Nochmals die Slawophilen. — General Komarow. — Russland und die Czechen. — Die Judenfrage.

Bei allem Fortschritte der höheren Intelligenzkreise zeigen hier viele Einrichtungen doch noch das Gepräge einer früheren europäischen Kulturstufe. Selbst der Journalismus trägt äußerlich vollständig die Physiognomie der kleinbürgerlichen Romantik unserer Fünfziger-Jahre. Zu den Redaktionen einflussreicher Blätter steigt man auf Hintertreppen empor, ihr Vorgemach ist kahl, einfach, kaum mehr Raum bietend als für die Galoschen, die der Nasse ablegt wie der Türke seine Oberpantoffel, ehe er in das Besuchszimmer tritt, und die von Rauchwolken erfüllten und tabakdurchtränkten Redaktionszimmer haben nicht den Chic eines modernen Journalistenheims. Die Poesie der Unordnung erfüllt Ecken und Winkel, herrscht auf Tischen und Stühlen, wie auf den zeitungsbelasteten Etageren; an das Fin de siecle mahnt nur die unablässig klingelnde Telephonglocke. Die Menschen, die hier hausen, sind Originale; die älteren Politiker mit ihren ernsten überlegenen Mienen gleichen unseren letzten Achtundvierzigern, die pedantischtreu zu ihrer Überzeugung hielten, auch wenn Angeberei, Polizeigewalt und brutale Mächte sie von ihrem Wege abzudrängen suchten; die schwerbeweglichen Hünengestalten mit den Sarmatengesichtern, welche eine wellige bläulich-schwarze Haarmähne umrahmt, führen die Kritiker, Belletristen und Ästhetiker ins Gedächtnis, denen wir im russischen Roman so oft begegnen. Diese Publizisten, die, von einem kleinen Stabe für die geringfügige Arbeit umgeben, emsig ihre Zeitung machen, sind zumeist Schriftsteller von Charakter, Ruf und Namen; in ihrem Kreise leben fesselnde Hamlet- und Mephisto-Naturen, deren Hang, zu zweifeln und zerfetzend zu kritisieren, dem russischen Leser so willkommen ist.

Die Parole für den Verein der Slawophilen ist wiederholt in diesen Zeitungskreisen ausgegeben worden. Wenn die Stimme des Journalisten sich nur gedämpft und verhalten in seiner Zeitung äußern durfte, dann klang sie in der Slawophilen Körperschaft um so vernehmlicher. Alexander II. glaubte, den Geist der öffentlichen Meinung einschnüren zu sollen; er entlud sich im slawischen Vereine. Die Verhandlungen waren schon träge dahingeschlichen, ein getreuer Zuhörer nach dem andern blieb aus, die Zahlung der Mitgliederbeiträge wurde verweigert, da schwirrte es plötzlich durch ein paar Journalistenköpfe, und ein neuer zündender Funke flog in die Masse; einmal waren es die Vorgänge in der Türkei, ein andermal das Verhältnis des Metropoliten Michael zu König Milan in Belgrad, was die Diskussion anfachte; man zwang den Verein, seinen Einfluss, seine Kraft, seine Geldmittel, seine Reserven zu opfern und trieb die Regierung auf Bahnen, die sie niemals hatte betreten wollen. Heute läßt die Journalistik die Slawophilen eigentlich unbeachtet; dennoch gibt es noch eifrige „Zeitungsmitglieder“ in dem Vereine. Sie sitzen zumeist in der Redaktion des Swjet, eines Blattes, das den rechten Flügel der Regierung zu vertreten pflegt.


Der Swjet ist eine reiche Zeitung. Er ist eben daran, am Ende des Nemski-Prospektes sein altes bescheidenes Haus zu zerstören und einen fünfstöckigen Palast zu errichten. Als dieser jüngst die Dachgleiche erreichte, segnete eine vielköpfige Popenschar unter frommen Gebeten das zukünftige Gebäude. Das Geheimnis der Verbreitung dieses Blattes ist sein billiger Preis. Ihm zunächst dankt es eine Auflage von achtzigtausend, eine Ziffer, die der Schwerfälligkeit des russischen Zeitungswesens stark widerstrebt. Die Post sucht den Journalismus nicht zu fördern. Sie bietet keine Erleichterungen bei der Versendung, die Abonnenten müssen ihren Pränumerations-Betrag selbst abliefern. Wenn sie es tun, erheben sie zahllose Wünsche und Klagen, machen sie unermüdlich Reformvorschläge. Solcher Briefe erhält ein Blatt wie der Swjet im Verlaufe eines Jahres mehr als eine Million. Mit ihrer Durchsicht sind hundert Mädchen betraut, die mit ihren lebendigen, jungen, hübschen Augen die Lektüre flink besorgen. Um die zahlreichen männlichen Besuche scheren sie sich nicht. Die fortgesetzte Beschäftigung mit der Frauenfrage hatte in Russland zunächst die Folge, daß die Mädchen bei den ihnen übertragenen Ämtern auch in dem freieren Verkehre mit männlichen Berufsgenossen — Mädchen bleiben.

Der Leiter des Swjet ist ein bekannter Journalist, General Komarow. Die Wucht feines Stils hat manchen Gegner in die Flucht geschlagen. Dieser Stil ist der Mensch. Komarow, ein Sechziger, ist von derben Formen. Auf kurzem, gedrungenem Körper sitzt ein kluger Slawenkopf, dessen Auge müde blickt. Es wird mit der geschmeidigen Rede des Trägers sehr lebendig. Komarow ist ein Soldatenkind. Einer seiner Brüder ist Festungskommandant in Warschau, der zweite hat eine hohe Stellung in der Leitung des Artilleriewesens, der dritte hat mit einer siegreichen Schlacht die letzte Streitfrage in Afghanistan entschieden. Er selbst quittierte als General, trägt aber regelmäßig die Uniform, wiewohl seine einzige Waffe längst nur die Feder ist. Er gehört zu den slawophilen Wortführern, ihre scharfe Tonart gelangt durch ihn zum Ausdruck. Man muß ihn schon deshalb hören. Er ist Journalisten gegenüber voll liebenswürdiger Zuvorkommenden.

„Ich bin Zeitungsmensch mit Leib und Seele,“ hörte ich ihn sagen, „jeder Erfolg eines Journals freut mich, denn ich denke, ein Stück von dessen Siege erhöht auch die Bedeutung unseres Standes.“

Er macht kein Hehl aus seinen Ansichten, die frischere Luftströmung, die jetzt — vielleicht nur für kurze Zeit — durch Russland zieht, scheint nicht nach seinem Sinne.

„Ich möchte Sie über meine Gesinnung nicht täuschen.“ sagte ich ihm, als unser Gespräch begann, „ich bin ein Liberaler.“ —

„Und ich,“ antwortete er lachend, „ich bin gleichfalls liberal — weil ich ein Konservativer bin.“

Komarow ist Russe alten Stils.

„Man ist jetzt bei uns der Meinung,“ sagte er, „daß das Verhältnis zu Österreich ein freundliches werden solle; das wäre wünschenswert, wird es auch möglich sein? Manches muß dies sehr erschweren, vernehmlich die Dinge an der galizischen Grenze. Die Ruthenen dort sind ein gutmütiges Volk, warum setzt man ihnen so hart zu? Wir in Russland wollen nichts von ihnen, warum verfolgt man ihre angeblichen Verbindungen mit uns? Ich kenne Fälle, wo Leute, die eine Zeit ganz unschuldig hier lebten, dies durch Verfolgungen büßen mußten. Andererseits gibt es Russen — ich könnte ihre Namen nennen — die nach Österreich, England, Dänemark, in die Schweiz gingen, um von dort wütend gegen uns zu schreiben. Sie kehrten wieder hierher zurück. Man tut ihnen nichts zuleide. Warum ist man in Galizien um so viel strenger als in dem angeblich harten Russland? Man sagt, das tun die Polen; aber wir haben schon Wiener Gerichtsbeschlüsse, Wiener Regierungskundgebungen, die gleich rücksichts- und nachsichtslos erschienen. Da hatten es die Ruthenen früher unter der deutschen Regierung doch viel besser, und sie haben wahrscheinlich recht, zu befürchten, daß es noch ärger für sie kommen werde. Solche Zustände stören aber die Beziehungen zwischen Russland und Österreich. In Österreich sind heute vier polnische Minister, wie soll da ein herzliches Einvernehmen mit uns entstehen? Herrschende Volksstämme wissen sich immer geltend zu machen, und wenn selbst in Österreich die Dinge wider Erwarten anders würden, wird man in Ungarn russenfreundlicher werden? Der Ton der dortigen Zeitungen läßt dies nicht hoffen. Er ist wesentlich verschieden von der Sprache, die jüngst Jokai zu den vermeintlichen Vertretern der russischen Presse bei der Millenniums-Ausstellung führte. Warum beherrscht sein milder und friedlicher Geist nicht die ungarischen Zeitungen? Gibt es jemanden, der sie schürt, oder spricht aus ihnen Chauvinismus und Abneigung gegen uns? Hasst man uns noch wegen der Intervention im Insurrektionskriege? Wir beklagen dieselbe als einen Fehler des Zars Nikolaus I. Wir sind der Überzeugung, daß man damals Österreich seinem Schicksale überlassen mußte, es wäre vielleicht zu seinem Vorteil gewesen, alle Folgen spätem Übermutes wären ihm erspart geblieben. Weshalb hetzen die Ungarn, frage ich weiter, gegen Serbien und Bulgarien? Warum drängen sie uns förmlich, den serbischen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken? Russland will den Frieden, es will nichts auf dem Balkan, mir sind einig, daß wir uns dort so wenig als möglich einmengen sollen; warum nötigt man uns, der alten Standpunkte eingedenk zu bleiben? Ich will zugeben, daß diese Provokationen keine bestimmte Absicht haben, aber dann sind sie desto bedauerlicher. Was will mau zum Beispiel von Bulgarien?

„War der Übertritt des Prinzen Boris nicht notwendig für den Fürsten? Schädigte er Österreich? Warum bekämpft man ihn trotzdem? Weshalb läßt man eine persönliche Beleidigung des Fürsten der anderen folgen? Ich habe viel beigetragen zu der günstigeren Beurteilung Ferdinands von Bulgarien in Russland. Dies war nicht leicht, aber ich glaube als russischer Patriot gehandelt zu haben. Wir mußten einsehen, daß General Kaulbars uns in Bulgarien schlechte Dienste tat; er war ein braver Mann, aber seine Aufgabe in Sophia hat er ebenso missverstanden wie das Volk der Bulgaren, wie die Stellung, die Russland in Sophia einzunehmen hat. Wir wollen von dem Fürsten Ferdinand nichts, wir verlangen nur, daß er nicht gegen uns intrigiere und uns nicht an eine andere Macht verrate. Wenn er neutral bleibt, das heißt, wenn er loyal und offen vorgeht, wird seine Position eine immer günstigere werden; wenn er versuchen sollte, eine Großmacht gegen die andere auszuspielen, wird er verloren sein. Er hat noch viele Feinde, und er hat es sehr nötig, vorsichtig und klug zu sein, aber ich glaube, es wird seinem Talente gelingen. Schließlich alle Schwierigkeiten zu besiegen.

„Russland ist groß und mächtig, es muß nicht unrechtes wollen oder an ungerechten Voraussetzungen festhalten, seine Ziele wird es von selbst erreichen, wenn es seinen Prinzipien treu bleibt. Man sucht jetzt vielfach dieselben zu verrücken. Das wird hoffentlich nicht gelingen. Wir brauchen uns in keine prinzipiellen Feindschaften drängen zu lassen, weder mit den Deutschen noch mit sonst jemandem. Wir müssen aber sehen, daß Russland ans der Höhe seiner Macht bleibt. Man sagt, sein Schwerpunkt liegt in Asien. Ich leugne und bekämpfe das. Wir abdizieren im Orient, wenn wir uns im Occident aufgeben.“

Von diesen Vorwürfen, die vielleicht mit absichtlicher Zurückhaltung unwilligere Töne zu verbergen suchen, hört man den, weicher der Stellung der österreichischen Ruthenen gilt, häufig wiederholen; für die übrigen slawischen Völkerschaften in Österreich bestehen wenig Sympathien, ein starker innerer Gegensatz trennt sie von den Russen, ähnlich dem, der diese und die Polen auseinander hält. Die Slaven in Ungarn sind beliebter. Man glaubt offenbar, sie seien minder ultramontan.

Es ist hier kein Geheimnis, daß die nationale Bewegung der österreichischen Slawen auf den Kanzeln entstand und, daß dieselben Hände, welche in Galizien wirken, auch in Krain, Kärnten und einem Teil von Steiermark ein Bollwerk der schwärzesten, kirchlichen Reaktion aufrichten wollen. Aber auch den Czechen, die so lange mit Russland liebäugelten, in Prag orthodoxe Kirchen gründeten und kleine Pilgerfahrten nach Moskau veranstalteten, ist man nicht gewogen.

Unter den Slawophilen gibt es manche Mitglieder des Staatsrates, der allerdings nicht mehr wie früher ein scharfes Kontrollrecht gegenüber der Regierung, aber trotzdem noch immer großes Ansehen besitzt. Ich befragte einen dieser Staatsmänner mit geheimrätlicher Physiognomie über das Verhältnis Russlands zu den Czechen. Das setzte ihn durchaus nicht in Verlegenheit, sondern schien ihm eher erwünscht.

„Über diese Frage“ — antwortet er mir — „bestehen in Österreich ganz falsche Meinungen. Der Gegensatz zwischen Russen und Czechen ist uns wiederholt aufgefallen und schon auf dem Slawenkongresse in Prag — also vor etwa fünfzig Jahren — klar geworden. Naturgemäß interessieren wir uns für die Entwicklung des tüchtigsten Slawenstammes in Österreich, aber wir wissen auch genau, welche Richtung dieselbe genommen hat und nehmen mußte. „Ihre heutigen Kämpfe berühren ein Krönungszeremoniell, oder kleine Verwaltungsfragen. Haben diese Streitpunkte ein slawisches Gepräge? Oder auch nur ein czechisches — wenn Huß, der seine Überzeugung auf dem Scheiterhaufen büßte, der Typus des Czechen ist? O! die Czechen sind keine Slawen im Sinne russischen Empfindens, das sich auf allen Gebieten der sozialen und öffentlichen Einrichtungen kundgibt. Sie sind nur czechisch sprechende Deutsche — in ihrer Literatur, ihrer Religion, ihrer Politik, ihrer Lebensgewohnheit.

„Auf einer Sprachinsel im germanischen Gebiete festgerannt, find die Czechen in den Bannkreis des deutschen Geistes geraten; all ihr Denken, Empfinden, ihre ganze Literatur ist hiervon beeinflusst, die slawische Seele ist nur mehr schwach lebendig in ihnen. In Deutschland feiert jetzt ein czechischer Musiker, Smetana, Erfolge; das ist natürlich, denn der Untergrund seiner Schöpfung ist deutschen Werken entnommen. Bereist man Böhmen und gewinnt man dort Fühlung mit seinen politischen Kreisen, so erkennt man rasch, wieviel Sie der deutschen Bildung danken, wie untertänig sie dem mehr deutschen als slawischen und durchaus klerikalen Adel sind. Wiederholt lernten wir die intimeren Anschauungen der jungzcechischen Führer kennen, die nur au der Schwelle des Reichsrates von den Altczechen verschieden scheinen, aber eigentlich ganz ihre Wege wandeln. Jeder von ihnen hat seine besondere Auffassung, seinen eigenen Plan; es gibt offenbar So viele Strömungen im Jungczechischen Klub, daß es schwer wird, zu wissen, ob er wirklich mehr will, als kleine persönliche und Vorteile der Fraktion. Wir wünschen ihnen trotzdem kräftige Erfolge, aber von mehr kann nicht die Rede sein. Nehmen wir an, woran jetzt nicht zu denken ist, sie gewännen je einen Einfluss auf unsere Entwicklung. Was geschähe? Das erste wäre, daß Sie für Russland eine nach europäischer Schablone geformte Verfassung verlangten, die zu unseren Verhältnissen nicht passt, die uns in Vereine, Fraktionen, Parteien teilen würde, wie sie sich anderwärts zerfleischen. Davon will Russland nichts wissen, und daher teilweise die Umformung, die der panslawistische Gedanke erfuhr. Übrigens, wir kennen die Czechen nicht nur aus der Vogelperspektive. Eine erkleckliche Zahl von ihnen hat sich als Gäste bei uns niedergelassen. Nikolaus I. hatte dem höheren Unterrichtswesen einen schweren Schlag versetzt. Er sperrte in einer Stunde der Verblendung zahlreiche Anstalten für Lehrerbildung. Dadurch hat uns später das Material für Mittelschullehrer gefehlt. Wir holten uns den Ersatz aus Böhmen. Vierhundertfünfzig Mann! Diese eingewanderten czechischen Professoren stehen in schlechtester Erinnerung bei uns; sie hielten sich übermütig für die Vertreter des ersten slawischen Kulturvolkes, sahen verächtlich auf die rassische Sprache und unser Wesen herab, sie verschmähten, beides kennen zu lernen, während die Deutschen in ähnlicher Stellung eifrig bemüht waren, diese mangelnde Kenntnis nachzuholen. Dadurch haben sie die Schüler abgestoßen, ihnen durch den Mangel jeder pädagogischen Begabung die Freude am Lernen verdorben; sie wurden die Apostel unserer Bildungsfeinde und Gegner des Klassizismus. Wir sind herzlich froh, daß diese nationalen Brüder, die so viel Unzufriedenheit und Erbitterung erregten, nicht mehr nötig sind.“

Der Verein der Slawophilen bekümmert sich nicht nur um Fragen der auswärtigen Politik, er hat auch in innere Angelegenheiten wiederholt eingegriffen. Die großen Probleme, die Russland durch die abnorme Lage seines Adels- und Bauernstandes beschäftigen, werden von ihm eifrig erörtert; auch andere sozial-politische Angelegenheiten pflegen sein Interesse zu wecken, zum Beispiel die Judenfrage. Man kennt die letzten Stadien ihrer Entwicklung, und es ist gewiß lehrreich, die Stimme der Slawophilen hierüber zu hören.

„Daß wir diese Verlegenheit besitzen,“ sagen die Einen, ganz im Sinne des Leiters des Synod, „ist Schuld der Polen. Ihr König Kasimir liebte eine romantische Jüdin Esther; er zog ihre habgierigen Verwandten nach Kiew und Warschau, gab ihnen und ihren zahllosen Stammesgenossen das reich entwickelte Magdeburger Stadtrecht, machte sie zu Steuer-Exekutoren, die selbst die kirchlichen Gebühren, Mess-, Kranken-, Stola- und Totengelder gepachtet hatten; die jüdischen Einnehmer trieben sie, unbekümmert um die zunehmende Verarmung der Bauern, so unerbittlich ein, daß 1526 ein Aufstand gegen sie losbrach. Die Abkömmlinge dieser Ahnen sind die Ursache der Judenfrage bei uns, weiche durch die Ungeschicklichkeit der Verwaltung traurig verwirrt wurde.“

„Man durfte die Juden nicht aus Russland austreiben,“ erklärte man mir auf anderer Seite, „es war einfach das Gesetz zu handhaben und ihnen das Gebiet anzuweisen, wo den Juden der Aufenthalt gestattet ist; dieses umfasst fünfzehn Provinzen und ist größer als Deutschland oder Österreich.“

„Die Juden bei uns,“ meint ein slawophiler höherer Offizier, „sind keine Russen, sie sind Nationaljuden, also von trauriger Bereitwilligkeit, uns zu verraten. Ihr ,Kahol‘ ist eine ganz politische Gemeinschaft. Ich erlebte es, daß ein Vorsteher Jene mit dem Banne bedrohte, die in meinem Sinne Waren liefern wollten. Die Juden hatten das Gewerbe in meinem damaligen Bereiche vollständig in der Hand, ich konnte nicht den Bäcker oder Schneider erhalten, den ich wünschte. Sie sehen, wie wenig sich der Jude dem russischen Wesen, dem Gesetze und der Ordnung der Dinge unterordnet.“

Diese Vorwürfe haben nur den Schein des Rechtes für sich. Gewiß, auch die Juden in Russland haben gesündigt und unter der Maske der Religiosität habgierigen und eigensüchtigen Zwecken gedient; ihre Begriffe, Anschauungen und Überzeugungen passten sich nicht immer dem Staatsgedanken an.

Wer anders aber als der Staat trägt Schuld hieran? Wer zwängte diese beklagenswerten Wesen in ihr schmutziges Ghetto mit seinem armseligen Gedankenkreise? Wer nahm ihnen die Rechte des Bürgers und hat ihnen die Befugnisse des ausgedienten Soldaten nach vollzogenem Militärdienste vorenthalten? Wer verweigerte ihnen Anstellungen und Obdach? Wer verbot ihnen die Grunderwerbung und raubte ihnen die Möglichkeit, eine höhere Bildung zu gewinnen?

Der Staat und wieder der Staat, welcher sie jetzt für ihr niedriges geistiges Niveau verantwortlich macht. Er, nicht sie, müsste gerechterweise die Folge seiner Unterlassungssünden tragen! Die Judenfrage in Russland ist kein Erbstück der Polen, sie ist eine Errungenschaft der jüngsten Zeit. Wenn sie früher auftauchte, geschah dies in einem milderen Geiste; nach dem Tode Nikolaus' I. wurden zwei junge jüdische Schriftsteller, Rosenthal und Tschatski, in einer Polemik als „Rabbis“ verhöhnt. Der Ruski Wjestnik, das Blatt Katkows, veröffentlichte hingegen eine Erklärung aller russischer Schriftsteller, Tolstoi und Turgenjew an der Spitze, daß eine solche Hineinzerrung von Glaubensfragen in einen literarischen Streit den Empfindungen der russischen Volksseele widerstrebe. Wie hat sich diese Denkweise seither verändert! Unter der Zustimmung eines großen Teiles der russischen Presse wurde ein Raubzug gegen das Eigentum der Juden unternommen, ihre Häuser fielen in Trümmer und Asche, eine erbarmungslose Verfolgungswut befeuerte die Gegner der Opfer mit der spöttischen Mahnung, daß Sie der unablässige Flach ihres Stammes der Ruhe und des Friedens berauben müsse. Wie war ein so jäher Umschlag möglich?

„Die Juden sind intelligent, deshalb haßt man sie, ohne sich den wahren Grund einzugestehen,“ meint Leon Tolstoi in seiner kurz angebundenen Weise.

Man muß weiter ausholen, um eine bestimmtere Antwort zu finden.

Der letzte russisch-türkische Krieg hatte eine erschreckende Unlauterkeit in der höheren Militärverwaltung offenbart. Die öffentliche Meinung kehrte sich stürmisch gegen die Regierung und forderte strenge Strafe für die Schuldigen. In diese Zeit allgemeiner Erregung kam die neue Heilslehre vom Antisemitismus über die deutsche Grenze.

Die wahren Schuldigen, die das Unglück an der unteren Donau vermochten, schienen plötzlich gefunden. Der Betrug, der die russische Offiziersehre befleckte, war nicht von den verantwortungsvollen Würdenträgern begangen, das Gift hatte ein anderer gebracht — der Jude.

Die Literatur des Tages versicherte dies in allen Formen. Ihr Kreuzzug stieß auf Teilnahmslosigkeit im Volke. Der Muschik haßt den Juden nicht; die Popen traten für die bedrohten Rabbis und Zadiks wie für Mitbrüder von der Kanzel ein; sie versendeten ihre heiligen Bilder zu deren Schutz.

Ein anderer, mächtigerer Gegner erstand den Juden — der Zar.

Man hatte ihm gesagt, daß die Juden den Kreis, welchen das Gesetz ihrem Wohnrechte in Russland zieht, durchbrachen; er fand nicht, daß die Zeit nur eine natürliche Korrektur der bestehenden Bestimmungen vollzog; er war immer ein Anhänger starrster Gesetzesauslegung. Einer seiner Freunde hatte einen Sohn, der in die Untersuchung einer Verschwörung verwickelt war.

„Gnade!“ flehte er; „der Wahnwitzige zählt siebzehn Jahre!“

„Das Gesetz habe seinen Lauf,“ entschied Alexander III.

„So gönne man dem Schuldigen einige Erleichterung seiner Haft.“

„Das Gesetz duldet das nicht,“ erwiderte der Kaiser. Er mußte später hören, daß der verzweifelte Vater, ein verdienter General, mit dem Kopfe gegen die Wand einer Kerkerzelle in der Peter-Paulsfestung lief, bis er tot zu Boden sank! Das Gesetz hatte gesiegt.

Der Kaiser hatte einen Vetter, der in jugendlichem Leichtsinn die Diamanten seiner Mutter einer Tänzerin schenkte. Alexander II verbannte ihn vom Hofe; als dieser starb, bat der Prinz, daß es ihm gestattet sein möge, am Sarg seines Onkels zu beten.

„Das Gesetz kennt solche Ausnahmen nicht,“ meinte der neue Herr.

Der Prinz warf seinen hohen Namen von sich, verweigerte die Huldigung für Alexander III. und flüchtete in die Einsamkeit einer kleinen Landstadt, um als Bürger unabhängig von dem Hofe eine Existenz zu suchen.

Und nun kehrte sich diese Gesetzesstarre ohne Sinn und Gehör für milde Stimmen der Menschlichkeit gegen die — Juden. Das, Gesetz für die Juden! Sein Geist war das Mittelalter, seine Seele die Willkür, seine Bestimmungen stiegen gespensterhaft wie aus einem durch Jahrhunderte geschlossenen Grabe! Es sollte trotzdem herrschen, erbarmungs-, rücksichtslos nach seinem völlig veralteten Wortlaute.

Es fanden sich Beamte, die noch grausamer waren. Ihr Vorbild war jener Wlassowski, den jüngst ein Ukas Nikolaus' II schimpflich von seiner Stelle stürzte, weil er von allen Richtern als die Ursache des Chodinka-Unglückes bezeichnet wurde. Er hat die Juden von Moskau mit teuflischer Grausamkeit verfolgt; nach ihrer Vertreibung setzte er eine Prämie für die Angeberei aus — per Polizist, der einen nach Moskau zugereisten Juden ausfindig machte, erhielt ein Fanggeld von fünf bis zwanzig Rubeln — er verurteilte die Angehörigen wohlhabender und gebildeter Kreise zu den tiefsten Erniedrigungen, ließ aus den Betten der Universitätsklinik schwerkranke Jüdinnen zerren, weil ihnen der Aufenthalt in Moskau nicht ausdrücklich gestattet wurde; er suchte mit allen Mitteln die Umwandlung des jüdischen Gotteshauses in ein Tingl-Tangl durchzusetzen.

Die Verzweifelten, die es wagten, im Vorhofe zu beten — Siebzig- und Achtzigjährige unter ihnen — wurden verbannt und aus der Stadt verjagt.

„Eine Jüdin,“ erzählt Gräfin Tolstoi, „war nach Moskau gekommen, um die Hebammenprüfung zu machen. Ich gab ihr Unterhalt. Das Hilfsmittel, sich das Aufenthaltsrecht zu erschleichen, verschmähte sie. Viele taten das. Sie gaben sich als Prostituierte aus, weil das Gesetz der verächtlichen Jüdin bei uns zu leben gestattet, während es der sittenreinen dies Recht verweigert. Ich gewährte ihr also Unterkunft, glaubte jedoch verpflichtet zu sein, dies dem Polizeimeister zu melden. Zu diesem Behufe suchte ich ihn persönlich auf.

„Exzellenz, ich habe eine Jüdin bei mir, sie ist ehrbar, sie will eine Prüfung machen, um das Leben für sich und die Ihren zu gewinnen.“

„Das ist ein schwerer Fall.“

„Ich bin die Gräfin Tolstoi!“

„Unser Gesetz kennt keine Ausnahme.“

„Ich bürge für dies Wesen. Ich bitte für sie, nicht nur in meinem Namen, auch in dem meines Gatten.“

„Sie werden morgen Bescheid erhalten,“ meinte der Polizeimeister lächelnd.

„Die Audienz war zu Ende. Einen Tag später wurde ich verständigt: die Jüdin müsse fort.“

Diese Gesinnung machte Schule. Polizeimeister und Gouverneure in der Provinz ahmten sie nach; sie hatten vorher schon Emissäre [Abgesandte mit einem bestimmten Auftrag] in Städte und Dörfer geschickt, welche die Plünderung der Judenviertel predigten. Das Militär stand Gewehr bei Fuß, während der rote Hahn auf die jüdischen Dächer flog. Wieder war das Volk nicht bei der heiligen Sache. Man mußte die Exzedenten aus dem Norden holen.

„Der Kaiser wolle die Tumulte,“ versicherten die Agenten des Krieges gegen Wehrlose.

In einem Dorfe dei Kiew flehte eine Jüdin ihre Nachbarn an, man möge sie schützen.

„Wir werden dir beistehen,“ sagten die Dorfältesten, „nur lass` uns die Fenster deines Hauses einwerfen, damit der Kaiser nicht wisse, daß wir seinem Gebote im Herzen entgegen sind.“

Der Antisemitismus war machtlos, wenn ihn die Behörde ohne Unterstützung ließ. General Todtleben gestattete nicht, daß dessen Wanderprediger in sein Gouvernement dringen, den Juden wurde in diesem Amtsgebiete kein Haar gekrümmt.

Man sollte alsbald erfahren, daß der General mit kluger Voraussicht gehandelt hatte. Flugschriften flatterten plötzlich auf, ihr Refrain lautete: „Zum Frühstück die Juden, zum Mittagsmahl die Klöster, zum Abendessen die Schlösser!“

Bei einer der Emeuten[ Aufstände], die folgten, standen die Soldaten in gewohnter Untätigkeit.

„Gib den Prügel her,“ meinte lachend der keckste der Exzedenten zu einem Flügelmanne und entriß ihm sein Gewehr.

Der Fall wurde dem Zar berichtet. Ein scharfer Erlass an die Militär-Kommandanten war die Folge.

Alexander III. gestattete keine Judenhetze mehr in seinem Reiche....

Es gibt Politiker in Russland, welche von der Beschränkung der Juden wirtschaftliche Vorteile erwarteten. Die Ereignisse zeigten, daß sie sich geirrt haben. Ähnliches wie in Spanien und im südlichen Frankreich, wo die Vertreibung der Juden einen Notstand herbeiführte, hat man auch in Russland erfahren müssen. „Der Jude,“ klagte man, „sei ein Wucherer.“ Der Zinsfuß, den seine Nachfolger erheben, ist heute ein höherer. „Er verderbe das Geschäft,“ wurde behauptet. Dasselbe ist schlechter geworden, und nur der Konsument hat schwer gelitten, weil der Preis der Waren durch den Wegfall einer Konkurrenz unverhältnismäßig gestiegen ist. „Die Juden befördern die Trunksucht,“ schrie man. Als sie heimatlos geworden waren, bildeten sich Mäßigkeitsvereine, um dem fürchterlichen Laster und den garstigen Gewohnheiten, die jedes Dorffest, jede Beratung im Mir und Semstwo begleiten, entgegenzuwirken. Sie stießen auf einen mächtigen Gegner — den Finanzminister. Der Staat hat den Ausschank von Getränken den Juden abgenommen, aber er will nicht, daß der Erlös geringer werde, überall bestehen, auch dort, wo die Juden fehlen, ihre Laster fort, nur mit dem unterschiede, daß der Grundwert sank, die Arbeitslosigkeit stieg und das Nationalvermögen eine schwere Schädigung erlitt.

Trotz dieser Erfahrungen hielt die Regierung bis in die letzte Zeit an den Tendenzen Alexanders III. fest. Vergeblich mahnten einsichtige russische Schriftsteller zur Umkehr, vergeblich versuchten einflußreiche Juden des Auslandes ihren Glaubensgenossen hilfreich beizuspringen. Ein großer englischer Verein entwarf eine Adresse an den Zar. Ihr Inhalt war ein Aufschrei der Menschlichkeit gegen die Brutalität. Das Schriftstück wurde abgewiesen; schließlich ist es doch in die Hände Nikolaus' II. gelangt.

Eine russische Schriftstellerin, die in England die freie Luft eines modernen Reiches atmet, verstand es, die entgegenwirkenden Schwierigkeiten zu besiegen. Fremde Staatsmänner, die der Zug der Zeit außer Dienst gestellt, Schriftsteller, die sich wiederholt als die wahren Freunde Russlands bewährt, — lauter Liberale, die ihre Überzeugungen nicht verhüllen, auch wenn widrige Strömungen jeglichen Fortschritt zu ersticken suchen — förderten ihre Bemühungen. Als sie den erwünschten Erfolg gewonnen und der Zar die an ihn gerichtete Denkschrift gelesen hatte, trat ein Umschwung ein. Er war zuerst in den Zeitungen erkenntlich, welche die Judenfrage jetzt in anderem Tone behandeln. Auch die Regierung ließ ihre Reserve fallen, die Praxis in der Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen wurde eine menschenfreundlichere, der Besuch fremder Juden in Russland wurde zunächst für Ausstellungen und Kongresse freigegeben, Beamte, deren Milde bisher als Fehler galt, wurden befördert, die „Juden-Kommision“ im Ministerium des Innern, die so lange gefeiert hatte, erhielt Befehl, die alten Gesetze und die barbarischen Verordnungen Alexanders III. einer neuen Beratung zu unterziehen, selbst die erbitterten Gegner der Juden fühlten das Bedürfnis, zu erklären, daß sie ihnen nicht in prinzipieller Feindschaft gegenüberstehen.

So mächtig ist ein Kaiserwort. Seltsam! Während in Österreich die Fratze des Antisemitismus sich noch frommer und hoher Patronanz erfreut und der zynische Vandalismus seiner Bekenner die edelsten Errungenschaften des menschlichen Geistes bedroht, ist in Russland, das selbst so lange mit pharaonischer Grausamkeit die jüdischen Untertanen bedrückte, eine Wendung zum Bessern eingetreten. Zögernd tat Nikolaus II. den ersten Schritt hiezu — möchte er den zweiten mutig wagen. Nicht nur die Juden — die Menschen in Europa werden ihm Dank hiefür wissen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen