Das russisch französische Bündnis. — Fürst Woronzow-Daschkow. — Die Slawophilen. — Im Schlosse von Pawlowsk. — Ein Gespräch mit General Kirejew.

Das Bündnis mit Frankreich hat im russischen Volke weniger Wurzel, als das Ausland glaubt. Es ist populär in den großen Städten, in den höheren Schichten der Armee — in den übrigen Kreisen begegnet es kühleren Auffassungen. Die Russen fassen das Verhältnis zu ihrem Bundesgenossen wie eine Vernunftehe auf, eine wirklich warme Förderung findet es nur an den hervorragenderen Stellen. Dies erklärt, wenn hier nachdrücklich behauptet wird, daß die bestehende Allianz förmlich und schriftlich vereinbart ist und, daß sie wiederholt zu wichtigen militärischen Vereinbarungen Anlaß gab. Sei dem wie ihm wolle, sicher ist, daß zunächst Fürst Lobanow zu den entschiedensten Anhängern des Bündnisses zählte. Er war zu klug, um einen Preis für dasselbe rasch zu zahlen, aber er trat in allen Fragen, welche die französische Empfindlichkeit berühren, für ihre Ansprüche ein. Das ward ihm nicht schwer, denn er schwärmte persönlich für Geist und Wesen der Franzosen. Wenn er nach den ermüdenden Krönungsfesten nicht rasch ein Bad in der schönen Bergwelt der Pyrenäen aufsuchte, haben dies nicht seine Wünsche, sondern Sorge und Misstrauen veranlaßt, welche die Türkei, Kreta, die Drusen, Griechen und vernehmlich England hier hervorgerufen, von dem man überzeugt ist, es sähe nicht ungern, daß die Wirren am Balkan die Aufmerksamkeit von mancher ungelösten Frage in Asien und Afrika ablenkten—wenn Lobanow später trotz schwerer Krankheit Mühe und Plage einer großen Reise auf sich nahm, so hat ihm eine Hoffnung Erleichterung gewährt — die, Paris zu sehen und Frankreichs Luft zu atmen. Wie der Minister waren auch seine Räte überzeugte Anhänger der Allianz. Sie hat noch höhere Gönner. Fürst Woronzow-Daschkow, der Leiter des Haus- und Hofamtes, gehört zu ihnen. Als es galt, Alexander III. von der Notwendigkeit eines Anschlusses an Frankreich zu überzeugen, half Woronzow mit, die Schwierigkeiten wegzuräumen, welche dem neuen Kurs entgegenstanden. Sein Einfluss — damals groß — ist heute kein geringerer. Nikolaus II. tut wenig oder nichts ohne ihn. Einen Augenblick schien es, als sei Woronzows Stern erblasst; das Leichenfeld der Chodinka wurde ihm gefährlich. Zwei Parteien versuchten, die Schuld an dem Unglück einander zuzuwälzen, die des Gouverneurs von Moskau und die des Hausministers. Großfürst Sergius und Fürst Woronzow standen in heftiger Fehde widereinander. Der Minister forderte unbekümmert um die richterliche Untersuchung, die voraussichtlich erfolglos bleiben mußte, daß ein Prüfungsausschuss unter Leitung des Hofmarschalls Pahlen eingesetzt werde. Man hatte gegen die Beamten Woronzows heftige Anklagen erhoben, die Kommission sollte Klarheit bringen. Sie begann zu tagen; ihre Tätigkeit wurde rasch eingestellt. Der Großfürst hatte das Ohr des Kaisers gewonnen, der sich nach der Krönung mit seinem Schwager in die Einsamkeit eines kleinen Landgutes zurückzog. Woronzow gab seine Demission.

„Niemand wagt dem Kaiser die Wahrheit zu sagen, so will ich gehen,“ sagte er ganz unverhohlen.


Er galt als gestürzt und hatte seine Abschiedsaudienz beim Hofe bereits angemeldet.

„Er ist zu alt für einen jungen Herrn“. „Sein Wesen ist der Zarin nicht genehm,“ hieß es.

Das Blatt wendete sich plötzlich. Die Partie des Großfürsten ging verloren, er zog sich für kurze Zeit grollend ins Ausland zurück; Woronzow war wieder in Gunst. Seine Macht stieg, als nach dem Tode Lobanows dessen Einfluss in seine Hand geriet, er wurde die Seele der Politik — er zumeist war um den Zaren in der Fremde, er allein hatte sein Ohr, er mir lenkte seine Entschließungen. In Kopenhagen war sein Eifer so tätig wie in Balmoral und Paris. Fürst Woronzow ist kein Mann des Fortschrittes. Im Gegenteil. Die Ideen Alexanders III. erfüllen ihn. Seine Macht wurzelt in dem alten Hofe, die Zaren-Witwe Maria Feodorowna fördert ihn zumeist; er ist kein Freund der Deutschen, wie man sagt — er liebt die Franzosen, wie man weiß. Die Neigung für diese teilt der Zar vollständig. Dies konnte man schon während der vor Monaten geführten Verhandlungen beobachten, die dem Programme seiner Reise in die Fremde galten. Ein Besuch in Deutschland, dem nicht eine Begegnung mit dem französischen Staatsoberhaupte folgen oder vorangehen würde, erschien auch dem Kaiser gegen die Natur der bestehenden Verhältnisse. Seine Reise nach Frankreich wäre viel rascher beschlossen gewesen, hätte man nicht Garantien gegen revanchelustige Demonstrationen gewinnen wollen. Als diese gegeben schienen, war der Zar am eifrigsten daran, seinen Empfindungen für die Franzosen Ausdruck zu geben. Vor und in Paris. Er ließ keine Rücksicht auf das Vorurteil alter Etiquettenstandpunkte walten, er, der Autokrat, wollte unverblümt Frankreich und seinem Volke huldigen. Neben diesen sichtlichen Kundgebungen wirkten allerdings vorsichtigere bei Seite und insgeheim. Die französischen Würdenträger blieben nicht im Zweifel, daß der Kaiser nicht wünsche, Worte, die „Missverständnisse“ veranlassen könnten, zu hören. Auch Anspielungen nicht. Er war persönlich sorgsam um den Text jeder Ansprache bemüht; selbst die Scheinbaren kleinen Improvisationen, die seine stumme Freude unterbrachen, hat er gewissenhaft vorher zu Papier gebracht.

Es gibt trotzdem einsichtige Politiker, die nicht ohne Sorge die Nachwirkungen des kaiserlichen Aufenthaltes in Paris erwarten.

„Wir spielen mit dem Feuer,“ sagen sie. „Allerdings, es ist jetzt niemand in unseren maßgebenden Kreisen, der möchte, daß die französische Allianz einen offensiven Zug gewänne, aber bei Hofe hat in Russland zu allen Zeiten die größte Abneigung gegen kriegerische Experimente bestanden. ,Der Krieg ist etwas schreckliches; ich entsetze mich vor ihm, pflegte Nikolaus I. zu sagen, ,er verdirbt alles, auch die Armee!‘ Trotzdem hat dieser Zar Europa in die Schranken gerufen. In Russland ruht die öffentliche Meinung lange im Winterschlaf; dann erwacht sie und stürmt, wie im Rausch alles mit sich reißend, vorwärts. Alexander I., Nikolaus I., Alexander II. mußten, solchen Stimmungen weichend, gegen ihre Überzeugung zu den Waffen greifen. Alexander III. brachte minder blutige Opfer. Als ganz Russland der Meinung war, die Politik Bismarcks hätte es verraten, getauscht und benachteiligt, gab er die Einwilligung zu den Tagen von Toulon und Kronstadt.“

Solchen Befürchtungen steht die zuversichtlichste Haltung der offiziellen Kreise entschieden gegenüber.

„Der Charakter unseres Verhältnisses zu Frankreich,“ sagte mir ein früherer Mitarbeiter des Fürsten Lobanow, „ist ein friedlicher, er soll Europa seine Ruhe sichern, nicht es in Gefahren stürzen. Glauben Sie fest daran. Das russische Volk sowenig als seine Staatsmänner denken an eine Förderung französischer Kriegspläne. Die Franzosen wissen das sehr gut. Wenn sie an den Deutschen, Italienern oder Spaniern ihr Mütchen kühlen wollten, würden sie allein stehen“.

Das ist wohl mehr als ein diplomatisches Beschwichtigungwort und scheint den Ansichten der russischen Staatsmänner zu entsprechen, die als Vertreter einer „konservativen Macht“ zurückhaltend und maßvoll auf die Franzofen wirken. Dieser Einfluss bleibt durchaus kein einseitiger; auch französische Auffassungen beginnen in die russischen Strömungen zu dringen. Als Frankreich aus Haß gegen England an die Seite der amerikanischen Freiheitskämpfer trat, verursachte dies einen Umschwung in den Köpfen von Paris. In Russland ist das Bestehende viel zu zähe, als daß ein ähnlicher Gedankenprozess sich hier rasch vollziehen könnte, aber die Berührung mit dem freieren französischen Geiste wird doch fühlbar. In allen Schichten, auf denen der unsägliche Druck des letzten Regimes gelastet hat, beginnt man infolgedessen aufzuatmen; selbst der scheinbar so unerschütterliche Leiter der orthodoxen Kirche schlägt heute andere Akzente an, als zur Zeit seines verstorbenen, in allen Fragen des Rückschrittes so gelehrigen Schülers.

Dieser neue Geist regt sich auch in der einzigen politischen Körperschaft, deren Beratungen Russland ein Stück Parlament ersetzen — im Verein der Slawophilen. Die Vertreter dieser Richtung glaubten vor etwa einem halben Jahrhundert völlig neue Bahnen einzuschlagen. Taten sie das wirklich? Sie forderten eine Unterbrechung des westlichen Einflusses in Russland. Ist ähnliches nicht früher schon erstrebt worden? War die Tendenz der altgläubigen Reaktion gegen den kühnen Neuerer Iwan eine andere? Wollten jene bärtigen Altrussen im Nationalrocke nicht dasselbe, als sie Peter dem Großen entgegentraten und sich freventlich bemühten, sein unsterbliches Kulturwerk zu vernichten?

Nichts anderes als sie wünschten die Slawophilen mit ihrem Sehnen nach der Wiederherstellung überlebter oder ungenügend entwickelte Begriffe des Eigentums- und Autoritätsrechtes, mit ihrer Forderung nach Rückkehr zur Macht der Nationalkirche und zu der vollen Herrschaft des autokratischen Zars. Nein! Diese romantischen und christlichen Schwärmer waren keine Pfadfinder von erfinderischer Phantasie; was sie dachten, was sie predigten, was sie zu verkörpern suchten, war nur der alte Gegensatz zwischen Bildung und Bildungsfeindlichkeit, Vor- und Rückschritt, Europa und Asien, Petersburg und Moskau — ein Gegensatz, der häufig genug die heftigsten Erschütterungen in Russland herbeiführte. Es war erklärlich, daß ihr Programm von der Kirche gesegnet wurde — es verlangte ja ihre Herrschaft; es erschien ganz natürliche, wenn der Troß ihrer Anhänger kräftig anwuchs — das gesamte Reich der unwissenden war für sie, die den steigenden Einfluss des Geistes als eine Gefahr erklärten; es war kein Zufall, daß absolute Machthaber, wie Nikolaus I. und Alexander III. ihre Tendenzen als volkstümliche Schutzmarke benützten — sie blickten ja verzückt zu der härtesten Strenge des Absolutismus empor.

Die Slawophilen tauchten unter Leitung des älteren Aksakow gegen das Ende der Vierziger-Jahre auf. Man hielt sie anfangs für Gegner des Regimes. Eines Märztages im Jahre 1849 wurde der Begründer der neuen Schule festgenommen und ihm eine Darstellung seiner Tendenzen abverlangt. Diese Forderung wurde auf Befehl des Zaren Nikolaus I. gestellt, der sich bald darauf in das Studium der Bekenntnisse des neuen slawischen Apostels vertiefte. Kurze Randbemerkungen von seiner Hand gaben dem Aktenstücke eine Bedeutung, die es bis zum heutigen Tage bewahrt hat. Lernen wir es im Auszuge mit den Glossen des Zars kennen*).

„Nach meiner Meinung“, schreibt Aksakow, „ist die frühere Grundlage der Sozialen Ordnung im Westen ebenso falsch wie die heutige. (Richtig. Nikolaus.) Atheismus, Anarchie, Materialismus und die Macht der Proletarier waren nur die natürliche Folge hievon. (Sehr wahr. Nikolaus.) Der Katholizismus und jener garstige Egoismus seiner herrschsüchtigen Frommen, dem das echte Christentum widerstrebt (Gott sei gelobt dafür. Nikolaus.), haben nicht wenig beigetragen, solche Resultate zu zeitigen. Ein Glück für Russland, daß es die Bildung und die Kultur des Westens verabscheut und sich die Rechtgläubigkeit gerettet hat. Die Kirche ist uns rein geblieben, der Staat hat seine Grundlage in dem unbeschränkten Willen des Zars; gewiß, seine Regierung hat ihre Mängel wie jede menschliche Einrichtung (Leider. Nikolaus.), aber sie ist doch lobenswerter als unser Adel, der vom Volke losgelöst erscheint, seit die Ideen Peters I. und die Gedanken des Westens herrschend wurden; seither sind die Mitglieder unserer Aristokratie wahre Volksfeinde. (Es gibt wohl Ausnahmen. Nikolaus.) Ihre ,Vorurteilslosigkeit‘, wie man sagt ihr ,Glaubensmangel‘, wie man sagen sollte, verhöhnt den einfachen Volksinn, verspottet seine religiösen Überzeugungen (Da hätte die Polizei einzuschreiten. Nikolaus.), deshalb kann die Wiedergeburt Russlands nur durch das Volk ermöglicht werden. Dies die Überzeugung der Slawophilen. Sie beabsichtigen, die Beziehungen zu den westlichen Slaven zu pflegen; dieselben sollen aber über die bloße ,Teilnahme‘ an deren Geschick nicht hinausgehen. Mehr wollen wir nicht, denn wir wollen echte Russen bleiben. (Diese Teilnahme Soll nicht etwa zu einer Erhebung . gegen die Regierung benachbarter und befreundeter Staaten führen und auch nicht den Wunsch nach Vereinigung aller Slawen maskieren, die man von keinem Gewaltakte erwarten darf. Nikolaus.) Dem echten Russen ist jede Gewaltmaßregel verhaßt. (Ja, was ist denn eigentlich der echte Russe? Nikolaus.) Die Regierung unterstützt unsere Tendenz nach außen. In dieser Richtung erscheint die Lage Österreichs von besonderer Wichtigkeit; die Kraft der Deutschen ist daselbst im Niedergange, Österreich geht der Umwandlung in einen slawischen Staat entgegen. Das ist nicht erwünscht für Russland. Österreich könnte in einer solchen Neugestaltung die Südslawen an sich ziehen und Russland in seiner Mission, die orthodoxe Kirche zu verbreiten, hindern. Es ist also besser, wenn Österreich auf der Basis seines historischen Zustandes verharrt. Aus dieser Überzeugung geht hervor, daß das, was man Panslawismus nennt, von den Slawophilen nicht anerkannt wird. Wir halten ihn sogar für unmöglich. Seinen Absichten widerstreitet der Katholizismus, der in Böhmen und Polen herrscht, und die innere Kraft der westlichen Kultur-Ideen bei den dortigen, slawischen Völkern. Ihr Los läßt uns also eigentlich kalt und gleichgültig. (Das ist recht. Das andere wäre Wahnwitz. Gott allein kann bestimmen, was die Zukunft bringt. Was er auch beschließt, die Vereinigung aller Slawen unter einer Herrschaft kann nur zum Verderben Russlands sein. Nikolaus.)“ —

Geraume Zeit haben die Anhänger Aksakows an diesem Dogma festgehalten. Später wurden ihre Ziele allerdings erweitert.

„Der Slawische Verein,“ erklärte mir ein Kenner der Verhältnisse, „hat seine Prinzipien der Zeit angepasst. War die Regierung kräftig, so fand er es klug, vorsichtig zu erscheinen, war sie schwach, so schien er im Besitze der höchsten Macht zu sein. In Russland gewinnen Schlagwörter schnell Macht über die Geister, sie verlieren sie ebenso rasch. So bewegen wir uns hier fortwährend in Kontrasten. Es klingt nicht glaublich, aber es ist eine Tatsache, daß die fanatischste Ausprägung des slawischen Gedankens bei den Slawophilen ein Deutscher bewirkt hat, der verstorbene Professor der Literatur an der Petersburger Hochschule, Müller. ,Wir sind zu wenig slawisch!‘, zeterte er, und dieser Deutsche von Geburt erstritt hier die kräftigere Unterstützung der ,slawischen Brüder‘. Später dirigierte der Deutschenhass noch viel stärker in dem slawischen Vereine; man ist auch heute nicht deutschfreundlich geworden, aber man fühlt sehr wohl und mit richtigem Instinkt, daß die alten Phrasen abgedroschen sind, man beginnt, sich für neue Ideen zu begeistern.“

General Ignatiew ist der Leiter des slawischen Vereins. Er ist, wie so viele der hiesigen Würdenträger, augenblicklich auf Urlaub. Der Vereinsvorstand vollzieht die Geschäfte seines Vorsitzenden. Das einflussreichste Mitglied dieses dirigierenden Ausschusses ist General Kirejew. Er kennt den Entwicklungsgang der Slawophilen wie kein anderer. Im Hause seines Vaters fanden ihre ersten Versammlungen statt, an denen Chomjäkow, Kirejewski, Aksakow und Koschelew als die hervorragendsten teilnahmen. Damals war die Begeisterung für westliche Kultur in Russland noch Mode, selbst Katkow galt als enthusiastischer Anglomane. Niemand glaubte, daß den „Donquixoterien“ dieser jungen Leute die Zukunft gehöre.

General Kirejew bekleidet seit Jahren ein Hofamt, er ist der Bruder jenes höheren Offiziers, der zu Beginn des serbisch-türkischen Krieges als „Freiwilliger“ fiel. Dies Ereignis fachte in Russland eine so mächtige Erregung an, daß Alexander II. gegen seinen Willen genötigt wurde, der Türkei den Krieg zu erklären. General Kirejew war um jene Zeit Adjutant des Großfürsten Konstantin. Sein Einfluß war groß. Die ehrerbietige Festigkeit, mit der er in entscheidenden Momenten zu sagen wußte: „Mau müsse so und nicht anders handeln“, fand immer Beachtung. Er gewann auch als Schriftsteller einen Namen, seine gewandte Feder behandelte die verschiedensten Stoffe; unter den Kämpfern gegen die Proklamierung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit trat er als ein heiliger und ungewöhnlich belesener Streiter hervor, philosophische Fragen behandelte er mit Leichtigkeit und Geist. Als der Großfürst Konstantin starb, wollte man Kirejew in der Nähe von dessen Familie belassen. Er Hofmarschall der Großfürstin-Witwe an die Spitze ihres Hofstaates gestellt. Augenblicklich weilt dieser in dem geräumigen Schlosse von Pawlowsk, das, mehrere Meilen von Petersburg entfernt, auf ältestem Waldboden aufsteigt. Das grau getünchte Hans, von Säulengängen und Marmorstatuen der römischen Kaiser umgeben, ist von Paul I. erbaut. Vor dem Eingange zum Schlosse erhebt sich ein Monument, das au Friedrich II erinnert: sein Dreispitz, seine Haltung, ja auch sein Krückstock — nur ist der des Zars viel derber, mehr Masse als Stütze, eine Erinnerung an die herrische Strenge, die seinen Tod durch Mörderhand herbeiführte, um dies Monument gruppiert sich das Bild eines fürstlichen Sommerhaushaltes, das bei aller Einfachheit höfische Formen zeigt: lautlose Stille, die Fenster dicht verhängt, die Schlosswache voll gelangweilter Grandezza, in allen Ecken Diener, die gähnend vom Nichtstun ausruhen, auf den Höfen große und kleine Wagen, Reitpferde und Ponys, die, im Sande scharrend, die Enkel der Großfürstin erwarten. Im Innern dieses Schlosses sind zahlreiche Kunstschätze, die Geschenke der Könige aller Länder, aufgespeichert. Nicht in ihrem unschätzbaren Werte liegt der Reiz von Pawlowsk. Er steckt in dem großen Parke, dessen Bäume wie eine dichte Mauer das Schloß umfangen. Trianon mit seinen Bauernhäuschen, seinen Freundschaftstempeln, seinen Meiereien, seinem Hameau und den kleinen Teichen, die wie kluge Augen aus der grünen Landschaft blicken, war das Muster dieser Anlage, aber die Nachahmung gedieh im Stile jener kolossalen Massenhaftigkeit, der in Russland so sehr gefällt. Aus einer endlosen Fläche kreuzen sich breite Straßen, steigen bewaldete Höhen, mühsam herbeigeschleppte Felswände, künstliche Ruinen, phantastische Bauten und kühngeschwungene Brücken auf, dazwischen: leuchtende Blumenparterres, Wasserfälle, artige Bäche und lauschige grüne Plätze, deren Einsamkeit die seltensten Singvögel anlockt. Der allegorische Sinn des vorigen Jahrhunderts schmückte diese Landschaft mit den Nachahmungen aller erdenklichen mythologischen Bildhauereinfälle; auch an die jüngste Vergangenheit wird man hie und da gemahnt; auf einem Hochplateau, vor einem „Freundschaftstempel“ leuchtet das Marmorbild des alten deutschen Kaisers Wilhelm.

„Er war dem Großfürsten nahe verwandt,“ meinte im Tone der Entschuldigung mein Begleiter.

In einem der Säle dieses Schlosses empfängt mich General Kirejew. Er ist ein Mann, der die besten Jahre schon überschritten hat. Sein Haar und Schnurrbart mehr weiß als grau, der Blick ernst-milde, die Physiognomie voll Intelligenz wie die eines höheren deutschen Offiziers, die Haltung streng militärisch; er trägt den schmucken weißen Sommerrock der Armee, der nur eine Nachahmung des Leinenkleides ist, in welchem vor Jahrhunderten die russischen Krieger die Wolga herabfuhren.

„Sie sind Österreicher,“ sagt er mir, „und schon deshalb angenehm. Ich bin ein Stück Hofgeneral und hatte dadurch wiederholt Berührungen mit Ihrem Vaterlande, das letzte Mal zu Beginn der Siebziger Jahre; Kaiser Franz Joseph feierte damals sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als russischer Georgs-Ritter. Den Orden hatte er während des ungarischen Insurrektionskrieges[bewaffneter Aufstand oder ein Aufruhr gegen die bestehende zivile oder politische Autorität], wenn ich nicht irre, bei der Erstürmung von Raab erhalten. — ,Du musst nach Wien,‘ meinte nun damals, es war im Frühjahr 1878, der Zar Alexander II. zu meinem verstorbenen Herrn, dem Großfürsten Konstantin. ,Wir können das Georgsjubiläum des Kaisers Franz Joseph nicht ohne Glückwunsch vorübergehen lassen.‘ — ,Wirklich?‘ erwiderte dieser. ,In Osterreich hat sich ja so viel geändert; heute sind die Ungarn obenauf, Andrassy, der 1848 Verfolgte, hat die Macht in Händen.‘ — ,Alles eins,‘ antwortete der Kaiser, ,du musst doch hin.‘ — Ich galt als ein besonders guter Fechter. — Du wirkt deine Knust bewähren müssen,‘ scherzte man bei Hofe, denn auch die Ungarn führen eine gute Klinge.‘ — Wir reisten ab. In Wien fanden wir die Dinge anders, als wir erwarteten, insbesondere meine Fechtproduktion schien ganz unnütz. Eines Morgens erteilte Großfürst Konstantin in seiner Schönbrunner Wohnung Audienzen. Ein General in der roten Honved-Uniform trat in das Zimmer vor dem Empfangssalon, wo ich allein postiert war. Es war der Graf Andrassy. Er kam auf mich zu. — ,Wir waren einmal Feinde,‘ sagte er mir, ,vor fünfundzwanzig Jahren. Die Ungarn haben sich damals gut geschlagen, sie hatten alle Hoffnung, zu siegen, da warf der Zar Nikolaus sein mächtiges Schwert in die Wagschale. Wir waren nicht stark genug, diesem Gegner zu widerstehen. Mit dieser militärischen Erinnerung, deren sich kein Teil zu schämen hat, ist wohl der Gedanke an jene Zeit abgetan, nicht wahr?‘ — Er reichte mir die Hand, und ich habe sie herzhaft und kräftig geschüttelt.“

Nach diesem Rückblicke in die österreichische Halbvergangenheit scheint General Kirejew den Bereich der Politik vorsichtig meiden zu wollen, sein fesselndes Wort belebt mit unverkennbarer Vorliebe den historischen Geist des Schlosses und Erinnerungen an dessen Bauherrn, jenen sonderbaren tyrannenhaft-weibischen Zar Paul, der zuerst den Plan eines russisch-französischen Bündnisses entwarf, welcher beiden Teilen eine Machtstellung in Ost-Asien sichern sollte; es wird mir nicht leicht, den Zweck meines Besuches vorzubringen.

„Sie wollen,“ sagt der General, „eine Darstellung unseres Vereinslebens und die Charakteristik der Stimmungen, die es heute beherrschen? Nun ich bin einigermaßen berufen, diesen Wunsch zu erfüllen. Ich bin der älteste Slawophile. Also, zunächst einiges über die äußeren Umstände unserer Verbindung. Wir sind alles in allem vierhundertfünfzig Mitglieder; mit den Zweigniederlassungen in Kiew und Odessa steigt diese Ziffer auf achthundert. Das scheint wenig, aber es bedeutet doch viel, denn die Stellung unserer Genossen ist zumeist einflußreich; Metropoliten, Bischöfe, Generale zählen zu ihnen, und sie werden nicht müde, Gäste von Ansehen herbeizuziehen. So wurde es möglich, daß die Slawophilen wiederholt die Zukunft Russlands bestimmten. Der letzte Krieg war ihr Werk. Sein Verlauf hat vielfach klärend gewirkt. Wir sind heute stark bekehrt. Wir verabscheuen jeden Gedanken an Krieg und alles, was eine größere Umwälzung herbeiführen könnte. Wir wollen ruhige Erfolge und die Sicherung des Friedens. Die Grundlage unserer Überzeugungen ist nach wie vor eine religiöse. Unsere Kirche vertritt eine edle und moralische Weltanschauung in voller Reinheit und ermöglicht es auch dem Gebildeten, ihr treu zu bleiben. Ihre Gesetze sind seit fünf Jahrhunderten dieselben, kein Mensch vermag eines ihrer Dogmen zu ändern, das gibt ihr eine überirdische Kraft. Ich bin ein treuer Diener des Zars, meine religiösen Überzeugungen würde ich ihm nicht opfern. Auch der slawophile Verein hat in ähnlichem Sinne seine Tendenzen der Frömmigkeit; er ist weiter in der Absicht begründet, den slawischen Gedanken zu stärken. Sie fragen als Ausländer, wie das jenseits unserer Grenze möglich ist. Nun wir wissen, daß wir kein eigentliches Recht hiezu haben, und wir lassen durch diesen Umstand unser Vorgehen bestimmen. Was wir anstreben, ist, durch moralische Mittel die bestehende Individualität der slawischen Volksstämme zu sichern. Dieselbe kommt nach unserer Meinung in der Sprache wie in der Religion zum Ausdrucke; also in Überzeugungen, deren Verletzung der minder Gebildete schwerer verträgt, als der Höherstehende, der von kosmopolitischen und allgemein philosophischen Gedanken erfüllt ist. Wir möchten selbst unserer moralischen Unterstützung Grenzen setzen. Wir wissen nur zu genau, daß man uns Russen, sobald wir gewisse Vorstellungen erheben, einwenden kann: ,Und eure Polen?‘ Nun das, was mir diesen freudig gewähren wollten: die nationale Freiheit in ihrem ethnographischen Gebiete, das möchten wir für alle slawischen Nationen höherer Entwicklung gewinnen, aber natürlich, Attentate auf die Grundlagen des Staates, dem sie angehören, sollen ihnen so wenig als unseren Polen gestattet sein. Wir müssen übrigens zugeben, daß die slawischen Völker Russlands sich zumeist günstige Positionen erkämpft haben. Vollends in Österreich. Die meisten von ihnen haben Ursache zur Zufriedenheit. Nur die Stellung der Ruthenen [es handelt sich dabei um eine Bevölkerungsgruppe, die hauptsächlich in der Karpato-Ukraine ansässig ist] gibt Anlaß zur Klage. Wäre es nicht im Interesse Österreichs, daß die begründeten Ursachen derselben abgestellt würden? Ist es gut, daß der russische Ruthene von dem österreichischen Ruthenen, den er für seinen nationalen Bruder hält, von dem ihn nur eine schwache Grenzlinie trennt, fortwährend Äußerungen des Missbehagens hört? Ich frage das nicht als russischer Politiker, sondern als Slawe, der jedem Volksstamme die Möglichkeit der Kulturentwicklung und das natürliche Recht der Beschwerde gewahrt sehen möchte, — als Freund Österreichs, der mit aufrichtigem Bedauern die zunehmenden Wirren bei diesem Nachbar sieht. Man hält uns für beschränkt in unserem nationalen Gedankenkreise. Das sind wir nicht. Im Gegenteile. Wir fühlen, daß der nationale Gedanke in Europa an Kraft verliert, aber davon ganz abgesehen, wir haben nicht die Tendenzen Italiens oder Deutschlands. Bei uns bestehen ganz andere Voraussetzungen als dort. Wir wollen keine Annexionen, keine Eroberungen, auch auf dem Balkan nicht. Wir sind von der Lage, wie sie sich dort entwickelte — ich spreche natürlich nicht von den Punkten momentaner Verwirrung — befriedigt. Wir wollen dort nichts mehr, als daß die Entwicklung der neuen Staatengebiete völlig unbehindert bleibt, und daß kein Einfluss prävaliert [überwiegt]. Aber auch sonst sind wir inoffensiv. Wir stehen zu keinem Volksstamme in einem prinzipiellen Gegensatze. Auch zu dem deutschen nicht. Wir älteren Leute von Bildung sind Kantianer. Wir sprechen und hören gerne Deutsch. Wir verehren Goethe als einen geistigen Heroen und wir sagen uns, ein Volk, das ihn, Beethoven und Mozart hervorgebracht, soll nicht unser Feind sein. Ich leugne trotzdem nicht, die Zeit hat manches gebracht, was uns die Deutschen sehr entfremdet hat, in demselben Maße, als sie sich selbst von ihren schönen Idealstandpunkten entfernt haben. Politische Umstände, die Nachwirkungen der deutschen Siege kamen hiezu. Wir fühlen von diesen am drückendsten die Last des Militarismus und der Kasernenherrschaft, die auf Europa seit 1866 drückt. Ein russischer General kann das sagen, denn wir Russen sind kein eroberndes Volk. Trotzdem wir uns nach rechts und links, nach Nord und Süd ausgedehnt haben, ist das Friedensbedürfnis doch in unserem Blute gelegen. Der nationalste Zug in dem verstorbenen Kaiser war sein Streben, die Ruhe in Europa zu erhalten. Wir wollen auch nicht die Kultur über unsere Grenze tragen. Ganze Gebiete bei uns sind unbepflanzt, in vielen Bezirken häufen Wölfe. Wenn wir kultivieren wollen, so haben wir zu Hause genug zu tun, selbst auf der Strecke von Petersburg nach Zarskoje-Selo, auf der Sie zu mir hergefahren sind.“

„Und halten Sie eine Wiederkehr der früheren Beziehungen zu Deutschland nicht für möglich?“

„In unseren religiösen Meinungen liegt gewiß manches, was dem protestantischen Geiste verwandt ist, aber ich finde, der letztere kommt in der deutschen Politik nur mehr schwach zum Ausdrucke. Der Kanzler in Deutschland ist ein Katholik, und vor allem das katholische Zentrum ist dort übermächtig.“

„Wollen Sie sagen, daß Sie ein größeres Freiheitsmaß in Deutschland für wünschenswert halten?“

,,Sie werden mich sofort verstehen. Wir sind die natürlichen Gegner der Ultramontanen. Wir sind Feinde der Jesuiten. In Rom hat man wiederholt eine Wiedervereinigung der christlichen Kirchen angestrebt. Sehr kluge päpstliche Diplomaten suchten diesen Erfolg, zum Beispiel Vannutelli [1834-1915, Serafino V. war ein italienischer Kurienkardinal der römisch-katholischen Kirche]. ,Russland,‘ sagte man uns, ,willige in die Beendigung des Schismas, und der Zar wird die Stellung Karls des Großen und ein Weltreich gewinnen!‘ Wir würden gewiß nicht ablehnen, wenn der Katholizismus zu seiner ursprünglichen Reinheit, der Papst zu der Stellung zurückkehrte, die er einstens hatte. Was uns zunächst abstößt, ist die jesuitische Richtung. Gerade sie aber gewinnt überall immer mehr Einfluss, in Rom — gegen den Papst, in Europa mit Hilfe der Negierungen unter den verschiedensten konservativen Strömungen. Nicht zum Vorteile der Staaten, denn die Jesuiten sind nicht konservativ, sie sind die kühnsten Umstürzler. Wie kann ein Staatsmann dies einen Augenblick vergessen? In Deutschland liebäugelt man mit den Redemptoristen. Sind das nicht auch Jesuiten, die wie die anderen unter allen erdenklichen Masken das politische Leben verwirren? Der Jesuit aber und seine Proteusnatur sind die größte Gefahr! Das klingt banal und altmodisch, aber diesen Beigeschmack hat jede Wahrheit.“

„Oh! Ihre Meinung wird gewiß von Vielen geteilt werden.“

„Man sollte glauben, daß die Liberalen derselben Ansicht sind. Sie sehen ja, wohin der jesuitische Ultramontanismus in Österreich treibt. Wenn auch einzelne slawische Stämme daselbst ihm willig Dienste und Heerfolge leisten; so haben wir alles Interesse für sie verloren. Mit den Knechten der Jesuiten haben die Slawophilen gewiß nichts gemein. Wir bedauern das Anwachsen der ultramontanen Macht in Österreich auf das tiefste. Ich glaube, annehmen zu können, daß der Hof in Wien fromm, aber nicht ultramontan ist, und daß an gewissen staatlichen Überzeugungen desselben die Bestrebungen der Ultramontanen schließlich doch zerschellen werden. In meinem Gedächtnisse lebt eine Begegnung in voller Frische, die ich einmal mit der Mutter des Kaisers Franz Joseph, der Erzherzogin Sophie, hatte. Jedes ihrer Worte prägte sich tief in mein Gedächtnis, das Bild der noch im Alter schönen Frau mit dem sein durchgeistigten Kopfe steht bis zum heutigen Tage vor meinem Auge. Als ich die Ehre hatte, sie zu sprechen, war der Liberalismus siegreich in Österreich, man schwelgte in der Ära der Bürgerminister. Die Erzherzogin bedauerte die Niederlage der Konkordatsmänner damals eigentlich weniger als die öffentliche Meinung annahm. Sie war sehr gläubiger Natur, aber sie wollte trotzdem nicht den Staat zum Schemel der ultramontanen Macht erniedrigt sehen. Sie beklagte das Sinken des adeligen Einflusses mehr als den Sturz der kirchlichen Partei. ,Österreich,‘ sagte sie mir, ,war früher ein Verein von Ländern, in dessen Mittelpunkt der Hof stand. Zu ihm strebte der Adel aller Provinzen; hier wurden für denselben Beziehungen geschaffen, die für das Reich von größtem Vorteile waren. Die Esterhazy, die Schwarzenberg, die Ungarn und Böhmen wurden persönlich befreundet; das erleichterte der Regierung ihre Aufgabe, diese wirkte auf den Adel, wie der Adel auf sie. So patriarchalische Verhältnisse waren sehr gut, der Parlamentarismus hat das leider zerstört, und daraus entstanden schlechte Folgen für die Zukunft. Der Adel war der Kitt der Monarchie. Hoffentlich wird er es wieder‘, meinte seufzend die Erzherzogin, ,das wird ein Glück sein, denn seine Mitglieder verständigen sich doch leichter als der Bürger aus Reichenberg und der Bauer aus Tirol; ihr Einfluss, ihre Stellung kann vieles mildern, was sonst bei uns rasch eine Gefahr würde.'

„Offen gesagt,“ fuhr der General fort, „diese Auffassung erregte mein Staunen. Ich kannte den Adel, dessen Lob ich eben aus hohem Munde gehört. Ich wußte, daß zu seinen Kreisen sehr lebendige Naturen, schneidige Reiteroffiziere, mutige Soldaten, angenehme Lebemänner gehören, die Zahl der höher Veranlagten schien mir nicht groß genug, um Hoffnung und Zukunft eines Staates auszumachen. Nun ist seither der Adel wirklich wieder mächtig in den Vordergrund getreten, selbst die Wahlreform Österreichs scheint ihm allein Vorteil bringen zu sollen, und man glaubt ernstlich, dies sei auf die Dauer zu erhalten, und der Zug des allgemeinen Stimmrechtes einzudämmen? Wir hier hielten dies nicht für möglich — vielleicht weil wir demokratischer veranlagt sind als man meint. Weder Adel noch Bureaukratie haben einen ständigen Einfluss bei uns. Große Staatsakte haben die alte Rangordnung unserer Aristokratie zerstört, unsere vornehmen Geschlechter spielen seither keine Rolle mehr. Die untersten Elemente sind bei uns leicht emporgestiegen. Das Talent hat, wenn es sich einmal Geltung eroberte, eine außerordentliche Macht. Iwan gab einem Bauer Sylvester den höchsten Einfluss; von den Jesuiten und Polen hat uns gleichfalls ein Bauer, Minin, befreit. Der Zug unserer Geschichte ist nicht aristokratisch, und was die Tschinowniks anbelangt, weiß ja jedermann, daß wir einer Reform der Verwaltung dringend bedürfen. Peter I. hat den Polizeistaat begründet. Wir müssen sehen, ihn umzugestalten. Wie? Das ist das Geheimnis der Zukunft. Der Zar soll sein Volk nach unseren alten Bräuchen hören, allerdings das entscheidende Wort ist ihm allein vorbehalten. Vielleicht führt unser Weg zu dieser Versammlung mit konsultativen Rechten zu unserer Semstwo zurück. In der Hoffnung, daß es gelinge, hiefür eine ersprießliche Form zu finden, beschließe ich meine politischen Auseinandersetzungen.“

*) Russland unter Alexander III. von H. von Samson Himmelstjerna (Victor Frank). Leipzig, Verlag von Duncker & Humblot 1891.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen