Eintritt ins große Rheintal

Hinter den letzten Rheinfällen beginnt eine neue Periode in der Jugendgeschichte unsres Stroms. War er bisher wie ein unbändiger Knabe auf unwegsamen Pfaden einhergelaufen und hatte sich selbst eine Straße durch Wald und Gebirge gebrochen, so führt ihn nun bald sein guter Genius in ein herrliches, weites Tal, das die wohlwollende Natur eigenst für ihn geschaffen zu haben scheint. Die Berge, die bisher seinen Lauf beengt, ja behindert hatten, ziehen sich zu beiden Seiten zurück und ein reiches gesegnetes Vorland legt sich zunächst an seine Ufer, das Wasgau links mit seinen rauschenden Eichen, zur Rechten der tannenstarrende Schwarzwald. Beide Gebirgszüge, die sich von der Schweiz bis zur Rheinpfalz erstrecken, bilden ein langes, geräumiges Felsenbecken, mit dessen Großartigkeit sich kein anderes Flusstal vergleichen darf. Indem der Rhein es erblickt, ist es, als wäre der Vorhang hinweggehoben, der den Schauplatz seiner künftigen männlichen Taten verhüllte. Jauchzend ahnt er seine große Bestimmung und lenkt freudig in das majestätische Gebirgstal. In diesem verbindet er zwei der fruchtbarsten, schönsten deutschen Länder, Baden und Elsass; denn welcher Friedensschluss könnte uns verbieten, ein deutsch redendes Land deutsch zu nennen? Beide langgestreckte Länder liegen noch innerhalb des Tals seiner nächsten Bestimmung, dessen kolossale Weite sich darnach ermessen lässt. Bieten sie ihm erst auf der linken Seite, dann auch auf der rechten, nur ebene, wenig abwechselnde Ufer, so gebricht es ihnen gleichwohl nicht an erhabener Schönheit, weil die Bölchen des Schwarzwalds, die Ballons des Wasgaus im Hintergrunde dieser reichen, gesegneten Marken ihre parabolisch gestalteten Häupter erheben. Beide Gebirgsketten fallen zwar ziemlich steil gegen den Rhein ab, doch verzweigen sie sich, namentlich auf der badischen Seite, so mannigfach, dass diese Gegenden an landschaftlichen Reizen reich genug bleiben.

Bald werden hier beide Seiten des Rheintals von Eisenbahnen durchschnitten sein, deren Bau so eben in Paris und Karlsruhe mit einem Wetteifer beschlossen wird, der den Bewohnern höchst erfreulich sein muss. Dann sieht man es auch hier so von Fremden wimmeln, wie auf den untern Stromstrecken, welchen sie die Dampfschiife, ein nicht so schnelles, aber angenehmeres Transportmittel, scharenweise zuführen. Ohne Zweifel werden aber die meisten Reisenden die badische Seite vorziehen, wo für ihre Aufnahme schon jetzt besser gesorgt ist, und wo die eigenen Reize des Landes, wie die der herrlichen Seitentäler, die sich überall öffnen, sie viel dauernder fesseln können. Was das mit Recht gepriesene Elsass dagegen zu stellen hat, ist vielleicht an sich nicht geringer anzuschlagen, doch liegt es weiter vom Rheine ab, und steht weder mit sich, noch mit andern vielbesuchten, schönen Gegenden in einem so großartigen Zusammenhange. Die Meisten werden sich also wie bisher mit einem Abstecher nach Strassburg begnügen, um von der Plattform des Münsters oder von der Laterne des Turms herab, das weite Elsass zu überblicken.


Unterhalb der Rheinfälle scheint der Rhein die Kinderschuhe ausgetreten zu haben. Er ist nach einem rheinischen Ausdruck brotstark geworden, das heisst, er hat Kraft genug gewonnen, sich sein tägliches Brot zu verdienen. Zwar hatte man ihm schon früh kleine Geschäfte aufgetragen, z. B. ein Mühlrad umzudrehen, Scheitholz fortzuwälzen, Flösse, Kähne, selbst schwächere Schiffe ein paar Meilen weit zu tragen; aber auf eine längere Strecke durfte man ihm letztere nicht ohne Gefahr vertrauen. Von nun an hat dies kein Bedenken mehr, ob man ihn gleich noch gerne schont und das Maß seiner Kräfte bedenkend seinem Rücken nicht zu schwere Lasten aufbürdet. Auch die Vorsicht befiehlt dies, denn noch hat er seine Knabenwildheit nicht ganz abgelegt, noch versinkt er oft in Gedanken und wütet unbesonnen gegen seine Ufer, reißt Baumstämme mit der Wurzel aus, und führt sie in sein Bette, wo sie das Wasser dem Schiffer verbirgt, der ihm mit größeren Segelfahrzeugen als den gedachten Lauertannen im heftigen, durch die vielen Auen, die er umfließt, gereizten Strome nicht schnell genug ausweichen könnte. Daher wagt er sich mit eigentlichen Transportschiffen selten höher als bis Strassburg hinauf. Nur die kühnere Dampfschifffahrt will ihre Herrschaft künftig bis Basel ausdehnen.

Von Rheinfelden gelangte der Rhein nach Augst, der ehmaligen Augusta Rauracorum, jetzt zwei in die Ruinen der alten Kaiserstadt gebaute Dörfer, Basel und Kaiseraugst, wo sich an die römische Wasserleitung, das sogenannte Heidenloch die rührende Sage von der Schlangenjungfrau und dem armen Leonhard knüpft, der mit dem edelsten Schatz, der Unschuld, auch die Hoffnung verlor, durch den Kuss der Schlangenjungfrau die höchsten irdischen Schätze zu gewinnen. Mitten durch Basel wälzt sich dann die blaugrüne Woge, am Kloster Klingental vorbei, das der Minnesänger Walther von Klingen gestiftet hat, unter der Brücke durch, die Groß und Kleinbasel verbindet, wo der Lell oder Lalenkönig, das Wahrzeichen der Stadt, nach den Schwingungen des Perpendikels der Turmuhr den Kleinbaslern Gesichter schneidet. Hierüber und wegen jener Schlangenjungfrau geben meine Rheinsagen nähere Auskunft; nur bedarf die Stelle:

Und noch in unsern Tagen
Die Basler Glocken schlagen
Eins mehr als anderswo


der Berichtigung, denn neuerdings haben die Basler keine eigene Zeitrechnung mehr.

Nachdem wir uns in dem Gasthaus zu den heiligen drei Königen mit einem Trunk edeln Schweizerbluts, einst zu St. Jacob, dem schweizerischen Thermopylä, für die Freiheit vergossen, gelabt haben, folgen wir dem Strome, der in das oben gedachte große Rheintal einlenkend seine alte Richtung nach Norden von Neuem annimmt. Bei Klein-Hüningen, der geschleiften Festung gegenüber, wo die von Hebel besungene liebliche Tochter des Feldbergs, die Wiese, dem großen Jungen des Gottharts, ihrem Bräutigam, ans Herz sinkt, verlässt dieser die Schweiz

„wie ne Rothsher vo Basel,
„stolz in sine Schritten und schön in sine Gebehrde.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das malerische und romantische Deutschland