der bolschewistischen Dekrete die Rede. Eine spürbare Autorität der Sowjetregierung auf dem flachen Lande existiert nicht; jede Gemeinde verwaltet auf primitive Art, unter der Herrschaft der Reichen und Wucherer, ihre Angelegenheiten selbst und kümmert sich nicht um den Nachbar. Die Anarchie ist vollständig. Die Kinder wachsen roh und gesetzlos heran. Hungernde aus den Städten erscheinen in den Dörfern und bieten irgendwelche für den Bauern brauchbare Dinge an für einen Sack Getreide oder Mehl, den sie hunderte von Kilometern auf dem Rücken schleppen, wenn es nicht glückt, in einen der wenigen verkehrenden Eisenbahnzüge zu kommen.

Das Land und die Städte sind so gut wie außer Zusammenhang; die städtischen Zustände grauenhaft über alle Beschreibung. In Moskau und Petersburg z. B. hat der Frost im Winter 1919/20, in dem es fast gar keine Heizung gab, die meisten Wasserleitungsröhren in den Häusern zerstört. Die Folgen lassen sich denken. Die Treppenhäuser werden als Aborte benutzt, aller flüssige und feste Unrat wird auf die Straßen und Höfe geschüttet. Mit dem Beginn der warmen Jahreszeit wurden die Zustände unbeschreiblich; Flecktyphus und Cholera setzten ein. Auch auf dem Lande wüten die Seuchen. Medikamente, ärztliche Instrumente und dergleichen gibt es nur noch ganz wenig und zu unerschwinglichen Preisen. Die Krankenhäuser haben nichts, keine Wäsche, keine Medizin, keine Stärkungsmittel, keine Heizung. Särge zum Begraben der Toten gibt es nur leihweise. Auf dem Kirchhof werden die Leichen herausgenommen und in die Massengräber gelegt und der Sarg wird wieder in das Sargleihmagazin gebracht. Die hölzernen Vorstädte von Moskau und Petersburg sind zum Teil abgerissen und verbrannt. Alle Zäune sind verbrannt, das hölzerne Straßenpflaster, die Treppengeländer, die Fußbodenbretter und Parkettdielen sind aufgerissen und verbrannt. Ganze kostbare Bibliotheken sind in die Öfen gesteckt worden, um wenigstens ein Zimmer im Hause bei erträglicher Temperatur zu erhalten. Die elektrische und die Gasbeleuchtung sind bis auf geringe Reste eingestellt. Das Moskauer Elektrizitätswerk wurde einige Male in Gang gesetzt, wenn auswärtige Besucher kamen. Von den Straßenbahnen sind noch einige Trümmer in Betrieb, um während bestimmter Tagesstunden einen Verkehr von den meilenweit entfernten Außenbezirken nach dem Stadtinnern zu ermöglichen. Die Straßen sind begraben unter Bergen von Schmutz. Von Zeit zu Zeit, namentlich Sonnabends, werden „freiwillige“ Arbeitskolonnen aufgeboten, um eine notdürftige Säuberung vorzunehmen, aber die Wagen sind zerbrochen, die Pferde Haut und Knochen, und die Abfuhr ist ganz ungenügend.

Das Verkehrswesen des Landes ist ruiniert, das liegende wie das rollende Material der Eisenbahnen zerrüttet und der Materialverbrauch übertrifft dauernd die Möglichkeit der Reparatur. Auf den Eisenbahnknotenpunkten erfüllen halb zertrümmerte Waggons und unbrauchbare Lokomotiven stundenlang die Gleise. Auf den Nebenbahnen wird überhaupt nicht mehr gefahren, außer einzelnen Regierungszügen, und auf den Hauptlinien bleibt sehr wenig Verkehr übrig, nachdem die Lebensmitteltransporte, die Truppen- und Munitionszüge und der sonstige Regierungsverkehr erledigt ist. Auch dieser wickelt sich nur im höchsten Grade notdürftig ab. In den Passagierzügen sind die Waggons so voll gepfercht, dass die Zustände in der Menschenmasse, die Tage und Nächte ununterbrochen unterwegs ist, kaum angedeutet, nicht beschrieben werden können. Es kommt vor, dass Passagiere in der vergifteten Luft sterben. Das Innere der Waggons ist eine Pesthöhle durch die Ansteckungsstoffe, die darin aufgehäuft sind. Mit dem wenigen vorhandenen Material wird unsinnig umgegangen. Die St. Petersburger „Prawda“ (27. April 1920) klagte darüber:

„Dass wir Lokomotiven zu Dutzenden reparieren, kann uns erfreuen, aber die Ergebnisse sind nicht vollständig, wenn wir nicht neben die Zahl der reparierten Lokomotiven und Waggons die Zahl derer stellen, die wiederum zur Reparatur wandern . . . .Wir verhalten uns leichtsinnig, verbrecherisch leichtsinnig zu allem unseren Besitz. Wir verderben die Waggons und zerbrechen sie, vernachlässigen die Lokomotiven, überladen die Waggons, wodurch die Federn der Wagen und die Gleise verderben. Wenn man der Wahrheit ins Auge sieht, so gehen wir wie dumme Kinder vor. Mit einer Hand heilen wir, mit der anderen zerbrechen wir schneller als wir heilen.“

Vom 22. bis 25. Januar 1920 tagte in Moskau der dritte allrussische Kongress der Sowjets für Volkswirtschaft. Auf diesem erstattete der Kommissar Rykow einen vollkommen pessimistischen Bericht. Von hundert vorhandenen Lokomotiven, sagte er, seien sechzig unbrauchbar, und die Zahl der „kranken“ Lokomotiven wachse mit äußerster Schnelligkeit. Vor dem Kriege habe man monatlich acht Prozent des Lokomotivbestandes ausbessern können, gegenwärtig kaum zwei Prozent. Von Monat zu Monat verringere sich die Zahl der gebrauchsfähigen Lokomotiven um zweihundert. Rykow sagte u. a. wörtlich:

„Im Ural besitzen wir einen an Metallen überaus reichen Bezirk, aber bisher konnten wir nicht mehr als einen einzigen Eisenbahrtzug im Monat dorthin senden, um von dort Metalle nach Zentralrussland zu bringen. Wir würden also zehn Jahre gebrauchen, um zehn Millionen Pud (1 Pud sind 16 ½ Kilogramm) Metalle vom Ural exportieren zu können.“

„Um die turkestanische Baumwolle nach den Textilfabriken im Moskauer Bezirk bringen zu können, würden wir im Monat mehr als eine halbe Million Pud befördern müssen. Gegenwärtig haben wir aber für diesen Zweck nicht mehr als zwei Eisenbahnzüge monatlich zur Verfügung, und Jahrzehnte wären
nötig, um vom Turkestan die acht Millionen Pud Baumwolle zu befördern, die wir bearbeiten könnten, die wir aber nicht imstande sind, unseren Fabriken zu liefern.“

Rykow notierte, dass vor dem Kriege in Russland jährlich 20 Millionen Pud Flachs geerntet wurden; 1918, nachdem die Ernte „nationalisiert“ worden war, nur noch 4 ½ Millionen Pud, 1919 noch bedeutend weniger (und für 1920 wiederum weniger). Im Januar 1920 war noch für acht Monate Flachs für den äußerst eingeschränkten russischen Gebrauch vorhanden, und danach überhaupt nichts mehr. Rykows Kollege Tomski sagte auf demselben Kongress der Sowjets für Volkswirtschaft, die Industrie könne nicht die elementarsten und geringsten Arbeiten mehr ausführen, weil sie keine Rohstoffe mehr habe, und weil die Arbeiter teils wegen der Hungersnot, die in den Städten herrscht, aufs Land abwanderten, teils in die Armee gingen, wo sie gefüttert wurden, teils, sehr unbolschewistisch, sich auf „Spekulation und Handel“ legten.

Vor dem Kriege besaß Russland 30.140 Lokomotiven und 570.000 Güterwagen. Etwa 10 Prozent des russischen Eisenbahnnetzes entfielen damals auf Finnland, die baltischen Provinzen, Posen und das Transkaukasusgebiet. Für diese müssten also zirka 3.000 Lokomotiven und 50.000 bis 60.000 Waggons abgezogen werden. Die Sowjetregierung, die, wenn auch nicht das ganze Land, so doch das Eisenbahnnetz bis zum Schwarzen und Kaspischen Meere, einschließlich der asiatischen Bahnen, beherrscht oder zu beherrschen behauptet, führte im Herbst 1920 in ihren Listen 265.000 Güterwagen und 8.900 Lokomotiven.

Das war von den Waggons etwa die Hälfte und von den Lokomotiven weniger als ein Drittel des alten Bestandes. Schon wenn diese Zahlen mit denen übereinstimmten, die das wirklich gebrauchsfähige rollende Material enthalten, so wäre es deutlich, dass das russische Eisenbahnwesen ruiniert ist. Tatsächlich aber sind nach vertraulichen und zuverlässigen Angaben, die ich aus Moskau erhalten habe und die auf die Materiallisten der Sowjet-Eisenbahnverwaltung selbst zurückgehen, 47 %, d. h. rund die Hälfte der Lokomotiven und Waggons, unbrauchbar, und von den brauchbaren steckt ein erheblicher Teil in entfernten Gebieten, Sibirien und Turkestan, fest. Die Sowjetregierung wird also alles in allem nicht viel über 100.000 Waggons und nicht viel über 4.000 Lokomotiven besitzen. In der französischen Presse werden 5.000 Lokomotiven angegeben, was hoch gerechnet ist. Mit anderen Worten, von dem ganzen einstigen Eisenbahnpark Russlands steht noch knapp der fünfte Teil in brauchbarem Zustande den Sowjetisten zur Verfügung. Dieser Zusammenbruch der Eisenbahnwirtschaft, denn um einen solchen handelt es sich, ist ein Beweis dafür, dass der Bolschewismus organisatorisch leistungsunfähig ist.

Die Folge dieser trostlosen Entwicklung war, dass es die Sowjetregierung mit der Einführung der Zwangswirtschaft versuchte. Sie nannte das „Militarisierung der Arbeit“. Der treibende Geist für diesen Plan war Trotzki. Die Petersburger „Prawda“ vom 25. Januar 1920 enthielt sein Programm in 31 Thesen von außerordentlicher Schärfe. Diese Paragraphen verwandeln — auf dem Papier — ganz Russland in ein einziges Zwangsarbeitshaus. Die Arbeiterpflicht soll für die ganze männliche Bevölkerung vom 18. bis zum 45. Jahre, für technische Fachleute bis zum 65. Jahre dauern. Wer sie nicht einhält, soll keine Lebensmittel bekommen. Trotzki will alle Arbeiter vollkommen rücksichtslos, je nach Bedarf, über das ganze Land hin verteilen und sie am Platz ihrer Tätigkeit „festmachen“. Hierfür wendet er das russische Wort „prikrepljatj“ an. Zur Zeit der Leibeigenschaft war das der offizielle Ausdruck für die zwangsweise an die Scholle gefesselten russischen Bauern!

Der Versuch zu diesem System ist von Grund auf missglückt. Bei den Massen ist der Wille zur Arbeit geschwunden, und die Regierung hat keine Mittel, ihn zu erzwingen. Man kann Hunderte oder Tausende von Widerstrebenden erschießen, aber man kann nicht Millionen, die nicht arbeiten wollen, zu verstärkter und produktiver Arbeit nötigen. Die bolschewistischen Eingeständnisse über das Missglücken der Zwangsarbeitspflicht sind unzweideutig genug. Man würde ihrer nicht einmal bedürfen, denn nichts ist möglich, was sich gegen die Natur richtet, die menschliche im allgemeinen und die großrussische mit ihrer vorherrschenden Passivität im Besonderen.

Der deutsche unabhängig-sozialdemokratische Abgeordnete Dittmann hat über seine Erlebnisse bei einem Besuch in Sowjetrussland im Sommer 1920 in der „Freiheit“ (31. August) berichtet. Sein Bericht bezieht sich auf einen Besuch in den „sozialisierten“ Werkstätten von Kolomna, nicht weit von Moskau, einem der größten russischen Eisenwerke, mit Fabrikation von Lokomotiven und sonstigem Eisenbahnmaterial. Hier herrschten folgende Zustände: Die Fabrik beschäftigte früher 17.000, jetzt nur 5.000 Mann. Material und Werkstücke lagen umhergeworfen in ruiniertem Zustand da. Von den Maschinen arbeitete ein Teil nicht und war offenbar vernachlässigt. Die deutschen Arbeiter (die aus Begeisterung für die bolschewistische Sache dorthin gekommen waren) erzählten den Besuchern, dass alles entsetzlich langsam ginge und schlecht funktionierte. Sie konnten wegen Unterernährung und schlechter Arbeitsbedingungen nichts Rechtes schaffen, aber dennoch brachte jeder von ihnen fünf Mal so viel zustande, als ein bolschewistischer russischer Arbeiter in derselben Zeit! Die Russen interessierten sich hauptsächlich für den „Pajok“, die Futterration. Sie zeigten nicht das geringste Interesse an ihrer Arbeit; im Gegenteil, sie suchten zu sabotieren, was sie konnten. Nach einer halben Stunde Arbeit ruhten sie sich aus, rollten sich Zigaretten und rauchten und schwatzten anderthalb Stunden. Darnach kehrten sie langsam an ihre Arbeit zurück, und so ging es alle Tage.

Man beachte, dass so ein „unabhängiger“, den Bolschewisten in der Theorie und in der Stimmung nahestehender deutscher Sozialdemokrat das Ergebnis der Trotzkischen „Zwangsmobilisation“ zur Arbeit schildert. Dieser Art zu arbeiten, entsprechen die allgemeinen Zustände. Keine Vorstellungsfähigkeit reicht hin, um sich ein Bild von der Verwüstung zu machen, die ganz Sowjetrussland erfüllt. Die Produktionsmittel, Fabriken, Bergwerke, Banken, Geschäfte, Kapitalien, das Handwerk, der Ackerboden, die Wälder sind in einem Male zerstört, verwüstet, verschlechtert, dass keine Beschreibung an die Wirklichkeit heranreicht. Die Bevölkerung ist physisch und moralisch gleich furchtbar herabgekommen. Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Fuselvergiftung wüten entsetzlich. Die Städte sterben aus. In einer St. Petersburger Kirchengemeinde, in der auch jetzt noch gewissenhafte Aufschreibungen erfolgen, weil es eine deutsche ist (die St. Annenkirche), sind für das Jahr 1919 achttausend Todesfälle und elf Geburten eingetragen In den großen Städten werden überhaupt fast keine Kinder mehr geboren, weil es Männern wie Frauen an jeder Kraft fehlt, und die wenigen, die geboren werden, sind im Augenblick ihrer Geburt schon dem Tode geweiht, weil es keine Nahrung für sie gibt, weder von der Mutter, noch! Milch von Kühen, Kindermehl und dergleichen. Nur saures Schwarzbrot, aus dem mit heißem Wasser ein dünner, flüssiger Brei gemacht wird. Die Intelligenz, die gebildete und geschulte Oberschichte, ist zum größten Teil verschwunden. Eine Anzahl ihrer Angehörigen hat sich in den Dienst der Sowjetregierung gerettet, um Lebensmittelrationen zu erhalten. Viele sind ins Ausland geflüchtet und vielleicht noch mehr sind hingerichtet, ermordet, verhungert, verschollen. Die meisten von denen, die noch leben, sehen aus wie Schatten. Ein gesundes Gesicht bei einem gebildeten Menschen wird auf der Straße angestaunt wie ein Wunder. Kinder gibt es in dieser einstigen Oberschichte kaum noch. Wenn einmal die Wiederherstellungsarbeit in Sowjetrussland beginnt, so wird es sein wie ein Aufräumen unter Leichen und Trümmern. Es kann als Symbol dafür gelten, wenn sich (nach dem Bericht der St. Petersburger „Roten Zeitung“ vom 6. April 1920) herausgestellt hat: der Hafen von St. Petersburg, der in normalen Zeiten 200 Dampfer aufnehmen konnte, ist jetzt so mit gesunkenen Schiffen und Leichtern angefüllt, dass nur noch Platz für vielleicht 25 Dampfer vorhanden ist.

Zwei Gründe hauptsächlich sind dafür maßgebend, dass sich der Bolschewismus bisher gehalten hat und sich noch heute hält. Der erste besteht, wie gesagt, in dem Fehlen aktionsfähiger äußerer Gegner. Der zweite ist der Terrorismus, den die Sowjetregierung ausübt. Man lese die folgende Schilderung, die von einer im Februar 1920 aus Sowjetrussland geflüchteten Persönlichkeit stammt.

„Es gab im Sommer 1919 Unruhen in den Werkstätten der Nikolaieisenbahn in Petersburg. Um das Prestige des Kommunismus zu wahren, wurde eine „Volksabstimmung“ vorgenommen. Alle Eisenbahner der betreffenden Linie mussten zum dekretierten großen Meeting im früheren kaiserlichen Winterpalais erscheinen. Nachdem alle sich versammelt hatten, wurden die Türen geschlossen. Vor Sinowjews Rednerpult waren zwei Maschinengewehre aufgestellt, ins Publikum gerichtet. Vorne, hinten und in der Masse verstreut, standen Matrosen, die gut gefütterte Leibgarde der kommunistischen Regisseure. Aus Selbsterhaltungstrieb wagte niemand zu widersprechen und bei der Abstimmung schwiegen die meisten. Die überall verstreuten Kommunisten aber, die Staatsclaqueure, schrien Beifall und erweckten durch ihr Geschrei den Anschein, als wäre die Resolution einstimmig angenommen worden. Am folgenden Morgen konnte man in der „Prawda“ in Sperrdruck lesen, die Angestellten des Petersburger Knotenpunktes der Nikolaibahn hätten sich einstimmig für den Kommunismus erklärt.“

So wird gewirtschaftet. Eine andere, womöglich noch drastischere Schilderung stammt aus dem Munde eines russischen Flüchtlings, der den Anfang der polnisch-russischen Kämpfe im Gebiet der Düna und Beresina miterlebt hat. Bei den Sowjettruppen sind kommunistische Kommissäre, Vertrauensleute der Regierung Trotzkis. Die Offiziere stammen größtenteils aus der zarischen Armee und dienen um das Leben und um die Ernährung für sich und ihre Familien zu Hause. Der Befehl zum Angriff wird gegeben. Alle Offiziere stürmen vor, besinnungslos, ohne sich nach ihren Soldaten umzusehen. Wer es nicht tut, der weiß, dass die Kommissare über ihn berichten und dass Frau und Kinder in Moskau, Petersburg oder sonst wo umgebracht werden oder in einem Hungerkerker verschwinden. Das ist ein so festes System, dass die Zahl der Beispiele, wo es so gemacht wurde, unendlich ist. Die Soldaten werden
gegen einen wirklich kämpfenden Gegner kaum ohne Gewalt vorwärts gebracht. Ihre Idee vom Kriegführen heißt rauben und plündern. Nur ein kleiner Teil der Roten Armee ist gut diszipliniert, zuverlässig, gut genährt und gekleidet. Das sind die Kerntruppen, zu denen Letten und eine Menge
Chinesen, ursprünglich Eisenbahnarbeiter an der sibirischen Linie, gehören. Die Mehrzahl ist mit Gewalt zum Dienst gepresst oder deshalb hineingegangen, weil es dort Verpflegung gibt. In einem Petersburger Brief aus privater Feder über die Rote Armee wird erzählt, dass die gewöhnlichen roten Soldaten zu bürgerlichen Gefangenen, die sie bewachen sollen, sprechen:
„Warum fangt ihr nicht an? Wir selbst können nicht anfangen, wir können nur mitgehen, wenn jemand den Anfang macht!“
Weiter heißt es:

„Die Bolschewisten haben die alten Berufsoffiziere aller Kategorien registriert und zwangsweise in die verschiedenen Heeresabteile geschickt, wo sie kommandieren müssen und die Truppen nach dem alten Drillsystem ausbilden. Diese bürgerlichen Offiziere sind aber nicht frei, jeder Schritt wird von den sie versteckt oder sichtbar überwachenden politischen Kommissaren kontrolliert. Wagt ein „Radieschen“ (d. h.: „außen rot, im Herzen weiß“) insgeheim gegen die Sowjetmacht zu wirken, so wird nicht nur der Betreffende erschossen, sondern auch seine Angehörigen und Verwandten, die als Geiseln gelten, werden umgebracht oder auf todbringende Zwangsarbeiten geschickt. Die Rote Armee wird nur so lange eine Stütze des Bolschewismus sein, als die Führer imstande sein werden, die Kernbataillone besser und reichlicher zu füttern und zu kleiden, als die formlose, großenteils abgelumpte und hungernde Masse der gewöhnlichen Rotarmisten und die übrigen Volksschichten.“

Die Schilderung hat sich wörtlich für diejenigen bestätigt, die in irgendeinem Stadium Augenzeugen des Vormarsches der Sowjetarmee gegen Polen sein konnten. Der „Vormarsch“ hörte auf, als durch etwas kampftüchtigere polnische Truppen, durch die aus der deutschen Okkupationszeit stammenden Befestigungswerke in der Nahzone vor Warschau und durch französische Bombenflieger ein Widerstand erwuchs, der zum ersten Male nennenswerte Blutopfer verlangte. Bis dahin hatte es so etwas für die Rotarmisten nicht gegeben. Die polnische Armee, die ihnen gegenüberstand, war nicht viel besser als sie selbst. Sie war schlecht bekleidet, teilweise ungenügend verpflegt und durch die bolschewistische Propaganda bis in die Tiefe demoralisiert. Die bolschewistischen Agenten sagten einfach zu den polnischen Soldaten: Brüder, wofür kämpft Ihr denn? Für Polen? Glaubt Ihr denn, dass wir etwas von Euch oder von Polen wollen? Nichts von Euch, sondern alles für Euch! Ihr kämpft für Eure Ausbeuter, die polnische Bourgeoisie, und für die Ausbeuter Eurer Ausbeuter, die Franzosen und Engländer. Macht keinen Unsinn, geht nach Hause, lasst Eure Offiziere allein kämpfen, wenn sie solche Sehnsucht nach Kämpfen haben, und wartet, bis wir kommen, dann wollen wir zusammen ein herrliches Sowjetpolen einrichten, ein Paradies für jeden Arbeiter und Bauern!

Der ganze sowjetrussische Vorstoß auf Warschau war ein Hasardspiel. Die Eisenbahnen hatten nicht mehr als auf dreißig Tage Proviant heranschaffen können. Mit dieser nur dreißigtägigen Verpflegungsreserve im Rücken gingen die Russen vor. Auch die Ausrüstung war schwach. Ohne die Beute von der Armee Denikins wäre der ganze Krieg überhaupt nicht möglich gewesen. Angeblich hat Denikin, der von den Engländern ausgerüstet war, und dem der ukrainische Bauernaufstand in seinem Rücken zum Verderben wurde, mehrere 100.000 Uniformen und „Munition für ein Jahr“ in den Händen der Sowjetisten gelassen, was wohl übertrieben war.

Welche Folgen der Rückschlag im polnischen Krieg für die Bolschewistenherrschaft im Innern haben wird, steht noch dahin.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das osteuropäische Problem