Russland Geschichte
Das heutige Russland - Momentaufnahmen
Autor: Schütz, Friedrich (1845-1908) deutscher Journalist und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1897
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Geschichte, Land und Leute, Alexander II., Zahrenfamilie, Nikolaus II., Tolstoi, Judenfrage, Kirejew, Komarow
Inhaltsverzeichnis
- Land und Leute. — Geistige Strömungen. — Die Demonstrationen am Krönungstage. — Alexander II. — Sein Verfassungsprojekt.
- Die Zarenfamilie. — Nikolaus II.
- Das Ministerium. — Witte. — Lobanow. — Sein Tod. — Ferdinand von Bulgarien.
- Die äußere Politik Russlands. — Schischkin. — Li-Hung-Tschang. — Die chinesischen Bahnen. — Die Politik Lobanows. — Österreich und Russland.
- Bei Pobedonoszew.
- Die Presse und ihr Verhältnis zu Nikolaus II.
- Ein Tag bei Leon Tolstoi.
- Das russisch französische Bündnis. — Fürst Woronzow-Daschkow. — Die Slawophilen. — Im Schlosse von Pawlowsk. — Ein Gespräch mit General Kirejew.
- Nochmals die Slawophilen. — General Komarow. — Russland und die Czechen. — Die Judenfrage.
- Staat und Kirche. — Die Dreifaltigkeitskirche des heiligen Sergius. — Orthodoxe Glaubensströmungen. — Das slawische Lourdes. — Die Einsiedler von Gethsemane.
- Die polnische Frage.
- Die Deutschen. — England und Russland. — Die Polizei.
- Die Katastrophe auf dem Chodinkafelde. — Ihre Ursachen.
- Ein Wort über die Armee. — Schlussbetrachtung.
Vorwort
Die Photographie, sagt man, verdrängt die Kunst. Das ist gewiss beklagenswert, aber für die erwünschte Treue der Darstellung gibt es kaum Besseres als Momentaufnahmen, die mit dem ersten Eindrucke die Umrisse eines Bildes festzuhalten suchen. In diesem Geiste sind die folgenden Blätter während und nach der Krönung Nikolaus' II. entstanden. Eine erkleckliche Zahl vortrefflicher, auch berühmter Kollegen war damals nach Russland geströmt. Ein geistreicher Freund, der den Vertretern der Presse fördernd zur Seite stand, pflegte sie scherzend die „Gesandten der öffentlichen Meinung“ zu nennen.
Der Autor, als Berichterstatter der „Neuen Freien Presse“ in Russland weilend, wurde durch dies stolze Wort an die charakteristischen Schilderungen der verschollenen Gesandten Venedigs erinnert, die in ihren lebendigen, wahrheitsgetreuen, völlig absichtslos entworfenen Berichten anschauliche Bilder für künftige Geschichtsschreiber stellten. Wenn ein Teilchen ihrer Kunst für die russischen Momentaufnahmen gewonnen wurde, dann wäre das Ziel des Verfassers erreiche.
Er schrieb diese Aufsätze, die jetzt um manche Zugabe vermehrt erscheinen, zumeist in Petersburg, unterstützt von dem Rate und der Erfahrung einsichtiger Kenner Russlands, unablässig bestrebt, die Physiognomie des vielfach nach ungerechtfertigten Maßstäben und deshalb falsch beurteilten großen Reiches in sich aufzunehmen, lenkte er während seiner Arbeit naturgemäß den Blick zur Heimat. Nicht nur durch die Empfindung veranlasst, welche Geburt und Lebensgewohnheit einflößen. Die innere Lage Österreichs beschäftigt mehr, als man gemeinhin glaubt, die ernsten politischen Kreise. Es gibt — manche Erscheinung ließ dies wahrnehmen — trotz aller Schonung für die Empfindlichkeit eines Großstaates und die volle Berechtigung desselben, seine inneren Angelegenheiten zu ordnen, eine Art österreichischer Frage. Was sie zu ergründen und zu erforschen sucht, ist das Ziel der mächtig anwachsenden klerikalen Reaktion in Österreich. Ist diese erfüllt von den unheilvollen Tendenzen des siebzehnten Jahrhunderts, die mit dem Glauben der Protestanten Intelligenz und Volkskraft im Reiche Ferdinands II. für Menschenalter zerstörte? Strebt sie nach der Wiederkehr des Konkordates mit seinem geweihten Gesslerhut?*) Sie wird diesmal ihr Ziel kaum gewinnen. Nicht als ob es an der Förderung hiefür fehlte, es gibt der Mächtigen genug bei uns, die den Befähigungsnachweis für alles und jedes vom Beichtzettel abhängig wünschten; aber die Stellung Österreichs ist seit drei Jahrzehnten wesentlich verändert. Sein Verhältnis zu Ungarn, das nicht freiwillig in die Irrgärten der Klerikalen folgen wird, seine Abhängigkeit von internationalen Strömungen, die Beschränkung der pfäffischen Fürsprecher auf doch nur beschränkte Kreise des Donaureiches — werden dieses in eine gesündere Richtung zurückzwingen.
Österreichs neueste Krankheit, der Polonismus, sein Erbübel, der Einfluss der Beichtväter, der schon viele Länder und Kronen kostete, werden hoffentlich nicht hindern, daß der politische Wirrwarr, den die Hände der Jesuiten schüren, früher oder später zu Ende geht; die Österreicher werden würdig bleiben, Bundesgenossen des deutschen Volks zu sein, das seiner Natur nach nie aufhören kann, der Kultur und dem geistigen Fortschritt zu dienen.
Wien, im November 1896.
Friedrich Schütz
*) Ein Gesslerhut ist redensartlich eine Einrichtung, deren einzig sinnfälliger Zweck die öffentliche Erzwingung untertänigen Verhaltens ist. Der Legende nach ließ Hermann Gessler in Altdorf einen Hut aufstellen, den jeder Vorbeikommende zu grüßen hatte. Wilhelm Tell soll es versäumt haben, diesen Gruß auszuführen und sei deshalb zu jenem legendären Apfelschuss gezwungen worden, den Friedrich Schiller in den Mittelpunkt seiner Darstellung der Gründungssage der Schweiz stellte. Siehe dazu „Tell und Gessler in Sage und Geschichte“.
Ähnliche Werke
Das heutige Russland - Tolstoi von Karl Nötzel, 1915
Die Photographie, sagt man, verdrängt die Kunst. Das ist gewiss beklagenswert, aber für die erwünschte Treue der Darstellung gibt es kaum Besseres als Momentaufnahmen, die mit dem ersten Eindrucke die Umrisse eines Bildes festzuhalten suchen. In diesem Geiste sind die folgenden Blätter während und nach der Krönung Nikolaus' II. entstanden. Eine erkleckliche Zahl vortrefflicher, auch berühmter Kollegen war damals nach Russland geströmt. Ein geistreicher Freund, der den Vertretern der Presse fördernd zur Seite stand, pflegte sie scherzend die „Gesandten der öffentlichen Meinung“ zu nennen.
Der Autor, als Berichterstatter der „Neuen Freien Presse“ in Russland weilend, wurde durch dies stolze Wort an die charakteristischen Schilderungen der verschollenen Gesandten Venedigs erinnert, die in ihren lebendigen, wahrheitsgetreuen, völlig absichtslos entworfenen Berichten anschauliche Bilder für künftige Geschichtsschreiber stellten. Wenn ein Teilchen ihrer Kunst für die russischen Momentaufnahmen gewonnen wurde, dann wäre das Ziel des Verfassers erreiche.
Er schrieb diese Aufsätze, die jetzt um manche Zugabe vermehrt erscheinen, zumeist in Petersburg, unterstützt von dem Rate und der Erfahrung einsichtiger Kenner Russlands, unablässig bestrebt, die Physiognomie des vielfach nach ungerechtfertigten Maßstäben und deshalb falsch beurteilten großen Reiches in sich aufzunehmen, lenkte er während seiner Arbeit naturgemäß den Blick zur Heimat. Nicht nur durch die Empfindung veranlasst, welche Geburt und Lebensgewohnheit einflößen. Die innere Lage Österreichs beschäftigt mehr, als man gemeinhin glaubt, die ernsten politischen Kreise. Es gibt — manche Erscheinung ließ dies wahrnehmen — trotz aller Schonung für die Empfindlichkeit eines Großstaates und die volle Berechtigung desselben, seine inneren Angelegenheiten zu ordnen, eine Art österreichischer Frage. Was sie zu ergründen und zu erforschen sucht, ist das Ziel der mächtig anwachsenden klerikalen Reaktion in Österreich. Ist diese erfüllt von den unheilvollen Tendenzen des siebzehnten Jahrhunderts, die mit dem Glauben der Protestanten Intelligenz und Volkskraft im Reiche Ferdinands II. für Menschenalter zerstörte? Strebt sie nach der Wiederkehr des Konkordates mit seinem geweihten Gesslerhut?*) Sie wird diesmal ihr Ziel kaum gewinnen. Nicht als ob es an der Förderung hiefür fehlte, es gibt der Mächtigen genug bei uns, die den Befähigungsnachweis für alles und jedes vom Beichtzettel abhängig wünschten; aber die Stellung Österreichs ist seit drei Jahrzehnten wesentlich verändert. Sein Verhältnis zu Ungarn, das nicht freiwillig in die Irrgärten der Klerikalen folgen wird, seine Abhängigkeit von internationalen Strömungen, die Beschränkung der pfäffischen Fürsprecher auf doch nur beschränkte Kreise des Donaureiches — werden dieses in eine gesündere Richtung zurückzwingen.
Österreichs neueste Krankheit, der Polonismus, sein Erbübel, der Einfluss der Beichtväter, der schon viele Länder und Kronen kostete, werden hoffentlich nicht hindern, daß der politische Wirrwarr, den die Hände der Jesuiten schüren, früher oder später zu Ende geht; die Österreicher werden würdig bleiben, Bundesgenossen des deutschen Volks zu sein, das seiner Natur nach nie aufhören kann, der Kultur und dem geistigen Fortschritt zu dienen.
Wien, im November 1896.
Friedrich Schütz
*) Ein Gesslerhut ist redensartlich eine Einrichtung, deren einzig sinnfälliger Zweck die öffentliche Erzwingung untertänigen Verhaltens ist. Der Legende nach ließ Hermann Gessler in Altdorf einen Hut aufstellen, den jeder Vorbeikommende zu grüßen hatte. Wilhelm Tell soll es versäumt haben, diesen Gruß auszuführen und sei deshalb zu jenem legendären Apfelschuss gezwungen worden, den Friedrich Schiller in den Mittelpunkt seiner Darstellung der Gründungssage der Schweiz stellte. Siehe dazu „Tell und Gessler in Sage und Geschichte“.
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