Staat und Kirche. — Die Dreifaltigkeitskirche des heiligen Sergius. — Orthodoxe Glaubensströmungen. — Das slawische Lourdes. — Die Einsiedler von Gethsemane.

Das eigentümliche des russischen Staatswesens, seine Verbindung religiöser und staatlich autoritärer Elemente kommt im Moskauer Kreml sichtlich zum Ausdruck. Vor seinem Eingange steht eine Kapelle. Sie birgt die Nachahmung des ersten Marienbildes, das angeblich Fischer an der iberischen Küste gefunden haben. Die Vorübergehenden verweilen hier, machen das Zeichen des Kreuzes und bleiben eine Zeit in stillem Gebete; auch die Truppen halten regelmäßig, der Führer senkt den Säbel, die Soldaten beugen das Knie und bekreuzigen sich inbrünstig. Die Kirche ist allmächtig, wie dieser Anblick zeigt. Der Staat ist noch mächtiger. Auch das tritt im Kreml vor das Auge. Von der Wassilykirche, die mit ihren Zwiebeln und Kürbiskuppeln einer Moschee gleicht, der man Turban und Pelzmütze aufgestülpt, bis zu der Kathedrale Nikolaus' I. zählt der Kreml zwanzig Kirchen. Ihre farbigen Kuppeln strahlen hell zum Himmel, in ihr Inneres trugen gläubige Fürsten verschwenderisch Gold und Edelsteine, so daß die Bilder der Heiligen wie aus einem Panzer von Perlen und Brillanten herausschauen. In jedem dieser Steinchen leuchtet die kirchliche Macht; größer noch als diese ist die des Staates! Sein Zeichen, der Adler schwebt über dem Kreuze! Gebieterisch blickt die Kaiserkrone von dem Dache des fürstlichen Schlosses. Der Staat bin ich! steht unsichtbar und doch sichtbar über ihr.

Demütig lehnt sich an diesen Palast des Zaren auch das Gebäude der kirchlichen Verwaltung. „Kontor des heiligen Synod“ lautet die geschäftsmäßige Überschrift an seiner Pforte. Tausende von Besuchern wallen hieher und blicken scheu zu den Fenstern der Säle im ersten Stockwerke. Wenn die Geister der Geschichte, die den Kreml umschweben, lebendig werden, erzählen sie, daß die Macht in diesen Räumen den Zaren gehört. Sie gaben das Gesetz, ja Nikolaus I. bestimmte eines Tages, daß sein Adjutant, der Husarengeneral Protassow, im Synod kurz und barsch befehle. Neben dem kaiserlichen Palast, zu dessen Füßen die Moskwa von Quaimauern eingezwängt vorüberschleicht, stehen die alten Winkelhäuser der früheren Herrscher. Auf ihrem Innern schreitet der Zar am Krönungstage zu der Kathedrale. Sein Weg führt über viele Stufen: „die rote Treppe“. Rot will nach dem Volksbegriffe das Schöne bezeichnen.


Auf dieser Treppe wurde die Geschichte Russlands geboren.

Von Iwan bis Nikolaus II. betrat sie jeder Zar; hinter den Schmalen vergitterten Klosterfenstern an ihrer Seite saß die Schwester Peters I., von Schergen umgeben, die sie zwangen zuzusehen, wie die Mitverschworenen das Haupt dem Henker beugten; über die rote Treppe schritt Alexander I. im Triumphe, nachdem das Glück Napoleons zerschellt war, sie sah Alexander IL, ehe er die Leibeigenschaft aufhob und bevor er den Türken den Krieg erklärte — aber als der bedeutsamste Moment an dieser Stelle erscheint den Russen jener, in welchem hier den falschen Demetrius sein Schicksal erreichte. Damals war die Treppe blutig rot; als Leiche in der Kleidung eines Schalksnarren lag Demetrius, der Zar der Jesuiten und Polen, starr und regungslos am Boden. Mit seinem Untergange war das Geschick der beiden slawischen Stämme, die um die Herrschaft stritten, besiegelt; Polen, einem fremden Einflusse jenseits der Berge folgend, wurde das slawische Spanien, Russland gewann Macht und Zukunft.

Die volle Selbständigkeit Russlands in dem Kampfe gegen Polen wurde vor den Mauern eines Klosters erkämpft. Dieses ist heute noch das größte im Reiche. Es liegt — die Mönche aller Zeiten wußten die schönsten Punkte für ihre Ansiedlung zu finden — siebzig Werkt vor Moskau in prächtiger Umgebung, an dem Saume dunkler Wälder, aus denen junge Birken wie matte Atlasstreifen hervorstehen.

Die Landschaft ist echt russisch: eine weite Ebene, die ein Flüsschen in seltsamen Windungen durchschlingt; in seiner Nähe kleine Seen, aus denen verwaiste Kähne geisterhaft schaukeln; große Bäche mit alten Weiden an schwermütigen Ufern; endlose Wiesen und dichte Pflanzungen von starken Baumstämmen, mannshohem Gestrüpp und üppigem Farrenkraut. Die ergiebigsten Plätze wurden bei festlichen Anlässen mit Weihwasser besprengt; dank dieser billigen Kultur ist ein Wald hier mächtig emporgewachsen, seine Eichen und Buchen verschlingen ihre knorrigen Äste malerisch zu der Kuppel eines grünen Domes, in dessen Bogengängen Amseln und Drosseln schmetternd ihre Lieder singen.

Aus dem höchsten Hügel dieser Naturschönheit steigt gleich einem kecken Raubvogel das Kloster des heiligen Sergius empor. Wie im Kreml von Moskau, erhält man auch an dieser Stelle ein Bild düsterer Vergangenheit, ja die Kontoren desselben sind gewissenhafter erhalten als in der nahen Stadt, welche die Wandlungen der Zeit nicht so entschieden abwehren konnte, wie die abseits liegende Waldeinsamkeit. Das Mittelalter — hier ist es voll lebendig; an diesen festen Ringmauern mit ihren zackigen roten Türmen, von deren Plattform zeitweilig noch der Hornruf eines mönchischen Wächters tönt, zerschellte nicht nur die Kraft der russischen Erbfeinde — auch der Gedanke der Neuzeit suchte vergeblich Bresche in sie zu legen. Dem Geiste des Zweifels, der die Wissenschaft geboren, wurde hier Halt geboten, das Tor, welches alljährlich Millionen von Pilgern Einlass gewährt, fällt rasselnd vor ihm nieder, als nahte ein Gegner, der nur einzutreten braucht, um diese steinerne Majestät in Schutt und Staub zu legen.

Troitzko-Sergijewsk hat, wie ein Obelisk in einem der Klosterhöfe verkündet, Russland zweimal gerettet; das eine Mal vertauschten die Mönche Psalter und Betbuch mit dem Harnisch und befeuerten die Bauern in ihrem Kampfe wider die Polen; das zweite Mal schützten die Äbte den jungen Peter, dessen nachmalige Größe ihr Scharfblick erkannte, wider die Anschläge der Strelitzen, dieser alten Garde der Reaktion.

Die Mönche von Troitzko-Sergijewsk erhielten zum Danke hiefür die religiöse Wunderfahne des großen Zars, die ihn auf all seinen Kriegszügen begleitet hatte. Sie lehnt heute unbeachtet in einer Klosterkapelle, ihr Holz ist wurmstichig und gebrechlich geworden, der Stoff zerschlissen, die Farbe seines Bildes verblasst. Sieht man diese bemalte Ohnmacht, dann staunt man, daß sie die Triumphe eines Genies wie das Peters I. fördern und ein anderes Genie, das Karls XII., vernichten half; kein Zweifel, die Macht der Fahne liegt im Glauben.

Das Nämliche gilt von dem Begründer des Klosters, dem die russische Kirchengeschichte den tönenden Namen „einer Fahne der Frömmigkeit“ gab. Er hat wie mancher Prophet vor und nach ihm als heiterer Lebemann begonnen; erst nach langen Kämpfen mit den Dämonen, deren Sieg darin besteht, besiegt zu werden, fand er, daß die Einsamkeit alle andere Schönheit übertreffe; er verzichtete auf Reichtum, Adel und Wohlleben und siedelte in ein armseliges Häuschen, dessen Strohdach zerrissen und dessen winziges Fensterchen trüb und blind wie ein halbgeöffnetes Auge in die Landschaft blickte. Trotzdem entdeckte er den Quell der Prophezeiung, der einst im Orakel von Delphi und im Tempelhain der Daphne sprudelte, in seiner Nähe „Du wirst die Tataren besiegen“ weissagte er seinem Herrn. Der Wahrspruch wurde wahr, der beglückte Zar schenkte dem Propheten elf Dörfer, auf deren Boden sich mit der Zeit die Kirchenfestung erhob, zu der das Sergiuskloster angewachsen ist.

Troitzko-Sergijewsk ist das slawische Lourdes; wie dieses eine Zauberstätte; wie der kleine Pyrenäenort in Frankreich eine Fabrik wundertätiger Herrlichkeiten, die nach einem Worte Leo Tolstois nur den Erzeugern Gewinn bringen, wie Lourdes von Tavernen und Verkaufsstätten umgeben, deren Besitzer besondere Vorteile genießen. Als man in Russland daran dachte, die Sonntagsruhe gesetzlich zu ordnen, erhoben die Klostermönche Einspruch.

„Die Sonntagsarbeit,“ sagten sie, „bedeutet keine Sünde, wenn sie zur Ehre Gottes erfolgt.“

Die Zahl der Pilger, die jährlich nach Troitzko-Sergijewsk wallen, beträgt zwei Millionen, das Fünffache von jener, welche Lourdes aufweist. Dieser Zuzug wird mit anderen Mitteln herbeigeführt, als in dem französischen Wallfahrtsorte. Für diesen wird die Trommel der findigsten Reklame gerührt, der heilige Sergius wirkt still für sich; in Lourdes wurde der Boden aufgewühlt, erheben sich Teerassen von Marmor und gewaltige Kirchenbauten, überall ist ein phantastischer Sinn für Glanz und Pracht des frommen Apparates lebendig, Natur und Kunst sind ihm dienstbar — Lourdes ist opernhaft theatralisch, Sergijewsk schlicht-naiv.

Man verspricht hier keine besondere Heilmethode, welche Blinde Sehend, Lahme beweglich macht und Halbtote dem Leben wiedergibt, man lockt auch nicht die Reichen herbei; nach Sergijewsk kommt die Masse, pilgert nur die Armut.

Ihre garstige Livree ist die Tracht der Wallfahrer, die in endloser Zahl auf der breiten Heeresstraße zu den Klosterpforten drängen: Mann an Mann, Weib an Weib, Alt und Jung. In dem grauen Bauernkittel, den löcherigen Bastschuhen schreiten sie wie ein Heer von Notleidenden, ernst, schweigsam, mit einem bangen Ausdruck der Trauer hierher. Der Sack auf ihrem Rücken trägt ihre Nahrung: ein Stück Brot; ihre sonstige Habe ist gering, sie reicht kaum für die nötige Opfergabe an das reiche Kloster.

Während der Jagden der Großen und Mächtigen pflegt man das Wild dem sicheren Rohre zuzutreiben. Den Zutrieb dieser Menschen besorgt das Schicksal. Niemals haben sie launenhafte Forderungen erhoben, das Angenehme und Schöne der Welt blieb ihnen unbekannt, sie haben es an Fleiß und Ernst nicht fehlen lassen, rastlos mühten sie sich, das zu gewinnen, was sie Leben nennen, sie erschienen auch nie ungeberdig oder übermütig, sie küssten ehrfurchtsvoll die Hand, die ihnen übergeordnet ist, und doch hat sie Ungemach und Not regelmäßig Schiffbruch leiden lassen. Ein erbarmungsloses Mißgeschick verfolgte sie, die schwarze Sorge mit ihren blutigen Nadelstichen wich nicht von ihrer Seite. Was Wunder, daß ihr verhärmtes Antlitz sich beseligt verklärt, wenn die goldige Kuppel der Klosterkirche vor ihnen aussteigt. Hier vielleicht lächelt das Glück, hier vielleicht endigt Not, Jammer und Elend.

Und wenn auch dieser Traum sich nur als Traum erweist?

Die Pilger halten auf dem großen Klosterhofe an einer geweihten Quelle kurze Rast. Sie lagern zigeunerhaft vor geschwärzten Bottichen, in welche das heilbringende Nass geleitet ist. Gierig schlürfen sie es aus halbverfaulten Holzbechern, als netzte ein himmlischer Trank ihre Lippe. Das malerische Bild um sie her berührt sie kaum. Sie haben kein Ohr für das klingende Spiel des hohen Glockenturmes, der wie ein buntbemalter Riesenfinger zu dem blauen Himmel ragt, kein Auge für die Poesie eines kleinen Friedhofes, in dessen Boden der älteste Panslawist, Juri Krijanisch, und sein Nachahmer, Aksakow, von den Irrtümern des Lebens ausruhen, sie bemerken auch die zufrieden vorüberschreitenden Geistlichen nicht, die alle Rangstufen der Kirche veranschaulichen. Still und in sich gekehrt erwarten sie das Zeichen, dass der Gottesdienst in der Kathedrale beginnt, dann drängen sie erregt zu deren Tore. Paarweise dürfen sie eintreten. Ein geheimnisvolles Dunkel, das dicke Wachskerzen und unzählige kleine Talglichter kaum zu bewältigen vermögen, eine heiße, schwere Luft umfängt sie, fortwährend wirbeln blaue, kleine Weihrauchwolken aus Silbergefäßen empor.

In dieser schwachen Beleuchtung, welche die Gegenstände nur schwer erkennen läßt, tritt in einem Winkel das offene Grab des heiligen Sergius heraus. Chorsänger neben demselben, in finsteres Schwarz gekleidet, stimmen ein wehmütig klagendes Lied an. Sie fühlen, daß sie die Seele der Hörer treffen. Immer selbstbewusster, breiter und stimmungsvoller schwillt die Kraft ihrer tönenden Bassstimmen an. Die gleichgültigen Tataren- und Scythengesichter beleben sich, in dem Auge der Frauen zittert eine Träne. Langsam, Schritt für Schritt, gelangen sie bis an den Sarg, über den eine scharlachrote, goldgestickte Decke gebreitet ist. Wer es wagte, sie zu heben, zerstört das Märchen dieses Klosters, daß unter dieser schwachen Hülle der Leichnam des frommen Sergius, unberührt von der Kraft der Verwesung, in blühender Frische fünf Jahrhunderte ruht. Aber keiner von den Gläubigen, deren Antlitz von andächtiger Seligkeit erstrahlt, wird das eigene Glück vernichten wollen.

Sie beeilen sich nur, während neben ihnen der Klingelbeutel rasselnd lärmt, demütig in die Kniee zu sinken, das Zeichen des Kreuzes zu machen, sich wieder zu erheben und mit demselben Zeichen sich wieder zu beugen, bis die Wächter unwirsch mahnen, daß es genug der Andacht sei.

Erweist diese fromme Pantomime, wie tief das christliche Gefühl im russischen Volke lebt?

Doch nur dem oberflächlichen Urteile.

Die Einführung des Christentums — die Büchereien von Troitzko-Sergijewsk geben hierüber lehrreichen Ausschluss — gelang in Russland ohne große Kämpfe. Die heilige Olga, ein Weib aus dem Volke, das die Frömmigkeit zu den Stufen des irdischen und himmlischen Thrones emporsteigen ließ, erschien zuerst um die neue Lehre bemüht. Ihr Sohn Swjatoslaw, eine geharnischte Natur, verteidigte das Herkommen.

„Meine Krieger würden mich verspotten, wollte ich unseren Glauben vernichten,“ meinte er abwehrend. Die Überzeugungsfähigkeit des Heidentums wurde schwächer.

Um das Ende des zehnten Jahrhunderts berief Großfürst Wladimir einen Ausschuß, der in „Ruhe und Frieden“ über den Wert der monotheistischen Religionen zu Gericht sitzen sollte. Dieser verwarf den Islam, weil er den Wein, „welcher der Russen Freude ist“, verbietet, er wollte von dem Judentum nichts wissen, weil es den Eintritt von einem blutigen Opfer abhängig macht; er fand den Ritus der katholischen Kirche zu einfach und zu rasch vorübergleitend — was ihn voll begeisterte, war der schwere Glanz und Pomp der Kirche von Byzanz. So wurde Russland orthodox, die alten religiösen Satzungen sanken im Werte, die hölzernen Idole mit ihren leuchtenden vergoldeten Bärten wurden in die Fluten gesenkt.

Waren sie hier für immer begraben?

Auf einem der Kongresse, die jetzt ja ungescheut die geistige Umnachtung anstreben, fachte ein Redner mit großer Inbrunst die von niemandem bestrittene Behauptung zu ermessen, „daß der alte Gott noch lebt“.

Aber auch die alten Götter starben nicht.

Seltsam, genug haben die Menschen, deren Auge sehen möchte, was ihr Herz glauben soll, immer sehnsüchtig zu ihrem Zauber hinübergeschielt. Das Volk, dem zuerst die Lehre von dem einzigen Gotte unter dem Donner Sinais verkündet wurde, beeilte sich, Götzen im Schatten dieses Berges aufzustellen, und ahmte die religiösen Missbräuche des Orients nach; die ersten Christen sangen die Psalmen Davids, die den Bilderdienst verspotten, wie ein stürmisches Kriegslied zu den Tempeln der Römer hinauf, aber sie wurden bald so empfänglich für die alten Irrlehren, daß schon früh — zu Beginn des vierten Jahrhunderts — in einem ganz lutherisch veranlagten Presbyter*) die Vorahnung des Reformationsgeistes erwachte; sehnsüchtig blickten damals die denkenden Geister zu einer früheren Epoche geistiger Strömungen zurück, in welcher der Jude Aristobul die Spuren des Dogmas vom einzigen Gott in den Allegorien der griechischen Glaubenslehre verfolgte, der Helene Philon die Ideen Platos als den Erweis für die Nichtigkeit monotheistischer Überzeugungen erklärte und die Stoiker ihre milde Weisheit predigten, die später im Evangelium ewiges Leben gewann.

*) Der Presbyter Bigilantius bekämpfte den Aberglauben der Mönche auf das heftigste, er geißelte standhaft den beginnenden Missbrauch mit Reliquien und Heiligen, wofür ihn der heilige Hieronymus mit der Hydra, dem Cerberus und den Zentauren vergleicht und ihn als Stimmführer des Teufels erklärt.

Es war zweifellos, daß die christliche Lehre eine siegreiche Gewalt über das Römerreich erstritten hatte, aber die Kette, die man abstreifte, schloß sich wieder, die religiöse Macht, die für immer vernichtet schien, wurde abermals lebendig — am lebendigsten in Byzanz. Vergeblich das Bemühen erleuchteter Fürsten, hier die Missbräuche eines heidnischen Christentums oder eines christlichen Heidentums zu mildern. In ihrer Nähe, in dem Kreise ihrer Familien und Frauen erhob sich der bigotte Verrat, der die vernehmen Absichten gegen den Bilder- und Götzendienst zerstörte.

Das Wesen dieses Kultes, der so wenig zurückhaltend Altes und Neues zusammenströmen ließ, brachten die griechischen Missionäre nach Russland. Seine Kirchenfürsten zeigten die Nachgiebigkeit ihrer hellenischen Vorbilder. Die mohammedanische Oberhoheit bedrückte den russischen Boden, unwillkürlich spielte mancher Brauch der Moschee in die orthodoxe Kirche; freudiger noch gönnte sie den altslawischen Traditionen Einlass. Ihre listigen Götter und Drachentöter schlichen sich in dünner Verkleidung in den christlichen Himmel. Die heiligen Georg, Michael und Nikolaus sind nur die Erben der heldenhaften Stribog und des Donnergottes Perun; Nikolaus, der beliebteste dieser Trias, ist — sehr bezeichnend für die Macht der heidnischen Überlieferung — nach der Meinung der russischen Bauern nur ein Vizekönig des Himmels, der Stellvertreter Gottvaters, der in einem Augenblicke ernstlicher Verhinderung oder Schwäche dem Nachfolger Peruns Szepter und Krone willig ausliefern wird.

In dieser naiven Glaubenssphäre ist natürlich Raum für den Zauberwahn des Altertums. Dem Muschik ist Gott der oberste Magier, Christus ein Zauberer, das Kreuzeszeichen die Abwehr böser Geister und ihrer Anschläge — er vermag nicht zu leben, ohne an die Wunderkraft der geweihten Dinge zu glauben, die zu den Heiligen in Verbindung stehen.

In einer Kapelle neben der Kathedrale zu Sergijewsk steht der Sarg, in dem mau zuerst die Leiche des heiligen Klostergründers entdeckt haben will. Span um Span, Stück um Stück brechen die Pilger aus dessen Holze, um ein sicher wirkendes Mittel gegen Zahnschmerzen zu gewinnen. Sieht man diese zahllosen Menschen wie Feldmäuse an den morschen Sargbrettern nagen, dann muss man glauben, daß dieselben eine geheimnisvolle Kraft, sich immer wieder zu erneuern, besitzen, da sie sonst unmöglich der fanatischen Zerstörungswut der Menge auf die Dauer widerstehen könnten.

In Moskau ersannen spekulative Köpfe eine hohe Taxe, für welche das Gnadenbild der iberischen Mutter Gottes außerhalb der ihm gewidmeten Kapelle wirken darf. In der Tat geschieht es nicht selten, daß man ihm in einer altmodischen, von vier schweren Rappen gezogenen Karosse begegnet. Es wandert zu einem Manne von Vermögen, der von dem Anblicke der iberischen Mutter Genesung von einer Krankheit oder die Erfüllung eines Lieblingswunsches erwartet. Vor Jahren erhob ein Kirchenfürst, der Erzbischof Ambrosius, Einspruch gegen diese Profanierung der heiligsten Verstellungen.

„Seid ihr krank, nehmt einen Arzt, wünscht ihr die Erfüllung von Plänen, tut, was notwendig erscheint, sie reifen zu lassen!“ rief er von der Kanzel seiner Gemeinde zu, welche gewohnt war, ihm andachtsvoll zu lauschen.

Das weise Wort weckte einen Sturm.

Der wilde Ruf: „Wir wollen unsere iberische Mutter! Steinigt ihn!“ erscholl in allen Straßen.

Die Kraft der Masse war erwacht. Sie ließ sich erst beschwören, nachdem der Wahnwitz der Empörten sein Opfer hatte und Ambrosius ermordet an der Schwelle eines Kirchentores lag.

Ein Steinwurf hatte ihn getötet.

Wo ist die Ursache dieser Stimmungen eines mehr leichtgläubigen als gläubigen Volkes? In seiner tiefen Unwissenheit? In seinem unabänderlichen Herkommen oder in den Einwirkungen einer erbarmungslosen Natur, deren endlose Ebene mit ihren Schrecken des Frostes, der Überschwemmungen und der fortwährend sich erneuernden Feuersgefahren die Geister der Menschen in ein traumhaft-mystisches Dunkel hüllt?—

Kunst und Witz des Handels haben in Russland hohen Anwert, die ersten Landesfürsten waren kluge Kaufleute, die den Vertrieb aller Bodenerzeugnisse in ihrer Hand vereinigten. Ihr Geschäftsgeheimnis war bald ihrer Umgebung — der weltlichen wie der geistlichen — verraten. So ist auch schon vor langer Zeit Troitzko-Sergijewsk als Handelsplatz berühmt geworden; es hat seine Jahrmärkte, die an die Verkaufsstätten neben den Tempeln und Hainen der Heiden erinnern. Vor den Klostermauern türmen sich zur Marktzeit auf einer Fläche, die der Blick kaum zu umspannen vermag, Berge von ineinander geschachtelten Gefährten auf, welche die reichen Besucher hierher brachten.

Diese finden hier einen großen Getreide-, Woll-, Kleider-, Pelz-, ja selbst einen Rossmarkt, zu dem Juden und Zigeuner so hoffnungsselig herbeikommen wie die Pilger, deren Seelenwunde nach den Tröstungen des Klosters verlangt. Die Mönche erbauten, um den Marktbesuch zu fördern, Schenken und Wirtshäuser, in denen im Stile des Mittelalters ihre Knechte den Dienst versehen. Dem modernen Komfort gewährten die frommen Brüder vorläufig keinen Einlass, die Stuben dieser Klosterhotels sind weiß getüncht, die Einrichtung ist von derbknorrigem Holze, die Mauern zeigen keinen Schmuck, nur in den Zimmerecken grüßt auf versilbertem Metallbelag ein schwarzes Marienbild, zu dem ein bescheidenes Lämpchen glühend aufschaut.

Es pflegt hier niemals hoch herzugehen, wiewohl Bier und Wein, Kwas und Wodka reichlich geschenkt wird. Das Phlegma der Wirtsleute, das Erscheinen der Popen und Mönche, die wie Büßer durch die Reihen der Gäste schreiten, die Nähe der Kirchen, deren Glocken und Sang fortwährend vernehmlich bleibt, schaffen eine angsterfüllte Stimmung, die an die von Lourdes gemahnt, heitere Töne fehlen, die Farben des Lebens erscheinen gedämpft, wie unter einem schwarzen Schleier.

Gleich Lourdes hat auch Sergijewsk seine Magazine, in denen nur Priester schalten. Sie haben Mühe, dem Andrange zu begegnen, wiewohl alles mustergültig geordnet ist und jeder Zweig der frommen Fabrikation seine besondere Abteilung hat. Es gibt Läden für geweihtes Brot, andere für heiliges Öl, wieder andere für Schnitzereien ans Zedernholz, für Amulette und Heiligenbilder.

Die Presse steigen von einer Kopeke bis zu fünf Rubeln; das Kloster nimmt nach einem gewissen Gleichheitsprinzip immer denselben Gewinnsatz, aber die billigsten Gegenstände sind die einträglichsten. Sie locken die Masse. Überall zahlen die Pilger freudig, was von ihnen gefordert wird — wo gäbe es auch noch eine Ware, die gegen Sturm und Wetter, Krankheit und Not, ja selbst gegen Neid und Übelwollen der Menschen schützt und die ungläubigen, die ihrem Zauber misstrauen, mit Strafen für diesen Frevel bedroht? Auch Druckwerke gelangen in einem schmucken Bücherladen zum Verkaufe: fromme Literatur und kleine Flugschriften „für Analphabeten“, denen dringend angeraten wird, lesen zu lernen.

Die Kirche ist in Russland, wo das Volk von so krasser Unbildung ist, auf dem Standpunkte der Mönche Karls des Großen, sie selbst empfiehlt einen von den Popen zu regelnden Schulzwang, nur die Gebildeten möchte sie — wie dies einst Julian der Apostat zum Verderben der Christen wollte — aller Quellen der Wissenschaft berauben und auf die heiligen Bücher beschränken*).

*) Julian bemerkte geringschätzig in einem seiner Edikte, das sich unter seinen Briefen (XLII) befindet, daß Menschen, sie das Verdienst unbedingten Glaubens preisen, auf die Vorteile der Wissenschaft keinen Anspruch haben, und wollte, daß die Christen, da sie sich weigerten, die Götter der römischen und griechischen Klassiker anzuerkennen, sich auf die Weisheit des Lukas und Matthäus beschränken sollten. Es wurde ihnen infolgedessen verboten, zu lernen und zu lehren. Die Christen nahmen zu dem Auswege Zuflucht, Bücher für ihre eigenen Schulen zu verfassen. Apollinaris versuchte christliche Nachahmungen des Homer, Pindar, Euripides und Menander. Die ersten Theologen waren noch nicht unwissend und fanatisch genug, in der Bildungslosigkeit ein Heil der Menschen zu erblicken.

Die Mönche in Troitzko-Sergijewsk verkaufen nur eigenes Erzeugnis. Neben dem Seminar und den Klosterschulen, wo die künftigen Popen, Äbte und Bischöfe noch jugendfrisch, mit lockigem Haar und voll Hoffnung für die Zukunft auf der Schulbank sitzen, stehen die Fabriken des Klosters. Hier wird gemodelt und gemalt, geprägt und geschnitzt, auch der goldgelbe Teig des geweihten Brotes geknetet und gebacken. Die Schwarzen Gesellen stehen unter einer unerbittlichen Zensur. „Nicht allein das Werk, auch der Wandel seines Schöpfers sei wohlgefällig,“ besagt ein altes Klostergesetz.

Nur die Chorsänger genießen des Vorrecht größerer Freiheit. Sie sind Künstlerblut und die Schoßkinder der Pilger wie der Mönche. In der Speisestunde der letzteren würzt die Harmonie ihres Sanges das Mahl im Refektorium. Dieses bildet den ältesten Flügel des Klosters: ein plumper Bau aus Stein und Ziegeln, die phantastischen Schnörkel seiner Außenwände tauchte der farbenfreundliche russische Stil in die grellste Tünche. Im luftigen Saale speisen die Geistlichen an drei langen hufeisenförmigen eichenen Tischen aus irdenen Schüsseln; der Wein fließt nur spärlich aus alten hohen Krügen. Auf einer Galerie in schwindliger Höhe ist der Platz der Sänger. Ihre Köpfe stoßen an die Decke, die ein Bild von keckem Schwunge ziert. Der Künstler, aus der einst berühmten Schule des Klosters, der es schuf, war ein Ironiker; neben den geistlichen Werk- und Verkaufsstätten malte er Jesum, wie er zornerfüllt die Krämer aus dem Tempel jagt.

Niemand versteht diese Bildersprache. Die Menge sieht nur die Mönche, die, wie einst die Heerscher, vor zahlreichen Zuschauern speisen; sie lauscht nur dem Tafelliede, das bald heiter, bald schwermütig die Seelen seiner Hörer zwingt.

Der Ruf dieser Sänger ist wohlverdient. Es ist mancher Künstler unter ihnen, freilich auch mancher Ekkehard. Seine Hadwig wohnt drüben in Moskau in einem reichen Kaufmannshause, dessen Besitzer nur Herz für Ziffern hat. Während er sich müht, Million auf Million zu häufen, schleicht seine unverstandene Gattin in das Waldesgrün von Sergi-Troizkaja, wo allem mönchischen Gelübde zum Trotz die unsichtbar wirkenden magischen Kräfte weben, welche die ewige Lust der Liebe wecken. . . .

Der Gewinn aus den klösterlichen Industriezweigen ist groß.

„Das Brot allein, das die Reichen in Moskau als Teegebäck sehr schätzen,“ erzählt meine Cicerone, „bringt alljährlich hundert- bis hundertzwanzigtausend Rubel. In früheren Zeiten hat es nur tausend bis zweitausend Rubel getragen. Unser Geschäft wird immer besser.“

So wachsen hier Reichtum und Wohlstand.

Davon erzählt am lebendigsten die Schatzkammer. Geschmeide, Weihgeschenke, Diademe, Bildwerke von Edelsteinen, geschliffene Achate, in denen wundersame Farbenspiele die Vertrautheit der Natur mit der heiligen Geschichte erweisen sollen, Messgewänder, Goldbarren, Reife und Perlenschnüre vereinigen sich hier zu einem Gesamtwerte von Sechshundertfünfzig Millionen!

Schon die christlichen Prinzessinnen von Byzanz bereicherten diese schillernde Sammlung; die wertvollsten Gaben stammen von den Zarinnen, die wie Heldinnen Sacher-Masochs: schön, im Pelze, mit liebeswarmem Herzen und der Peitsche in der Hand, durch die Geschichte Russlands Schritten. Sie stickten allerlei Gewänder für das Kloster, bei denen nicht Wolle, sondern Brillanten und Perlen, welche die Gabe zierten, die Hauptsache waren.

Voltaire, der die große Katharina sehr bewunderte, meinte, wenn von dem Tode ihres Gatten die Rede war, mit abwehrendem Lächeln: „Das sind Familiengeschichten.“

An ähnliche Geschichten erinnert viele Pracht dieser Schatzkammer. Die Lilienfinger, aus denen sie hervorgegangen, wußten nicht nur kleine Sticknadeln, sondern viel schärfere Instrumente flink in Bewegung zu setzen. Wenn diese am sichersten getroffen hatten, dann kamen die kostbaren Bußgewänder hierher, um eine schwere Sünde aus dem Buche der Schuld zu tilgen.

So ungescheut sich diese Pracht dem harmlosen Besucher erschließen darf, so mißtrauisch wird sie dem Auge der Mächtigen entzogen. Diese Vorsicht ist berechtigt. Die Einkünfte des Klosters wurden oft beschränkt. Peter I. schmälerte sie auf die Hälfte, Katharina II. nahm, als die Zahl der Leibeigenen von Troitzko-Sergijewsk auf hundertzwanzigtausend gestiegen war, fast all seinen Grund und Boden, und es ist noch gar nicht lange her, daß ein Kaiser hier eine Anleihe von erschreckender Höhe machte. Dies war Nikolaus I., den der Erzbischof von Moskau, Philaret, als oberster Verweser des Klosters durch die Schatzkammer begleitete.

„Ihr seid sehr reich,“ meinte der Kaiser, „wie diele Pracht bezeugt, ich aber bin daran, einen Krieg zu beginnen und brauche Geld. Ihr werdet die Summe meinem Finanzminister zur Verfügung stellen, die dieser euch bestimmt.“

„Das können wir nicht,“ gab Philaret mit verhaltenem Grolle zurück, „nicht wir sind reich, wir sind arm und verwalten nur Gottes Gut. Es ist unerlaubt, dieses zu berühren.“

„Wer sagt das?“ flammte der Kaiser auf.

„Gott!“ antwortete Philaret.

Der Kaiser schien betroffen.

Diesem Philaret hatte Alexander I. seine letzten Verfügungen anvertraut, welche die Erbfolge zu Gunsten des jüngeren Bruders Nikolaus abänderten; sein Geheimnis, sein Glück, seine Zukunft hatten lange in der Hand des Erzbischofs von Moskau geruht.

„Gott!“ wiederholte Philaret, „und das Anathema seiner Kirche trifft den, der sein Gut an sich reißt.“

„Meinst du?“ erwiderte der Zar, der seinen Stolz und seine gewohnte Haltung wieder gefunden hatte.

„Meinst du das wirklich? Aber es handelt sich nicht um sein Gut, denn das Kloster ist mein wie euer Schatz und euer Geld, wie euer Boden, wie ihr und wie du selbst. Dies alles und ihr alle gehöret mir!“

Nikolaus erwies sich als der Mächtigere. Die Troitzkaja Lawra hat viele Millionen zu dem Kriege mit den Verbündeten beigesteuert. Heute ist das Verhältnis der Autoritäten von Staat und Kirche ein anderes. Die Kirche fühlt die Macht ihrer Feinde; sie allein ist zurückgeblieben während aller geistigen Bewegungen in Russland; der Unglaube, die Macht der Sekten bedrohen sie gleich stark. Der Nihilismus, der in jedem Russen lebt, verschont auch den Himmel nicht. Die Mode spöttischen Zweifels in religiösen Fragen ist sehr verbreitet; Denker wie Tolstoi lehrten die weniger Vorgeschrittenen einen gläubigen Unglauben. Ihre Philosophie wurzelt in den Anfängen des Christentums, in Auffassungen Aristobuls, Philons, Epiktets. Wenn dieser die Rückkehr zur Einfachheit forderte, verlangte er kaum anderes als Tolstoi; die Liebe, die er predigte, ähnelt der, welche die Gemeinden des Einsiedlers von Jasnaja-Poljana begeistert; für das Prinzip des alten Stoikers, „daß Leben dulden heißt“, gehen die Heldinnen Tolstois wie Dostojewskis in den Tod.

Die Bedeutung ihrer schwärmerischen Anhänger steigt fortwährend wie die der Sekten; die Zahl der altgläubigen Naskolniki ist so groß, daß man sie gesetzlich anerkennen muß. Sie bestreiten die Rechtmäßigkeit der orthodoxen Kirche auf das leidenschaftlichste, sie schließen Zivil-Ehen, sie sterben, ohne die letzte Tröstung zu empfangen, nur um die geistliche Hilfe eines orthodoxen Priesters von sich zu weisen. Der Reichste der Reichen in Russland, der Fabrikant Morosow, dessen Großmut die berühmten Moskauer hygienischen Anstalten der Hochschule errichtete und für deren Erhaltung fünf Millionen spendete, verfügte letztwillig, daß seine Lakaien ihn zu Grabe tragen, damit seine Leiche nicht durch die Hand eines falschen Priesters entweiht würde. Die orthodoxe Kirche kennt diese Gegner und beugt sich in banger Sorge vor ihrer wachsenden Kraft demütig vor dem Staate. Seit Alexander III., der in die reaktionärsten Netze ging, findet sie mächtigen Schutz; selbst ihrem Anspruche an den Wunderglauben erteilt die Regierung volle Billigung.

In Tschernigow wollten jüngst Mönche, während sie alte Gräber aufwühlten, unter moderndem Gebein den Leichnam eines Einsiedlers Theodosius in jener Frische entdeckt haben, die als Merkmal der orthodoxen Heiligkeit gilt. Man erstattete dem Synod Bericht über Fund und Wunder, die bei diesem Anlaß gläubige Seelen in Verzückung brachten. Eine Untersuchung wurde angeordnet, und in dem Jahrhundert, das trotz aller Siege über die Kräfte der Natur nicht das der Aufklärung sein will, erschien ein Ukas Nikolaus' II., der die Heiligsprechung des Theodosius, die Wundermacht seiner Gebeine, die Notwendigkeit, an seiner Bahre ein neues Mekka zu errichten, von Staatswegen anerkennt.

„Man war zu leichtfertig bei dieser Untersuchung,“ meinen die Mönche von Sergijewsk in jener milden Heiterkeit, die ihr Wort umkleidet. „Was soll ein Theodosius in Russland, das einen Sergius hat? Die Konkurrenz ist zu ungleich. Sie wird uns auch nicht Schaden. Was tuts, daß die iberische Mutter in Kiew keine Gläubigen hat; in Moskau verliert sie ihre Anhänger nicht und sie wird noch viel Gutes tun und manchen Frevel hindern!“

Die Neigung zum Mönchsleben ist so mächtig in Russland, daß die Klosterhallen der Troitzkaja sich bald zu klein erwiesen; die Zahl der mönchischen Ansiedlungen in seiner Nähe war unablässig im Wachsen. Die berühmteste von diesen heißt Gethsemane, wo vor Jahren Einsiedler ihre Höhlen unter die üppigen Wiesen gruben. Die benachbarten Mönche erschienen ihnen als Genussmenschen, in das Leben des Anachoreten sollte ihrer Meinung nach kein Lichtstrahl dringen.

Es gilt noch heute als gottesfürchtig, ihre Zellen zu besuchen, neben denen unterirdische Kapellen den frommen Bedürfnissen der gläubigen Pilger Genüge tun. Vorsichtig, gebückt, Stuf’ auf Stuf’ ab an mächtigen Säulenstützen und Erdwänden vorüber, von denen das Wasser herunterrieselt, wallt man, eine brennende Kerze in der Hand, in diese weihraucherfüllte Unterwelt. Der Führer in härenem Gewand, mit Sandalen an den nackten Füßen, schreitet voran, seine Pechfackel erhellt die Qual der einstigen Bewohner dieser Kammern.

„Unsere Einsiedler nehmen damit nicht mehr vorlieb,“ meint er lachend, während er die Tür zu der tiefsten Zelle aufstößt, die sich m eine aussteigende Felswand gebohrt hat.

Wirklich führen die Mönche von heute in einem geräumigen Kloster oder in kleinen Cottages, die sich dem modernen Villenstil nähern, ein ungleich besseres Dasein. Das hat ihren Ruhm nicht geschmälert, und die Gläubigen suchen ihren Rat, wenn Sie vor verschlungenen Pfaden des Lebens oder vor verwickelten Geschäften desselben stehen. Der berühmteste dieser Brüder, in denen die patriarchalische Überlegenheit der Erzväter und die kluge Geschicklichkeit der wahrsagenden Magier fortlebt, ist der heilige Warnawa.

Er ist die Zugkraft Gethsemanes. Geduldig harrt die Menge vor seinem Tor, ein Wort, ein Lächeln, ein Blick von ihm genügt ihr. Ich darf ihm an der Seite eines seiner Freunde nahen; der Prophet hat uns kaum erblickt, und schon kommt er lächelnd und bahnt uns freundlich eine Gasse durch die gaffenden Menschen. Ein Fremder in diesem Bereiche genießt die Vorrechte der Hochstehenden.

„Sie stammen,“ meint Warnawa, „aus Österreich — seltsam, aus Österreich, Sie sind der Erste aus diesem Laude, den ich sehe; Franzosen, Engländer verirren sich häufig hierher, Deutsche oder Österreicher nie.“

Er öffnet die Tür seiner Wohnung, deren Fenster die Aussicht zu einem hübschen Gärtchen erschließen, in dem junge Blüten duften, ein paar Fruchtbäume ihre schweren Äste zu Boden neigen, kleine Gemüsebeete die Nahrung ihres Besitzers reifen lassen und hohe Bienenkörbe aus üppigem Gesträuche herausragen. Die Wohnung des Mönches ist behaglich geschmückt, ihr Mittelpunkt ein hoher Lehnstuhl mit allerlei Schnitzwerk, dem gegenüber ein Zeisig, unermüdlich zwitschernd, in seiner Käfigzelle auf und nieder hüpft. Vergleicht man diese von der stillen Poesie der Genügsamkeit verklärte Stätte mit jener der mönchischen Troglodyten von ehedem, die ohne frischen Atemzug, ohne jegliches Gefühl für die edelste Empfindung des Menschen, ohne Sinn für die Freiheit ihr Leben verdämmerten, dann lernt man an dieser öden Stätte einer russischen Einsiedelei erkennen, daß die Welt vorwärtsdrängt, und daß die Zeit die finsteren Mächte, die ihren Fortschritt zu hemmen suchen, ebenso unbarmherzig zermalmen wird wie die gewissenlosen Streber, welche ihnen Vorschub leisten.

Warnawa ist ein hoher Sechziger, trotzdem ist sein Haar noch braun, in dem langen Barte, der zur Brust herniederreicht, schimmert kein weißes Fädchen, sein Gang blieb frisch und aufrecht; der Mensch lebt vielleicht doch besser für sich allein als in Gesellschaft, die ihm das Gift in lockender Hülle reicht.

„Wie kamen Sie in diesen stillen Kreis?“ frage ich unbefangen den Einsiedler.

„Ich bin das Kind eines Leibeigenen,“ erwidert er, „Selbst als Leibeigener geboren. Als Knabe zeigte ich Lust, lesen zu lernen. Ich war beklommen und voll Sehnsucht jedem Buche gegenüber. So geriet ich in die Klosterschule. Eines Nachmittags nach der Vesperzeit fiel der Blick Philarets auf mich. Mein Glück war gemacht; ich erhielt heilige Bücher, kam hierher und hier werde ich wohl bleiben, so lange es Gott gefällt.“

„Und die Menschen, die Ihnen so drängend nahen, was erhalten sie von Ihnen?“

„Nichts. Einen Rat, den meine Erfahrung eingibt; Kaufleute, die vor großen Geschäften stehen, Ehepaare, die sich entzweien, junge Menschen, die nicht wissen, ob sie heiraten sollen, kommen und fragen, wie sie zu handeln haben; ich höre sie, prüfe die Dinge und rate, was mir mein Gott eingibt. Oh, die Menschen kommen weit her, sie schreiben wohl auch. Da Sehen Sie.“

Der Mönch deutet aus seinen Schreibtisch, auf dem unter frischen Blumen zahllose Briefe, eröffnete und uneröffnete, Fragen und Antworten liegen.

„Sie bemühen sich sehr um die Gläubigen Ihrer Kirche?“

„Nicht nur um diese. ,Der Himmel gehört allen, die ihn Suchen‘, lehrte uns Christus. „Wer hätte ein Recht, jemanden ausschließen zu wollen. Zu meiner Gemeinde zählen Armenier, Tataren, Katholische, Juden und Türken; vor dem Priester sollen alle gleich sein. Ist das bei Ihnen nicht so?“

Diese Frage soll das Gespräch wohl nur auf das Gebiet des Persönlichen wenden, denn ohne eine Antwort abzuwarten, fügt der Prophet neugierig-forschend hinzu: „Aber was ist Ihr Beruf?“

„Ich Schreibe in eine Zeitung, die jenseits der russischen Grenze erscheint.“

„In eine Zeitung? So — dann gebe Ihnen Gott, der gerecht ist, gute Einfälle und freundliche Leser.“

Ähnlich harmlose Wendungen, von einem Abschiedssegen begleitet, genügen den Frommen. Warnawa ist keiner von denen, die täuschen wollen, kein lächelnder Augur, kein Kalchas, der unter den Gaben, die der Tag ihm bringt, die Blumen verächtlich bei Seite schiebt; er gehört zu jenem Heere der Einfältigen und Armen im Geiste, die bei aller Milde des Herzens die Holzstöße herbeitragen würden, wenn es der Kirche wieder beifiele, ihre Gegner auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.

In dem Gespräche mit dem Mönche ist der Tag gesunken. Die Schatten der Finsternis steigen auf, mit ihren Riesenarmen hält sie die Einsiedler, das Kloster und seine Umgebung umfangen. Kein Mondschein auf dem Himmel, die Sterne glanzlos matt und weit, die Gebäude wie finster zusammengeballtes Gewölke am Horizonte, die Waldbäume neben ihnen gleich Riesenpopen, denen lange Nebelschleier gespenstig vom Haupte fallen. Natur und Menschen liegen in tiefer Ruhe, die Glocken in den Kirchtürmen, Pilger und Mönche, selbst die Tiere Schlafen. Stille Nacht rings umher — keine ewige Nacht, wie es verzagt im Liebe heißt! Über ein Kurzes wird der Morgen grauen — die Sonne bricht aus dem Gewölk, und auch in diesem düstern Klostergebiete beginnt es hell zu tagen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen