Wie wird das Ende sein?

So waren im wesentlichen meine Ausführungen an verschiedenen Stellen im Sommer 1920. Seitdem ist der russisch-polnische Krieg zu Ende gegangen; wenigstens scheinbar. Wirklich zu Ende im Sinne der russischen Sowjetregierung ist er natürlich nicht. Die Bolschewisten halten keinen Krieg für beendet, der nicht in dem bekriegten Lande zur bolschewistischen Revolution und zur Sowjetdiktatur geführt hat. Auch das Aussetzen des bewaffneten Kampfes ist für sie immer nur ein Waffenstillstand, bis die Umstände erlauben, die Waffen vielleicht wieder aufzunehmen. Solange es überhaupt eine bolschewistische Regierung in Russland gibt, wird sie es als ihre Aufgabe betrachten, mit allen Mitteln, mit Gewalt oder mit allmählicher Unterhöhlung, die Welt zu bolschewisieren. Nur der Sturz der bolschewistischen Diktatoren in Russland würde die übrigen Nationen und Regierungen der Welt von dem Kampfzustand mit dem Bolschewismus befreien. Ob dieser Kampf offen oder heimlich geführt wird, ist für die Machthaber im roten Russland nur eine Frage der Taktik: wirkliche Friedensschlüsse gibt es für sie nicht, weder mit Polen, noch mit irgendeinem anderen Lande.

Anfangs schien es, als ob der Triumph der Bolschewisten über Polen vollständig sein würde. Wer über die geringen Mittel unterrichtet war, mit denen der Vormarsch der roten Armee erfolgte, musste von Anfang an den günstigen Ausgang im russischen Sinne bezweifeln. Im Mai 1920 äußerte Trotzki bereits, er sehe dem Krieg nur mit Sorge entgegen, weil die Zahl der brauchbaren Lokomotiven so gering sei, und sich von Monat zu Monat verringere. Wenn für die Versorgung einer Front, wie es die bolschewistische gegen Polen war, im Ganzen nur etwa 2.500 Lokomotiven gestellt werden konnten und die Länge der Linien, auf denen der Nachschub an Munition, Proviant und sonstigem Material erfolgen muss, so groß war, wie in diesem Fall, so ist es für jeden Generalstabsoffizier ein einfaches Exempel, ungefähr zu berechnen, wie groß im höchsten Falle die Zahl der Kämpfer in der Armee sein kann. Sachverständige Militärpersonen bezweifelten daher von vornherein sehr stark die bolschewistischen Angaben, die von mehr als einer halben Million Kombattanten und von einer Million, ja von zwei Millionen roter Truppen überhauptsprachen. Die Zahl der kämpfenden Truppen gegen Polen konnte schon auf Grund der mit der Versorgung der Armee beschäftigten Lokomotivenzahl kaum 200 .000 Mann erreichen. An wirklichen Fronttruppen sollen es auch nur ungefähr so viel gewesen sein, dazu eine unbestimmte Zahl von Kriegsgesindel, das der Armee auf eigene Faust folgte, um zu plündern. Mehrere Zehntausende von den roten Truppen überschritten die deutsche Grenze und ließen sich in Ostpreußen entwaffnen. Wenn sie gewollt hätten, wäre es ihnen gut möglich gewesen, weiter zu kämpfen, aber sie wollten nicht. Ihr militärischer Wert und ihre Ausrüstung waren sehr ungleichmäßig. Die meisten waren leidlich gekleidet und bewaffnet; andere hatten nur dünne leinene Beinkleider an, eine rote Hemdbluse, Sandalen an den Füßen und nicht einmal eine Mütze. Ein solcher junger Bursche aus dem Gouvernement Pensa wurde gefragt, wie er in diesem Aufzug dazu käme, Soldat zu sein und in den Krieg zu gehen. Er antwortete: „Als der Aushebungskommissar in unser Dorf kam, sagte er, wir sollten nur mitkommen, wie wir wären. In Warschau würden wir Kleider und Stiefel finden, hinter Warschau warteten schon die deutschen Genossen auf uns; dann würden wir bequem mit der Eisenbahn durch Deutschland fahren und reichlich von den Deutschen verpflegt werden. Mit den Deutschen zusammen würden wir nach Paris marschieren und dort, wo alle Keller voll Gold seien, könnten wir uns die Taschen füllen. Lebensgefahr würde es nirgends dabei geben.“


Diese Art von Propaganda, so grob sie ist, wirkt ganz gut auf ein naives russisches Bauerngemüt. Den Mangel an Lokomotiven und brauchbaren Ausrüstungen kann sie aber nicht ersetzen. Sobald durch den polnischen Widerstand der Vormarsch ins Stocken gekommen war, sobald die roten russischen Soldaten merkten, dass es wirklichen Kampf galt, waren die Erfolge zu Ende und verwandelten sich in einen immer mehr beschleunigten Rückzug. In diesem Stadium der Sachen erkannte die Sowjetregierung in Moskau, dass nur durch Friedensverhandlungen eine Katastrophe vermieden werden würde. Gleichzeitig mit dem polnischen Kriege hatte Wrangel von der Krim aus seine Offensive begonnen. Auch die Truppenzahl Wrangels wurde allgemein weit überschätzt. Wrangel besaß an brauchbaren Streitkräften nur etwa 10.000 Mann. Gelang es der Sowjetregierung, mit Polen in Unterhandlungen zu kommen, so brauchte sie nur einen verhältnismäßig kleinen Teil ihrer Armee, um Wrangel zu erdrücken. Auf beiden Fronten gleichzeitig zu kämpfen, war wegen der minimalen verfügbaren Zahl der Lokomotiven unmöglich. Polen ging auf die Verhandlungen ein, eine genügende Zahl roter Truppen wurde nach Süden dirigiert, Wrangel wurde geschlagen, es glückte sogar, in seine natürliche Festung, die Krim, einzudringen, und hier gab es eine erhebliche Beute, namentlich an Waffen, Munition und Ausrüstung. Das war es, worauf man in Moskau gehofft hatte. Der Schachzug hätte nicht glücken können, ja es wäre überhaupt unmöglich gewesen, ihn zu unternehmen, wenn die Wrangelsche Armee auch nur annähernd so stark gewesen wäre, wie von ihr zu Propagandazwecken behauptet wurde. Kaum war der Erfolg erreicht, so änderte sich auch sofort wieder die Sprache in den Verhandlungen mit Polen.

Für die unmittelbar bevorstehende Zukunft darf das Gewicht des Sieges über Wrangel für die Sache der Bolschewisten nicht unterschätzt werden. Der ganze Krieg, hat man mit Recht gesagt, ist dort in Osteuropa zur Zeit „degeneriert“. Er wird mit verhältnismäßig sehr geringen Truppenzahlen, mit einer Unmasse von Marodeuren, mit viel Plünderung und Verwüstung und mit wenig direktem Blutvergießen geführt. Den Feldzug gegen Polen konnten die Bolschewisten nur unternehmen, weil sie vorher bei den Niederlagen Denikins genügend Beute gemacht hatten. Auch Denikin ist nie stärker gewesen, als 50.000
bis 60.000 Mann kampffähiger Truppen. Immerhin war er viel stärker als Wrangel. Die eigenen Fabriken der Bolschewisten sind nicht mehr imstande, ihnen genügend Kriegsmaterial zu liefern. Im Kriege gegen Polen konnte gar keine schwere und nur wenig mittlere Artillerie gebraucht werden. Geschütze waren vorhanden, aber Munition konnte nicht gemacht werden. Die Beute bei Wrangel bedeutet jetzt wieder eine wirksame Einspritzung für die bolschewistische Kampfkraft auf gewisse Zeit. Von längerer Dauer wird die Wirkung aber nicht sein. In politischer Beziehung ist der Zusammenbruch Wrangels sogar eine Gefahr für die Sowjetregierung. Nachdem auch diese letzte Hoffnung versagt hat, Russland mit Hilfe russischer Kräfte alter Schule, mit Unterstützung des Auslandes, wieder in seiner früheren Form herzustellen, wird der Entente kaum etwas anderes übrigbleiben, als eine positive Randstaatenpolitik zu machen, und zwar nicht nur im Falle Polens und Finnlands, sondern auch, was entscheidend wichtig werden kann, im Falle der Ukraine. Die Bolschewisten werfen sich jetzt mit Gewalt auf die Ukraine, um dort Getreide zu erbeuten. Die aufständischen ukrainischen Bauern geben ihnen keines; sie haben die geernteten Vorräte in tiefen, mit Feuer ausgebrannten Gruben im Lößboden, unterhalb der schwarzen Erdschicht, versteckt. Diese Gruben sind zugedeckt, mit Erde überschüttet und das Feld darüber gepflügt, so dass niemand, außer den Bauern selbst, die Verstecks finden kann.

Jedes einzelne Mitglied der bolschewistischen Regierung weiß genau, dass es nicht möglich ist, sei es, mit welchen Mitteln auch immer, die rote Herrschaft über Sowjetrussland noch lange zu fristen, wenn es nicht gelingt, Lokomotiven in größerer Zahl zu beschaffen. Alle Verhandlungen, um die Er?ffnung des „Wirtschaftsverkehrs“ mit dem Auslande, drehen sich in Wahrheit nur um die Lokomotivfrage. Man hat versucht, Lokomotiven in Amerika zu kaufen. Amerika ist das einzige Land, das imstande ist, Lokomotiven in bedeutender Zahl sofort fertig nach Sowjetrussland zu liefern. Für einen Preis von einigen 60.000 Dollars per Stück waren die amerikanischen Lokomotivfabriken zur Lieferung bereit. Gold genug, um eine bedeutende Anzahl Maschinen zu kaufen, befindet sich in den Händen der Sowjetregierung. Dann machte die amerikanische Regierung einen Strich durch alle Hoffnungen, indem sie die Ausfuhr von Lokomotiven nach Sowjetrussland verbot. Das Recht dazu besitzt sie auf Grund der noch geltenden Kriegsgesetze für Fragen der Aus- und Einfuhr. Auch mit England waren Verbindungen angeknüpft. Die englischen Fabriken erklärten sich gleichfalls bereit zu liefern, aber erst nach einem Jahr. Frankreich kann überhaupt nichts liefern. Deutschland kann liefern, aber nicht eher als in sechs Monaten, und auch dann keine unbeschränkte Zahl. Die schwedische Industrie hat sich zur Lieferung von 200 Lokomotiven in kurzer Frist, und danach von 100 Stück Maschinen pro Jahr verpflichtet. Das bedeutet für die russischen Bedürfnisse natürlich so gut wie gar nichts.

Das Ergebnis aus alledem ist, dass Sowjetrussland heute höchstens nur noch 4.000 Lokomotiven besitzt, dass diese Zahl sich mit jedem Monat verringert, dass günstigenfalls Mitte 1921 ein gewisser Zufluss von Maschinen aus Deutschland beginnen könnte, dass es aber auch dann noch fraglich ist, ob mit Rücksicht auf die nicht vorherzusehende Entwicklung der politischen Verhältnisse in Osteuropa die Lieferung dann tatsächlich beginnen wird. Schon in der ersten Hälfte von 1920 war die Situation außerordentlich schwer. Der Krieg mit Polen hat sie in Bezug auf das Eisenbahnmaterial noch weiter verschlechtert; eine ganze Anzahl Maschinen ist auch von den Polen erbeutet worden. Nun aber droht eine Katastrophe, die im Verein mit dem Zusammenbruch des Transportwesens die Sowjetregierung in eine Lage bringt, die sie vielleicht überhaupt nicht wird überstehen können. Diese Katastrophe ist die weitgehende Missernte von 1920 mit ihren voraussichtlichen Folgen.

Die letzten Erntejahre waren für Sowjetrussland verhältnismäßig günstig, obwohl die Verringerung der Anbaufläche und die Unlust der Bauern zur Lieferung von Getreide nach der Stadt schon sehr schwere Folgen für die Ernährung der Städte und das gesamte Wirtschaftsleben verursachte. Die diesmalige Ernte aber ist in den mittleren und nördlichen Teilen von Sowjetrussland mangelhaft gewesen, und im Wolgagebiet, von wo bisher eine notdürftige Verproviantierung des Zentrums erfolgte, absolut schlecht. Es handelt sich um eine vollkommene Missernte. In Getreidegouvernements von der Bedeutung Saratows, Samaras und ähnlicher Gebiete ist stellenweise weniger als die Aussaat geerntet worden. Sibirien hat eine gute Ernte, auch in der Ukraine ist sie nicht allzu schlecht ausgefallen; dazu sind noch ältere Vorräte vorhanden. Der Hass der ukrainischen Bauern gegen die Moskauer Sowjetregierung ist aber
nicht zu überwinden. Im Kubangebiet, wo gleichfalls die Hälfte der Bevölkerung ukrainischen Stammes ist, drangen die Bolschewisten im Sommer 1920 ein, als der Weizen gerade reif zur Ernte war. Die Kubanschen Kosaken und Bauern zündeten die Felder aber lieber an, als dass sie das Korn den Bolschewisten überließen. Auf eine Frage von befreundeter Seite, wovon sie denn leben wollten, antworteten sie: „Wir haben altes Getreide in den Gruben genug für zwei Jahre!“ Auf dem Wege von Zwangsrequisitionen kann man ein Land von der Größe der Ukraine und des Kubangebietes nicht ausplündern. Die ganze bewaffnete Macht der Bolschewisten würde dazu nicht hinreichen. Kleine Kommandos, wie man sie durch das ganze Land hinschicken müsste, werden von den Bauern und von den bewaffneten Streifscharen, die sich unter die ukrainisch-nationale Regierung gestellt haben, zurückgeschlagen oder umgebracht. Nach bolschewistischen Berichten vom November 1920 betrug die Menge des aus der Ukraine zwangsweise beigetriebenen Getreides nur etwa 11% des Voranschlages. Das sibirische Getreide aber kann wegen des Mangels an Lokomotiven nicht in entfernt genügender Menge abtransportiert werden. Die Sowjetregierung sucht sich jetzt dadurch zu helfen, dass sie ohne Rücksicht auf die Missernte in den näher an Moskau gelegenen Gebieten, namentlich auch bei den deutschen Kolonisten an der Wolga, mit absoluter Härte und ohne sich um die Proteste der Bauern zu kümmern, fortnimmt, was ihr erreichbar ist. Auf diese Weise soll die Verpflegung des gesamten Sowjetapparates und der Armee sichergestellt werden. Was darüber aus dem Lande und der übrigen Bevölkerung werden soll, darum kümmern sich die Sowjetmachthaber nicht.

Wenn man sich die Einzelheiten der Lage vergegenwärtigt, so sieht man, wie furchtbar die Aussichten für Russland sind. Daran, dass die Zivilbevölkerung in den großen Städten noch wird verpflegt werden können, ist nicht zu denken, außer notdürftig in Moskau. Dort wird getan werden, was möglich ist, schon um des Eindruckes auf das Ausland wegen. Aber nicht nur die Städte, sondern auch das flache Land werden hungern. In manchen Gouvernements reicht die Ernte bis Weihnachten, in manchen bis Ostern. Bis zur nächsten Ernte reicht sie nirgends, und für Aussaat im kommenden Frühjahr wird überhaupt nichts da sein. Zufuhr ist unmöglich. Mir liegen genauere Nachrichten aus dem Wolgagebiete vor, bei deren Kenntnis einem das Blut in den Adern erstarrt, wenn man daran denkt, was werden soll. Persönlichkeiten, die aus Sowjetrussland kommen, erklären übereinstimmend, dass mit einem Hungertode von vielen Millionen Menschen im Laufe des Winters und der folgenden Monate gerechnet werden muss, und das vielleicht dann erst das Schrecklichste eintreten wird: kein Saatkorn für das nächste Jahr! Auf die Frage: Ja, wie viele Menschen werden denn möglicherweise sterben? ist die Antwort ein Achselzucken. Vielleicht zehn Millionen, vielleicht zwölf, vielleicht fünfzehn, vielleicht noch mehr! Es ist nirgends ein Ausweg. Das Korn reicht nicht zur Ernährung und es reicht nicht zur Sommersaat. Wenn die Mehrzahl der Bevölkerung gerettet werden soll, so müssen enorme Einfuhren aus dem Ausland stattfinden. Anders ist es auch nicht möglich, das Saatgut zu beschaffen. Aber auch wenn das ausländische Korn in den Häfen und an den Grenzen anlangt, wie will man es in das Innere von Russland transportieren, wenn nicht genug Lokomotiven da sind, um die Züge zu fahren! Das Herz steht dem still, der versucht, sich auszumalen, was wahrscheinlich in Russland kommen wird. Eine Mitteilung von Anfang November aus Petersburg gibt folgendes furchtbares Bild von der dortigen Lage:

„Drei Jahre lang haben verhältnismäßig gute Ernten den Bolschewismus begünstigt. Jetzt aber bricht über Russland die Katastrophe herein. Die Missernte ist zur Tatsache geworden. Das Wolgabecken hat die schlechteste Ernte. Von dort ist bisher Petersburg auf dem Wasserweg versorgt worden. Der Bahnverkehr ist völlig zusammengebrochen und die Stadt ist ohne Zufuhr. Die Zentren in Mittelrussland haben dank ihrer südlicheren Lage noch Aussicht auf eine, wenn auch minimale Versorgung. Petersburg aber ist völlig dem Hunger preisgegeben. Das Elend der Bevölkerung, die nun auch der Kälte ausgesetzt ist, erreicht seinen Höhepunkt, ein Massensterben setzt ein. Wenn keine Hilfsaktion großen Maßstabes erfolgt, so wird die Mehrzahl der Bevölkerung dieser Stadt den Winter nicht überleben! Petersburg hungert. Die Märkte sind geschlossen, es gibt keinen Geheimhandel mehr. Die Menschen sind verwahr-
lost und verkommen, die Straßen liegen voll Schmutz und Trümmer. Von den steinernen Bauten stürzen die Schilder und der Fassadenputz herab, die hölzernen werden auseinandergerissen und pfundweise als Brennholz verkauft. Die Straßen sind tot. Nur morgens gegen 9 Uhr beleben sie sich auf eine Stunde. Eine unübersehbare Menge zieht den Nevski entlang, zerlumpte Gestalten, Petersburgs Einwohnerschaft, die sich zur täglichen Arbeit begibt. Bei grauem Wetter hebt sich diese Menge kaum vom Gesamtkolorit der Straßen ab. Der Handwerker und der Würdenträger von ehemals, zerlumpt und verkommen, sind sich gleich. Um 10 Uhr beginnt die Arbeit, in Arbeitsstätten, die weder Rohstoffe noch Werkzeuge haben, in Institutionen, denen es an Zweck und Ziel fehlt, in einer Stadt, in der nichts hergestellt wird, in der nur ein Verfall von Gütern, eine Zerstörung von Werten vor sich geht. Nach 10 Uhr vormittags wird der Nevski wieder öde und leer. Gegen 4 Uhr nachmittags ist das „Tagewerk“ erledigt und die Menschen schleichen wieder nach Hause. Die Geschäfte sind geschlossen, die Häuser gesperrt. Vor einem Jahr war noch Bewegung in dieser jetzt so toten Stadt: ein zuckender Todeskampf. Pferde fielen entkräftet und blieben im Verenden auf der Straße liegen. Tags stürzten sich die Hunde auf sie, nachts kamen die Menschen und morgens war nur das Gerippe übrig. Den Pferden folgten die Hunde und heute hat Petersburg keine Tiere mehr.

Der Tod hält die Stadt mit eiserner Hand gepackt. Langsam, mit ungeheurer Sicherheit, zermalmt er sie. Schwäche, Krankheit und Epidemien raffen die Einwohner dahin. Unterernährte, entkräftete Menschen können eine Zeitlang ihr Leben fristen. Der Körper verfällt allmählich, der Mensch wird schwach, willenlos, stumpf. Er kann nicht mehr um Hilfe rufen, es fehlt ihm die Kraft, etwas gegen sein Unglück zu tun. Bleich, mit geschwollenem Gesicht und eingefallenem Auge trägt er es in sich und schleicht in seinem Elend still umher. Schließlich kann der entkräftete Körper die Entbehrungen nicht mehr ertragen, das Herz hört auf zu arbeiten und der Tod macht ein Ende. Allmählich wird das Sterben zum Massensterben. In Petersburg hat dieser letzte Akt, das Sterben der einstigen Weltstadt, begonnen. Die Menschen sterben in Baracken, Kasematten und Wohnhäusern; lautlos sinken sie auf den Straßen um. Die Arbeit auf den Friedhöfen ist kaum noch zu bewältigen. Es ist die letzte Leidensphase, die Russlands Hauptstadt durchlebt. Rette sich, wer kann! Das ist der Ruf, der allein noch, immer schwächer werdend, in der sterbenden Stadt erklingt. Es hungern Männer, Frauen, Kinder. Es hungern jetzt auch die Arbeiter. Vor allem aber hungert die Intelligenz. Solange Petersburg noch Zufuhr hatte und es einen Schleichhandel gab, solange konnte man noch vegetieren. Heute, wo selbst der Sowjetangestellte nicht mehr seine Ration erhält, beginnt eine neue Entwicklung grauenhafter Art. Im hungrigen Petersburg besteht noch eine Sowjetstelle, die alles hat, Vorräte an Wein und Delikatessen, Vorräte, die den Kommissaren zur Verfügung stehen, vor allen Dingen aber jener berüchtigten „Tschreswytschaika“, der „Kommission für den Kampf gegen die Konterrevolution, Spekulation usw.“, die ihr Netz von Spionen, Spitzeln und Verrätern über ganz Petersburg geworfen hat. Während alles hungert und zugrunde geht, herrscht hier Überfluss und Prasserei; wer hierhergehört, ist vor allen Entbehrungen gerettet. Aber nur wer wirkliche Dienste leistet, kann in dies Institut gelangen, dessen Wesen Denunziation und Verrat sind. So beginnt ein scheußliches Werk, die Vernichtung des Schwächsten durch den Schwachen. Freunde, Angehörige und Verwandte, Menschen, mit denen man durch Freundschaft und Liebe verbunden war, werden verkauft und verraten. Jedes Gefühl der Selbstachtung ist verschwunden. Um sich vor dem Hunger und dem Untergang zu retten, ist jedermann zur Erniedrigung und Verbrechen bereit!“

Kann es schrecklichere Zustände geben, als diese Schilderung sie entrollt? Und dieses Entsetzen muss man sich vervielfacht denken, um ein Bild von den kommenden Zuständen in Sowjetrussland zu erhalten. Wird der Bolschewismus, wird die Sowjetregierung daran zugrunde gehen? Dass sie es auf die Dauer nicht wird ertragen können, ist sicher. Der Hunger und die Eisenbahnkatastrophe werden früher oder später mit dem Bolschewismus ein Ende machen. Wo das Leben aufhört, kann schließlich auch das gewaltsamste, rücksichtsloseste System nicht mehr bestehen. Aber man darf nicht glauben, dass das Ende notwendig schnell kommen muss. Es kann bald zu Ende sein mit der Sowjetherrschaft, es kann aber auch noch eine ganze Weile dauern. Durch die Veröffentlichungen der Abordnung der deutschen unabhängigen Sozialdemokraten, die im Sommer 1920 in Moskau war, haben wir erfahren, wie groß die Zahl der „Bolschewisten“ ist. Es gibt in ganz Russland nicht mehr als 612.000 eingeschriebene Mitglieder der bolschewistischen Partei! Hiervon sind 87 % direkte und indirekte Sowjetangestellte, die von staatlichen Rationen und von der Ausnutzung ihrer größeren oder geringeren Machtstellung leben. Ein Prozent sind kaufmännische Angestellte und nur zwölf Prozent sind Arbeiter. Dazu kommt die Zahl der roten Soldaten. Im Ganzen sind es also nur ein Prozent oder wenig mehr der Gesamtbevölkerung von Sowjetrussland, einschließlich der Armee, die das Ganze beherrschen und ausnutzen, und innerhalb dieser Gruppe übt eine ganz kleine Zahl die wirkliche Diktatur aus. Wenn diese Menschen zu leben haben, wenn sie Vorräte genug für sich sammeln können, werden sie sich um das Übrige wenig kümmern. An ihrem entschlossenen Willen, die Macht zu behaupten, und wenn es auf den verhungerten Leibern ungezählter Millionen geschehen müsste, ist nicht zu zweifeln. Man muss sogar noch einen Schritt weitergehen und für das nächste Frühjahr erneute Angriffsaktionen der Bolschewisten nach außen erwarten, vor allen Dingen gegen Polen. Ein mir zugänglicher Stimmungsbericht aus bolschewistischen Kreisen vom Dezember 1920 enthält folgende Sätze:

„Die Siege, die die rote Armee errungen hat, über Wrangel usw., rufen in den Reihen der Sowjetführer keine so große Begeisterung hervor, wie man hätte erwarten können. Sie haben „zur Katastrophe an der inneren Front“ geführt. Sie haben die Position der Kriegspartei, d. h. des linken bolschewistischen Flügels unter Trotzki, Bucharin und Krestinski gestärkt, und sie rufen einen Zerfall der Partei in dem Augenblick hervor, wo infolge von Hunger, Kälte und Epidemien die Mobilmachung aller schöpferischen und organisatorischen Kräfte der Partei nötig gewesen wäre, um den bolschewistischen Staat vor der Überflutung durch innere Aufstände zu retten. Ein Krieg mit Polen, was für Zugeständnisse dieses auch machen möge, wird für unabwendbar gehalten. Vorwände, ihn wieder zu eröffnen, sind genügend vorhanden. Dasselbe gilt für Estland, Lettland und Litauen.“ Die bolschewistischen Berichte erzählen mit Hohnlachen über den augenblicklichen Zustand der polnischen Armee, namentlich in Litauen. An Freiwilligen gegen Polen wird es nicht fehlen, denn im Frühjahr werden Massen von hungrigen Bauern froh sein, wenn sie als Soldaten auf fremdem Gebiet mit fremden Lebensmitteln ernährt werden. Panzerzüge und Tanks „sind genügend von Wrangel erobert, um zu Ostern mit der roten Armee in Warschau zu sein“. Gegen diesen militärischen Bolschewismus haben die sogenannten Ideenkommunisten jetzt einen schweren Stand. In deren Kreise heißt es: „Uns hat die Fülle der Erfolge erdrückt, unsere Armee ist durch ihre eigene Übermacht verdorben. Wer denkt jetzt an Demobilmachung! Wohl aber beginnen jetzt plötzlich alle Kreis-, Gemeinde- und Dorfsowjets und die Komitees gegen die Hungersnot das Besteuerungssystem auf eigene Faust zu reformieren (d. h. unter dem Titel von Requisitionen, regellose Plünderungen der kärglichen Getreideernte bei den Bauern vorzunehmen). Warum? Weil in jedem Dorf ein paar Dutzend demobilisierte Helden eingetroffen sind, denen das Wasser bereits bis zum Knie steht. Damit aber fängt alles an zum Teufel zugehen, und statt Moskau und Petersburg herrscht jetzt eine schrankenlose Raubwirtschaft, die die „Weißen“ (d. h. die Konterrevolutionäre) kräftig ausnutzen.“

Diese Schilderung von bolschewistischer Seite selbst lässt schon ahnen, was kommen kann. Die Hungerkrisis und der zunehmende Mangel an allem Notwendigen beginnen, trotz aller Siege, (die Rote Armee auch im Innern zu /erschüttern. Dr. Jenny, der ein guter Kenner der russischen Dinge ist, hat die folgende Darstellung der Lage gegeben, und wir glauben, dass er Recht mit ihr hat:

„Bisher beruhte die bolschewistische Gewaltherrschaft darauf, dass man alle aufzutreibenden Lebensmittel und Kleidungsstücke der Armee zuschanzte. So erhielt man sie, als Zufluchtsort für Hunger und Kälte für die entschlosseneren Elemente, in einer verhältnismäßigen Zufriedenheit und konnte sich auf sie stützen. Man spielte die Armee einfach gegen die Zivilbevölkerung auf. Was dieser abgehen musste, ließ man dem Heer zu Gute kommen. Mochte die Zivilbevölkerung im Elend verkommen, sie wurde niedergehalten durch die immerhin halbwegs gesättigten Soldaten.

Nun scheint dieses gewissenlose und grausame System sich auch nicht mehr durchhalten zu lassen. Es hat den Anschein, dass es auch für die Armee nicht mehr langen will. Außerdem zeigen sichere Anzeichen, dass die Müdigkeit im Heer überhandnimmt; die Truppen wollen heim. Viele Regimenter haben gemeutert und mussten blutig niedergeschlagen werden. Die Kommissare sehen sich vor dem schwierigen Dilemma, die Truppen nicht mehr zur Zufriedenheit verpflegen zu können, und anderseits sie doch nicht entlassen zu dürfen, aus Angst, sie den Aufruhr aufs Land hinaustragen zu sehen.

War es nun das Verwaltungsprinzip, durch das man sich in Moskau an der Macht erhielt, Armee gegen Volk zu stellen, so verengert sich der Boden sehr bedeutend, auf dem man Rückhalt suchen und finden kann. Nicht mehr die gesamte Macht des Landheeres und der Flotte bildet diese Basis. Die erwähnten Meutereien haben bewiesen, dass man schon ganze Truppenverbände des einen Militärbezirks gegen die Soldaten eines anderen aufmarschieren lassen musste; also richtige innere Feldzüge sind unternommen worden, um die bewaffneten Aufstände des Militärs zu dämpfen. Mit den Nachrichten über die Unruhen sickert die Erkenntnis durch, dass es sich um ganz groß angelegte Auflehnungen handelt. Man war genötigt, die eigene Macht fühlbar zu dezimieren. In Moskau meuterten die Truppen
ganzer Stadtteile.

Das Verfänglichste ist jedoch, dass immer häufiger wieder die Erscheinung auftritt, die zu Anfang der Bolschewistenherrschaft im Schwunge war: dass nämlich gegen die russischen Truppenteile geschlossene Prätorianerregimenter eingesetzt werden mussten. Es geht also nicht mehr, Armee gegen Volk auszuspielen und letzteres dadurch in Schach zu halten, sondern man muss schon besonders bewährte Truppen aufstellen, um die große Masse der Heeresangehörigen zu Gehorsam zu zwingen. Diese Sondertruppen bestehen teilweise aus erprobten Kommunistentrupps, der eigentlichen revolutionären Garde, und aus fremdländischen Angeworbenen. Das ist ein sehr wunder Punkt jeder Landesregierung; meist der Anfang vom Ende. Der letzte große Aufstand in Moskau wurde hauptsächlich von lettischen, chinesischen und ungarischen Söldnern niedergeschlagen!“

Ich füge dem nach persönlichen Nachrichten hinzu, dass in letzter Zeit durch neue Chinesenanwerbungen die Zahl der chinesischen Söldner auf über 30.000 gebracht sein soll und dass fast diese ganze C h i n e s e n t r u p p e in Moskau konzentriert ist. Die russischen Rotarmisten sind stark aus Moskau herausgezogen. So kritisch ist schon die innere Lage der Armee!

Für den Bolschewismus ist es das Bedenklichste, wenn er in starke Konflikte mit den Bauern gerät. Diese werden nicht ausbleiben, wenn die Requisition des wenigen Getreides, das die Bauern haben, so gewaltsam fortgesetzt wird, wie bisher. Man wird dagegen, soweit die Eisenbahnverbindung und die bewaffnete Macht reicht, mit Gewalt Vorgehen, und man wird wahrscheinlich so viel Getreide erbeuten, dass der engere bolschewistische Kreis und die für zuverlässig gehaltenen Teile der Armee gut zu leben haben. Aber wie wird es mit den anderen stehen? Trotz allem ist es gut möglich, dass der ganze militärische Machtapparat zusammenhält, bis der Krieg gegen Polen von neuem eröffnet werden kann. Man kann sich vorstellen, dass der Bolschewismus nach außen Krieg führt, und im Innern nur noch aus der mit Lebensmitteln genügend versorgten großen Moskauer Zentrale, aus einigen Provinzzentren, aus den Sowjetangehörigen und ihrer Gefolgschaft und aus den roten Truppen besteht, für die Proviant sichergestellt ist. Rund umher in Russland würde dann nichts weiter mehr sein, als die große Not, der große Hunger und das große Sterben.

Gleichviel, wann und wie das Ende kommt: dahinter wird sich die Aufgabe erheben, Russland wieder auf- und einzurichten. Es werden vor allen Dingen Nahrungsmittel hineingeschafft werden müssen und danach erst kann der wirtschaftliche Aufbau des Ganzen beginnen. Die Randgebiete, einschließlich der Ukraine, sind schon jetzt für sich selber zu sorgen fähig, sobald genügende politische Ordnung da ist, und sie werden es zukünftig erst recht sein. Sowjetrussland aber wird eine große und furchtbare Wüste sein. Vielleicht ist es am ehesten wahrscheinlich, dass es sich politisch zunächst in eine Unzahl kleiner und kleinster Gemeindewesen, bis zu den Dorfgemeinden hinunter, atomisiert haben wird. Dieses absolute Chaos wieder verwaltungsgemäß zusammenzufassen, wird keine leichte Aufgabe sein. Irgendeine Regierung muss sie übernehmen, und welches auch immer diese zukünftige Regierung sein mag, sie wird nicht ohne umfassende Hilfe von außen arbeiten und existieren können. Es wird einfach alles wieder aus dem Verfall und der Zerstörung zu schaffen sein. Da Sowjetrussland noch auf lange hinaus keine Exportwerte haben wird, so wird es auf ausländische Kredite angewiesen sein. Für diese Kredite werden Sicherheiten verlangt werden müssen, und dann wird es sich in sehr unerwünschter Weise geltend machen, dass die natürlichen und unzerstörbaren Reichtümer des heutigen Sowjetrussland nur gering sind. Die zukünftige russische Regierung wird im Stande sein, die Holzvorräte des nördlichen Waldlandes, die uralischen Metalle und noch einiges andere als Kreditunterlagen anzubieten. Unter einer Voraussetzung könnte sich die Unterlage für ausländischen Kredit allerdings bedeutend verbessern, wenn nämlich die unterirdischen Lager von Magneteisenerz im Gebiet von Kursk aufgeschlossen werden. Dieses Vorkommen ist in der Öffentlichkeit noch so gut wie unbekannt, trotz seiner enormen Ausdehnung und der Erzmassen, um die es sich vermutlich handelt. Entdecker der Lager war der verstorbene Professor an der Moskauer Universität Ernst Leyst. Die Entdeckung geschah durch vieljährige magnetologische Beobachtungen, ähnlich wie bei den berühmten Lagerstätten von Magneteisen im schwedischen Lappland. Das ganze Leystsche Material an Karten und sonstigen Beobachtungen ist vorhanden und wurde von den schwedischen Autoritäten, die für Erzfragen dieser Art maßgebend sind, geprüft. Auch nach dem schwedischen Urteil handelt es sich um eines der größten, vielleicht um das größte bisher bekanntgewordene Eisenvorkommen der Welt. Es wäre möglich, dass einmal mit Hilfe dieses noch ungehobenen Wertes, sobald die politische Ordnung wiedergekehrt ist, ein Stück wirtschaftlicher Hilfe für Russland wird eingeleitet werden können.

Wenn zugegeben wird, dass die Hilfe unter allen Umständen vom Auslande herkommen muss, so fragt es sich, welches die helfenden Kräfte sein sollen. Auf der Ententeseite hat man ursprünglich ohne Zweifel daran gedacht, das einstige russische Reich in irgendeiner Form so ausschließlich wie m?glich für den Ententenutzen zu reservieren. Im Ernst ist es aber nicht möglich, Deutschland vom Wiederaufbau Russlands fernzuhalten. Das hat niemand deutlicher gesehen, als ein Engländer: J. M. Keynes, der Verfasser des so schnell berühmt gewordenen Buches: „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“. Keynes scheint etwas allerdings die Bedeutung der Frage zu übersehen, wie sich zukünftig Osteuropa politisch gestalten wird. Er spricht einfach von der notwendigen Wiederherstellung „Russlands“. Lassen wir dieses Grundproblem, ob „Russland“ oder ob „osteuropäisches Staatensystem“, in diesem besonderen Fall beiseite, so ist es wertvoll, sich zu vergegenwärtigen, was ein Mann von solchem Gewicht wie Keynes über die Aufgabe Deutschlands im Osten sagt. Keynes hat sein Buch im Herbst 1919, also vor etwas mehr als einem Jahr, geschrieben. Damals war die Zerstörung aller Werte und wertbildenden Faktoren in Russland noch lange nicht so weit vorgeschritten wie heute. Er erwartete, falls eine in seinem Sinne richtige Politik Russland gegenüber gemacht würde, die natürliche Wiederbelebung des russischen Ausfuhrhandels. Allerdings ist ihm der Niedergang der Landwirtschaft und der Verfall des Verkehrssystems in Russland schon bekannt. Er fragt, wie geholfen werden soll, und er gibt folgende Antwort (Seite 240 f.):


„Ich sehe keine Möglichkeit, diesen Verlust an Leistungsfähigkeit in absehbarer Zeit wieder gut zu machen, es sei denn durch Vermittlung deutscher Unternehmung und Organisation. Es ist geographisch und aus vielen anderen Gründen Engländern, Franzosen und Amerikanern unmöglich, das zu leisten. Sie haben weder den Trieb noch die Mittel, die Arbeit in genügendem Umfange zu unternehmen. Deutschland andererseits hat die Erfahrung, den Antrieb und in erheblichem Maße auch die Waren, um den russischen Bauern mit den Gütern zu versorgen, an denen er die letzten fünf Jahre hindurch Mangel
gelitten hat, das Verkehrs- und Lagerungsgeschäft wieder aufzunehmen, und so zum allgemeinen Nutzen der Weltwirtschaft die Zufuhren wieder zuzuleiten, von denen wir mit so verhängnisvollen Folgen abgeschnitten waren. Es liegt in unserem Interesse, den Tag zu beschleunigen, wo deutsche Agenten und Organisatoren in der Lage sein werden, in jedem russischen Dorfe die gewöhnlichen wirtschaftlichen Antriebe wieder in Tätigkeit zu setzen.“

Keynes lässt die Frage offen, ob die vom Sowjetregiment dargestellte Form des Kommunismus sich als „dauernd dem russischen Temperament angemessen“ erweisen wird oder nicht. Er meint, die Wiederherstellung Russlands sei ein Problem, das bis jeder Art von russischer Verfassung gelte. Dass das Sowjetregiment nicht dauern kann, dass es seine Unfähigkeit bewiesen hat, auch nur die notwendigsten Grundlagen des physischen wirtschaftlichen Lebens in Russland aufrecht zu erhalten, ist
heute klar. Russland wiederherzustellen wird 1921 oder 1922 noch viel schwieriger sein, als es 1919 und selbst noch 1920 der Fall gewesen wäre. Im Übrigen aber gelten die Worte von Keynes unbedingt. Er sagt selbst, dass viele Leute einem Vorschlag widerstreben würden, der Deutschland ermutigen und
unterstützen will, „seinen Platz in Europa als Schöpfer und Organisator des Reichtums bei seinen östlichen und südlichen Nachbarn wieder einzunehmen“. Seine Antwort darauf besteht in der Frage, was für Europa im Ganzen daraus folgen würde, wenn man allen Maßregeln widerstrebt, durch die Deutschland oder Russland ihren materiellen Wohlstand wiedererlangen können? Er sagt: „Mit je größerem Erfolg wir die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland zerstören, desto tiefer werden wir den Stand unserer eigenen Wirtschaftsführung herabdrücken und desto mehr den Ernst unserer inneren politischen Probleme verschärfen.“ In der Tat ist Deutschland zu hervorragender Mitarbeit am zukünftigen Wiederaufbau Russlands berufen, wenn es auch selbstverständlich ihn nicht allein wird verwirklichen können. Nur mit internationalen Kräften wird es möglich sein, Russland aus einem furchtbaren hungernden Chaos wieder in Land zu verwandeln, in dem Menschen zu leben und zu arbeiten imstande sind. Dabei ist es interessant, zu beobachten, dass nach neueren Nachrichten amerikanisches Kapital den Versuch macht, ein Stück des asiatischen Russlands als besonderes Nutzungsgebiet sich zu sichern. Es handelt sich um die öfters genannte Vanderlipsche Konzession in Ostsibirien. Hier hat die Sowjetregierung auf einem sehr ausgedehnten Gebiet, einschließlich der Halbinsel Kamschatka, die Ausbeutung aller Bodenschätze, mit der Pelztierjagd und Fischerei, einem Herrn Vanderlip übergeben. Die Gegenleistungen, die hierfür von amerikanischer Seite gewährt werden sollen, sind einstweilen nicht bekannt geworden. Ostsibirien befindet sich zurzeit gar nicht im Machtbereich der Bolschewisten, und man hat die Vermutung geäußert, dass es sich mit der „Konzession“ nur um einen Bluff, einer besonderen Art von amerikanischer Reklame, handle. Dem widerspricht es, dass gerade von interessierter amerikanischer Seite versucht wird, die Sache als wenig bedeutend hinzustellen. Die amerikanische Tendenz ist vielleicht die, durch den Vertrag mit der Sowjetregierung, die verhältnismäßig leicht für Zugeständnisse in einem ihr praktisch gar nicht unterstehenden Gebiete zu haben war, einen Anspruch auch gegen eine zukünftige geordnete russische Regierung zu schaffen. In dieser Beziehung wird eine solche Sowjetkonzession leicht dauernden Wert behalten.

Konzessionen solcher Art sind jedenfalls nur unter der Voraussetzung zu rechtfertigen, dass mit ihrer Hilfe ausländische Mittel zur Wiederaufrichtung des russischen Lebens herangezogen werden. Deutschland in seiner jetzigen Verfassung kann natürlich nicht daran denken, mit der Kapitalmacht Amerikas oder anderer unerschöpfter Länder zu rivalisieren. Immerhin ist auch die deutsche Finanzwelt nicht ohne Mittel, und was die persönlichen und technischen Kräfte zur Wiederherstellung Russlands angeht, so wird Deutschland von selber vorne an stehen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das osteuropäische Problem