Die Presse und ihr Verhältnis zu Nikolaus II.
Der Einfluss der Presse in Russland stammt ans der Zeit Peters des Großen; er war eben von einer Reise nach dem Süden zurückgekehrt, wo er zum erstenmal auf eine Naphthaquelle stieß. „Dies Mineral,“ meinte er prophetisch, „wird einmal die Welt erleuchten!“ Bald darauf ging er daran, zur „Erleuchtung seiner Tschinowniks“ eine Zeitung zu begründen: das Journal de St. Petersbourg. Der erste russische Leitartikel ist von Peter selbst geschrieben. Die Macht der Zeitung wurde damals von der des Thrones gefördert. Sie ist seither fortwährend gewachsen, unter Alexander I. war sie stark genug, den Zar gegen seinen Willen in den Krieg mit dem großen Napoleon zu drängen. Als 1812 die russischen Heere aus der beharrlichen Defensive in eine kühne Offensive übergingen, begeisterte ihr Führer Kutusow [(1745–1813), russischer Feldmarschall] das Offizierscorps für seine Pläne, indem er den Artikel einer kleinen Zeitung vorlas. Ihr Verfasser war Krylow, der Äsop [altgriechischer Fabeldichter] Russlands.
In dem schattigen „Sommergarten“ von Petersburg steht die Statue dieses Dichters, der seine Feder so oft in den Dienst des Tages gestellt. Man ist eben unter lebendigster Teilnahme der Bevölkerung daran, noch die Enthüllung mehrerer Denkmäler von Gesinnungsgenossen Krykows vorzubereiten. Das berührt sehr angenehm in einer Stadt, die man im Westen fast ausschließlich von Stock und Knute beherrscht glaubt, und es führt unwillkürlich in Erinnerung, wie in Deutschland solche Ehrungen aus kleinlichen Gründen der Gegenwart liberalen Poeten von höchstem Range verweigert werden oder wie in Wien, wo trotz der Schule von Dichtern und Denkern, die ihr Genie dem Fortschritte weihten, — die heutige Bevölkerung in einer gefährlichen Hypnose, ohne Sinn für die Macht des Gedankens völlig blind dafür erscheint, daß ihr schöner freier Himmel nach und nach von schwarzen Kutten verhängt wird!
In Russland hat — merkwürdig genug — auch Alexander III. dieser reaktionäre Erbe der reaktionären Ideen seines Großvaters, den Einfluss der Presse in seiner Art anerkannt. Katkow, ein Journalist, der aus dem liberalen Lager, das seinen Ruf begründet hat, nach rechts schwenkte, genoss die aufrichtige Freundschaft des Zars. Er blieb trotzdem ein echter Journalist; er wollte leiten, nicht geleitet werden. Er unterwarf sich durchaus nicht bedingungslos den herrschenden Mächten, er verblüffte sie im Gegenteile wiederholt durch die Regungen seiner Selbständigkeit. Alexander III. bot ihm das Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten an. Katkow lehnte ab, er fühlte, daß er allenfalls die Rolle Lothar Buchers, aber nie die eines slavischen Bismarck zu spielen berufen sei.
Zu Bismarck selbst ist er wiederholt in geistiger Berührung gestanden. In einem Augenblicke der Verwirrung, welche die Auffassungen gefährlich beeinflusste, meinte er: „Vielleicht wäre es gut, wenn ich mit ihm spräche!“
Er war lange ein Verteidiger des Dreikaiserbundes; erst als er zu bemerken glaubte, daß Russland in demselben die Freiheit seiner Aktion verlieren könne, wendete er sich heftig gegen ihn. Um jene Zeit schrieb ihm einer der Schriftsteller des Berliner Auswärtigen Amtes ein Wort der Besänftigung. Katkow druckte, entgegen allem journalistischen Brauch, den Brief in seiner Zeitung mit höhnischen Glossen ab. Nur wenige Jahre vorher hatte er in seinem Hause auf dem Moskauer Boulevard, der die alte Stadt mit anmutigem Grün umschließt, einen unerwarteten Besuch empfangen — den des Grafen Andrassy. Dieser Staatsmann, mit dem Spürsinn für die wirklichen Quellen der Macht, hatte es verstanden, eine Annäherung an Katkow herbeizuführen.
„Er ist durch und durch eine ritterliche Natur,“ hatte der russische Publizist von ihm gesagt „und auch die Magyaren sind nicht so arg, als wir gewöhnlich glauben“.
Dies Urteil wirkt — so weit es sich auf Andrassy bezieht — heute noch nach.
„Er war verlässlich,“ sagte man mir an hervorragender Stelle „und er hat sein Wort immer ehrlich eingelöst. Sollte einmal wieder eine Vakanz in seinem Amte eintreten, wäre es vielleicht von Vorteil für Österreich, einen Ungar mit dessen Leitung zu betrauen, er hätte nicht nötig, seinen Landsleuten Konzessionen auf Kosten des Reiches zu machen, und er könnte manche chauvinistische Äußerung derselben leicht zurückhalten“.
Die Ausnahmestellung Katkows galt nur seiner Person; die übrige Presse erlebte eine harte Zeit während des Regimes Alexanders III. Es wandelte förmlich über Zeitungsleichen. Nie war die Zahl der Sistierungen und Journalverbote größer als damals gewesen, aber je größer die Macht der Zensur sich äußerte, desto feiner spitzte sich die journalistische Kunst des verhüllten Angriffes zu. Die Erscheinung, daß literarische Erfolge durch die Stimmung, für die sie berechnet sind, mitbegründet werden, ist in der letzten Epoche der russischen Geschichte klar hervorgetreten. Hinter dem dichtesten Schleier erkannte der Leier das erwünschte Bild, das gesuchte Wort. Der Schreiber hatte auch diesen Erfolg zu büßen. Die Presse wurde immer enger eingeschnürt. Es war erklärlich, daß ihre Mitglieder einen Verein zur Wahrung ihrer Interessen begründeten. Er begann am 5. Mai 1890 seine Wirksamkeit. An die Spitze desselben trat ein liberaler Journalist, Gregor Gradowski. Man hatte ihm als hervorragendem Mitarbeiter des Golos [war eine russische anarchosyndikalistische Zeitschrift] den Boden seiner Wirksamkeit mit der Unterdrückung dieser Zeitung entzogen, er
schuf eine Monatsschrift, die „Russische Revue“, man verbot auch diese; er wußte sich in den gut geleiteten Birschewyija Wjedomosti eine neue Tribüne zu errichten.
Als Alexander III. starb, schien für den Verein der Journalisten die Aufgabe gekommen, eine Besserung der Pressverhältnisse anzustreben. Man wagte nicht, direkt vorzugehen; ein Ausschuß wurde eingesetzt, in dem berühmte Poeten, Historiker, Männer der verschiedensten Wissenschaften saßen. Man entwarf eine Adresse an den jungen Kaiser.
„Der Zar“, hieß es in derselben, „hat seinen Schutz allen Schwachen zugesagt, es gibt nur eine Körperschaft in Russland ohne Fürsprecher, ohne Schirm, ohne Gesetz — dies ist die Presse, die verfolgt und geächtet wurde und nun vertrauensvoll eine Besserung ihrer Lage vom Throne erwartet!“
Man forderte alle Schriftsteller im Lande auf, dies Akten-Stück zu fertigen, — auch Leon Tolstoi.
„Ich bin bereit, mich anzuschließen,“ sagte dies«, „wiewohl mein Prinzip dem Gedanken widerstrebt, etwas als Gnade zu fordern, was doch nur ein verweigertes Recht gewesen ist; meinen Kollegen zuliebe will ich gegen diese Überzeugung handeln!“
Die Richtigkeit dieses Standpunktes wurde anerkannt, die Sammler von Unterschriften für die Bittschrift entwanden Tolstoi die Feder, die er eben ansetzte, um seinen Namen auf die Adresse zu schreiben.
Der Ausschuß beschloß ein zweites Schriftstück für den Kaiser zu entwerfen: ein Promemoria [Denkschrift] über die Lage der Presse. Auch dieses war bald vollendet; aber wie es an seine Bestimmung gelangen lassen? Die Presse hatte ihre Freunde im Ministerium, bei Hofe, im Senate, im Reichsrate — wo ihre Vertreter anpochten, hieß es: „Vortrefflich! Schön! Aber wer soll die Verantwortung für die Übergabe dieser Kundgebungen auf sich nehmen?!“ So war man genötigt, ein neues Gesuch zu machen:
„Wir haben eine Bitte an Eure Majestät,“ hieß es in diesem, „aber der Weg zum Throne ist uns verschlossen. Wir suchen um die Gnade an, unser Anliegen vor denselben bringen zu dürfen.“
Bisher war es Gepflogenheit gewesen, Gesuche für den Kaiser an den Ressortminister zu lenken, welchen deren Inhalt berührte; der neue Zar führte es nach und nach als Regel ein, daß er selbst die Bittschriften zu lesen pflegte, die vorher einer seiner Offiziere, der Generaladjutant Richter, einer Prüfung unterworfen hatte. Diesem wurden beide Adressen übergeben.
„Der Überreichung steht nichts im Wege,“ entschied er, und schon nach wenigen Tagen erhielt das Komitee den Bescheid, daß der Kaiser begierig sei, auch das Promemoria über die Lage der Presse zu lesen. Dieses ist ein wichtiges Aktenstück für die Entwicklung des Geisteslebens in Russland geworden.
Es lautet:
„Das Gesetz vom 6. April 1865 gab der russischen Presse eine gewisse Unabhängigkeit; seitdem wurden die Pressgesetze nicht verbessert, im Gegenteile, es erfolgte ein beklagenswerter Rückschritt, der den völligen Mangel jeden Öffentlichkeitsrechts herbeiführte. Die praktische Handhabung der neuen gesetzlichen Bestimmungen verschärfte noch ihren Charakter. In allen zivilisierten Staaten Europas ist die Presse gewissen Einschränkungen, die das Gesetz genau bestimmt, unterworfen; bei uns herrschen die Zensur und Strafbestimmungen, die noch härter erscheinen, als die Zensur selbst. Zur Zeit der schärfsten Bedrückung der Presse, im Jahre 1880, wurde eine besondere Kommission unter Vorsitz des Grafen Walujew einberufen, um eine Reform der selbst damals als besserungsbedürftig erkannten Presszustände anzubahnen. In die Kommission wurden Vertreter der Presse berufen, aber die Arbeiten dieses Ausschusses wurden unterbrochen, und statt der Reform, die man erwartet, erschienen 1882 Ausnahmeregeln, die den damaligen außerordentlichen Verhältnissen entsprechen sollten. Seither bestehen sie fort. Die Bedeutung der russischen Presse, ihre Stellung, die sie dem Talent, Wissen und auch dem Charakter vieler ihrer Mitglieder dankt, gestatten wohl die Hoffnung, daß endlich die vor sechzehn Jahren in Aussicht gestellte Revision des Pressgesetzes wirklich erfolgen werde.
„Die bestehenden Gesetze teilen die Presse in zwei Kategorien, die eine ist der Zensur unterworfen, die andere von ihr befreit. Die Befreiung von der Zensur erfolgte nur für einen Teil der Presse von Petersburg, die Presse in der Provinz, ja teilweise die der Hauptstadt, blieb der Zensur unterworfen. Das Recht, Bücher zu verlegen und Druckschriften herauszugeben, war bis 1865 von der Zensur jener Staatsämter beaufsichtigt, die der Inhalt der publizierten Schriften betraf. Seit 1865 ist es erlaubt, Originalwerke bis zehn Bogen, Übersetzungen bis zwanzig Bogen ohne Präventivzensur zu veröffentlichen; ferner sind nur Bücher ausgenommen, die der geistlichen Zensur unterliegen, und den Verwaltungsbehörden bleibt das Recht unbenommen, diese Werke zu verbieten, falls ihr Inhalt als ungesetzlich anerkannt würde. Das Gericht und das in Permanenz bestehende Minister-Komitee konnte — ganz abgesehen von den eine Druckschrift ungesetzlicher Art bedrohenden Strafen — jederzeit die Beschlagnahme verlangen.
„Die Erlaubnis zur Herausgabe periodischer Druckschriften, früher von einer allerhöchsten Bewilligung abhängig, wurde an die Kompetenz des Ministers des Innern gewiesen. Dem Sinne des Gesetzes nach sollte sie alten unbescholtenen Bürgern möglich sein. Die Verweigerung einer solchen Lizenz war gleichbedeutend einer Einschränkung der Ehre — sie sollte als Ausnahme, nicht als Regel gelten. Leider ist diesem Geiste des Gesetzes nicht entsprochen worden. Seit Jahren ist niemandem das Recht zur Herausgabe periodischer Druckschriften erteilt worden. Mehr noch! Es ist gestattet, ein Recht auf Herausgabe von Druckschriften nach vorangegangener Anmeldung bei der Behörde zu cedieren. Die Pressverwaltung annullierte dieses Recht. Die Folge dieser Gesetzlosigkeit machte sich bald geltend: das Verlagsrecht wurde ein Privilegium Einzelner, die Erlaubnis, Zeitschriften herauszugeben, eine Konzession in der Hand der Regierung, die Zahl der Zeitschriften nahm ab, während die Bevölkerungsziffer gestiegen ist; Petersburg hat heute weniger politische Zeitschriften, als in den siebziger und achtziger Jahren, ihr geistiger und moralischer Wert wird durch einen unnatürlichen Druck gehemmt. Ehedem war der Herausgeber einer Zeitung selbst ein Schriftsteller, der achtunggebietend in seinem Fache wirkte, jetzt dringt ein industrielles Element in unsere Publizistik, viele Journalisten von Ansehen verlangen gar nicht mehr nach dem Rechte, eine Zeitung zu begründen, und der Mangel an Stabilität in unseren Pressverhältnissen nötigte ihnen die Rolle von geistigen Taglöhnern und Arbeitern, die sich verdingen müssen, auf! Gleichzeitig ist das Herausgaberecht ein Gegenstand der Spekulation geworden, die bei der Unbestimmtheit der Verhältnisse und der Entscheidungen der Regierung nur zu erklärlich ist. Es kam vor, daß einer ganzen Reihe von Redakteuren die Bestätigung ohne Angabe eines Grundes versagt wurde, daß umgekehrt Nichtjournalisten als Redakteure bestätigt wurden. Musste dies nicht die moralische und geistige Bedeutung der Zeitungsleiter berühren, mußte dies nicht in vielen Fällen dieselben zu armseligen Puppen und Strohmännern herabdrücken?
„Gesetzlich steht heute nur dem Senate oder dem Gerichte im Falle eines vorliegenden Verbrechens das Recht zu, eine Zeitung zu sistieren, aber bisher ist nie durch eine Gerichtsentscheidung eine solche Sistierung verfügt worden; der Senat verordnete bisher nur eine, und zwar die der Mosfkwa von Aksakow. So ist § 148 des Pressgesetzes, ohne aufgehoben zu sein, wirkungslos. Wenn vor dem Jahre 1882 Zeitungen verboten wurden, geschah dies auf Vorschlag des Ministers des Innern; seither ist die Sistierung auf Beschluss des Conseils der Minister, das vier Mitglieder zählt, möglich. Statt einer Gefahr drohen der Presse vier.
„Aber nicht nur ein direktes Verbot berührt die Existenz der Zeitungen, es kam noch ein anderes gewichtiges Moment hinzu: die erdrückende Schwere administrativer Strafen
und die Unmöglichkeit, sich technisch den Bestimmungen der Verordnung von 1882 zu unterwerfen. Dieselben verlangen zum Beispiel, daß jedes Blatt um elf Uhr am Tage vor der Herausgabe der Behörde auf Wunsch derselben vorzulegen sei. Unter dem Drucke dieser Bestimmung sind die „Molwa“ und der „Golos“, Zeitschriften von größter Bedeutung und von einem Verkaufswert von drei Millionen Rubel, zu Grunde gerichtet worden.“ „Welche Geldwerte dies vernichtet hat, zeigt die Tatsache, daß der Herausgeber der Molwa jahrelang einen Gewinn von mehreren hunderttausend Rubeln aus seinem Blatte zog. Außer der Vermögenszerstörung eines Einzelnen, die also erfolgte, außer der Beschränkung eines geistigen Rechtes hat solch ein Vorgehen — das möglich war, ohne daß eine gerichtliche Untersuchung geführt wurde, ohne daß der Gestrafte sein natürliches Verteidigungsrecht ausüben konnte, und ohne daß ein Ge richt einen Beschluss faßte — die Existenz zahlloser Personen berührt und vernichtet, sowohl die von Schriftstellern, die ihre Tätigkeit nicht zum Gewerbe erniedrigen wollten, als die der unschuldigen Arbeiter der Administrationen und Druckereien, die in eine bedrückende Notlage gerieten!
„Nach dem Gesetze von 1882 ist noch eine sehr gefährliche Maßnahme für die Presse statuiert die der Verwarnungen, deren dritte das Verbot von Zeitungen bis zur Dauer von sechs Monaten nach sich zieht. Diese dem Gesetze des französischen Kaiserreichs nachgeformte Strafbestimmung besteht nunmehr in keinem Kulturstaate Europas. Das Verwarnungsrecht ruht in der Hand des Ministers des Innern, und es ist bisher nach so persönlichen Anschauungen ausgeübt worden, daß die Presse in eine ganz einseitige Richtung gedrängt wurde. Die Stoffe in Fragen der äußeren Politik, der Finanzen, der Justiz, ja der höchsten staatlichen Autoritäten waren für die Besprechung weniger engherzig beurteilt, als jene, welche die Tätigkeit des Ministers des Innern betrafen. Dies erschien nach der Aufhebung der dritten Abteilung noch viel empfindlicher. Die wichtigsten Ministerien — eine zeitlang besonders das für Heeresangelegenheiten — waren der Kritik unterworfen, aber die Polizei war in allgemeinen, in politischen, ja in sanitären Fragen dem öffentlichen Urteile förmlich entzogen.
„Russland wurde von den Schrecken der Hungersnot oder entsetzlicher Epidemien überrascht, weil seine Presse stumm bleiben mußte und durch rechtzeitig erhobene Warnungen nicht den Ereignissen vorbeugen konnte. Es hätten sich gewiß Mutige gefunden, dies System zu durchbrechen, aber die Verwarnung mit ihrem Charakter einer eigentlich zufälligen und ungleichmäßigen Strafe lähmte jede Energie, und für diese Verwarnung tritt — gewiß ein Unikum — nie eine Verjährung ein. Es kam vor, daß die gefährliche dritte Verwarnung viele Jahre nach der ersten erfolgte, nach einem Zeiträume, in dem die betreffende Zeitung ehrlich das Ihrige getan hatte, um die Ursache ihrer Bestrafung vergessen zu machen! Es kam vor, daß das, was die Verwarnung eines Blattes, herbeigeführt hatte, von der Regierung selbst als schädlich erkannt wurde. Die seinerzeit geübte Kritik hatte also die glänzendste Rechtfertigung erfahren, aber ihre Folgen wirkten verhängnisvoll nach. Die bulgarische Politik Russlands zum Beispiel haben einzelne Zeitungen seinerzeit als eine falsche beleuchtet; vielleicht infolge ihrer Kritik hat die Regierung sie abgeändert, aber die Verwarnung, die jene Blätter erhalten hatten, die so einsichtig wie herzhaft auf den besseren Weg wiesen, schwebt als Damoklesschwert weiter über ihnen! In früheren Zeiten, wo eine so abnorme Wirkung so abnormer gesetzlicher Bestimmungen eintrat, war ein allerhöchster Gnadenakt ein Mittel, sie zu lindern; seit 1887 hat die Presse kein Amnestiefall berührt! Zur Zeit stehen alle mehr oder weniger verbreiteten Journale, alle Wochen- und Monatsschriften unter dem Drucke der Tatfache, daß sie zwei Verwarnungen bereits erhielten — die dritte also jeden Augenblick ihre Existenz zerstören kann.
„Einzelne dieser Verwarnungen erflossen vor fünfzehn Jahren, einem Zeiträume, der dem Verjährungsrechte von Strafen für große Verbrechen entspricht; sie bleiben aufrecht, wie alle übrigen. Das ist eine fürchterliche Lage und ein ganz ungewöhnlicher Druck! Dies scheint selbst im Ministerium erkannt worden zu sein. Es erteilt jetzt nur „Verweise“, nicht Verwarnungen — der letzte derselben betraf die Nowoje Wremja wegen eines Artikels über den Marine-Zensus — solche Verweise sind öffentlich zum Unterschiede von den geheimen, durch Drohungen verschärften, welche die Pressverwaltung und das Zensurkomitee erlassen.
„Im Jahre 1878 erschien ein Gesetz, das verordnete, wenn die Regierung es für gut findet, der Presse die Erörterung irgend einer staatlichen Frage während eines bestimmten Zeitraumes zu verbieten, dies durch die Oberpressverwaltung auf Verfügung des Ministers des Innern geschehen könne. Zuwiderhandelnde können durch Sistierung ihrer Zeitung bis zur Dauer von drei Monaten gestraft werden. Die buchstäbliche Ausführung dieses Gesetzes hätte eine klare Lage geschaffen, aber in der Praxis betrafen die erstoffenen Verordnungen dieser Art niemals Dinge von Wichtigkeit, sie berührten nur Nebensächliches, zum Beispiel Börsenverluste einzelner Personen, Streitigkeiten von Privatleuten in adeligen Versammlungen, Kommunalwahlen, Unglücksfälle auf den Bahnen oder Malversationen bei den Banken. Ein Stadtoberhaupt, dem seine Kandidatur Sorge einflößte, konnte ein Verbot der Besprechung derselben erwirken; der Direktor einer Aktien- oder Versicherungsgesellschaft, der ein Unglück in ihrer Gebarung widerfuhr, konnte die Meldung desselben unterdrücken, ja die Veröffentlichung von Anzeigen erzwingen, die zu den Tatsachen in direktem Gegensatze standen.
„Die Presse ist noch durch zwei andere in ihren Wirkungen außerordentlich gefährliche Maßnahmen bedrückt.
„Nach dem Gesetze ist die Polizei berechtigt, bei gewissen Druckschriften das Verbot der Kolportage auszusprechen. Diese Bestimmung, die augenscheinlich nur verbotene oder unmoralische Bücher treffen soll, hat in der Praxis sich zu einer Strafe für die Zeitungen entwickelt und bei einzelnen derselben die vollständige Aushebung des Einzelverkaufes nach sich geführt. Dies geschah nicht etwa infolge eines schweren Verbrechens, sondern wegen kleiner Vergehen, die dem Gesetze nach eine geringe Geldstrafe ahnden sollte. Ebenso traf die Zeitungen eine zweite, ganz unvorhergesehene Strafe: die des Verbotes, Annoncen zu publizieren. Sie wurde zu einer Zeit (1863) für die zensurfreie Presse in Aussicht genommen, als das Annoncenwesen völlig unentwickelt war. Seither hat dieses einen außerordentlichen Aufschwung genommen, und die Unterdrückung des Inserates ist der Unterdrückung der Zeitung selbst gleichbedeutend geworden.
„Im Jahre 1865 war im Senate ein Gesetz beantragt, das Russland eine unabhängige Presse schaffen sollte. Für ihre Missbrauche hätte sie die Strafe des Gesetzes ereilt. Gewisse Einschreitungen durch die Administrativgewalt sollten nur in außerordentlich wichtigen Ausnahmefällen erfolgen. Seither aber ist die staatliche Gewalt über die Presse, von einigen geringfügigen Ehrenbeleidigungsprozessen abgesehen, aus der Hand der Justiz in die der Administration gelangt. Nach dem Geist unseres Pressgesetzes und der Motive, mit denen der Staatsrat dies Gesetz versah, hätte Russland das Recht der freien öffentlichen Diskussion und das der Kritik gewonnen. Tatsächlich besteht weder das Eine noch das Andere. Ja, die administrative Unterdrückung der Presse hat die Vorteile der Aufhebung unserer Präventivzensur vollständig bedeutungslos gemacht. Als 1894 die Cholera in Petersburg auftauchte und die Zeitungen auf die ungenügenden sanitären Vorkehrungen hinwiesen, dehnte der Minister des Innern die Präventivzensur auf sämtliche von der Zensur befreiten Zeitschriften aus, welche die Maßnahmen gegen die Cholera besprachen. Die Zensurierung erfolgte jedoch nicht bei der Staatsbehörde, sondern bei der Stadthauptmannschaft, deren unzulängliche Tätigkeit die Kritik am meisten herausforderte.
„Solche Umstände und eine auch nur oberflächliche Prüfung der Pressverhältnisse zeigen, wie unerläßlich eine Reform derselben sei.
„Sie hätte zunächst nachstehende Wünsche zu erfüllen:
1. Das Recht der Herausgabe von Büchern und Zeitschriften ist nicht von einer vorhergehenden Genehmigung abhängig. Die Einschränkungen derselben müssen im Gesetze vorgesehen sein.
2. Die Sistierung von Büchern und Zeisschristen bleibt dem Gerichte anheimgestellt und darf nur als Strafe für Rechtsverletzungen erfolgen.
3. Das System der Verwarnungen soll aufgehoben werden.
4. Die Verhinderung von unzukömmlichen Publikationen (z. B. Mobilisierungsplänen und Mitteilungen über Verteidigung des Landes und wichtige diplomatische Aktionen) bestimmt das Gesetz.
5. Der Einzelverkauf und die Veröffentlichung von Annoncen kann nicht verboten werden.
6. Pressstrafen soll nur das Gericht aussprechen. Für den Fall eines sofortigen Aufhörens des Einflusses der Administration auf die Presse genügen bis zur Erlassung eines neuen Gesetzes die bezüglichen Bestimmungen des gegenwärtigen Strafgesetzes, welches Vergehen der Presse mit hohen Kerkerstrafen, Verlust aller bürgerlichen Rechte, eventuell Zwangsarbeit ahndet.
7. Das Pressgesetz ist nicht nur auf die hauptstädtische, sondern auf die ganze Provinzpresse auszudehnen.“
„Wie denken Sie sich die Erledigung Ihrer Gesuche?“ hatte man die Vertreter des Presskomitees bei der Überreichung dieser Denkschrift gefragt.
„Durch eine Prüfung der Minister,“ antworteten sie.
In diesem Sinne entschied der Kaiser. Das Promemoria wanderte in den Ministerrat. Hier erhob sich manche Stimme zu Gunsten der Presse, der Beschluss war ein abweisender. „Es sei kein Anlaß, dem bisherigen Gebrauche zu entsagen,“ lautete er. Hievon wurde das Komitee verständigt in einer, wie es scheint, absichtlich schroffen Form — durch die Polizei; aber der Rückschrittsgedanke war doch nicht völlig siegreich gewesen, der Kaiser hatte den Beschluss seiner Räte zur Kenntnis genommen, ihnen aber befohlen, ihm in Hinkunft von allen Maßnahmen, die der Presse gelten, Mitteilung zu machen. Diesem Umstande dankte sie die auffallend bevorzugte Stellung bei den Krönungsfesten. Alle Verfügungen in dieser Richtung sind nach einem Vortrage bei dem Zar erfolgt. Er hatte den Wunsch geäußert, daß man sämtliche dem Hausministerium zugänglichen Beurteilungen und Schilderungen dieser Feste sammle.
„Es wird auch feindselige geben,“ glaubte man bemerken zu sollen.
„Ich wünsche auch diese. Wie können sie schaden, da nur ich sie lesen werde,“ entschied der Kaiser.
Er hatte verfügt, daß zum „Courtage“ alle in Moskau anwesenden Journalisten geladen würden. Eine Stunde vor Beginn des Balles hatten sich diese bei einem Hofbeamten zu versammeln. Er führte sie in den Georgensaal, dem ersten der Prunkräume im Palais des Kreml.
„Hier werden die Herren ein Plätzchen finden,“ meinte er; „es ist der Raum, der früher den Ständen als Aufenthalt während der Hoffeste zu dienen pflegte.“
Eine halbe Stunde später erschien derselbe Beamte.
„Se. Majestät hat verfügt, daß die Herren all seinen Gästen gleich geachtet seien; nehmen Sie Ihre Plätze, in welchem der Säle des Schlosses Sie wollen,“ verkündete er.
Der Kaiser zeigt auch für persönliche Fragen, welche die Presse berühren, die lebhafteste Teilnahme. Die Moskowskija Wjedomosti sind in ihrem Einflusse seit dem Tode Katkows zurückgegangen. Sie werden vom Beginne des nächsten Jahres einen neuen Leiter erhalten, den gelehrten Staatsrat Wladimir Gringmut, der als Freund Katkows bisher die Direktion des Nikolas-Lyzeums in Moskau führte. Er ist ein streng Konservativer, aber voll Begeisterung für die Vermehrung der Mittel des Volksunterrichtes und die Erweiterung der klassischen Bildung. Der Kaiser empfing vor seiner Reise in das Ausland den zukünftigen Redakteur in längerer Audienz und ließ sich von ihm seine Ansichten ausführlich entwickeln.
Ein solcher Geist mußte auf die Pressverhältnisse von Einfluß werden; die drückendsten Bestimmungen der alten Verordnungen scheinen stillschweigend außer Kraft gesetzt, der frühere Pressleiter aus der Zeit Alexanders III. hat einem neuen Manne Platz gemacht, der Geist der Diskussion wird zeitweilig wenigstens aus freieren Gesichtspunkten beurteilt.
„Eine bessere Zeit hat für uns begonnen!“ rief mir in Petersburg General Komarow zu, der ein Vollblutjournalist ist, trotz seiner nach rechts strebenden Gesinnung. „Wir brauchen uns jetzt nicht mehr wie früher nach Ihrer österreichischen Konfiskations-Praxis zu sehnen, die ja auch eine Art Zensur ist!“
„Unsere Presse,“ sagte mir in ähnlichem Sinn ein liberaler Journalist, der jüngste Zeitungseigentümer von Petersburg, „ist nun viel besser gestellt — seit einigen Wochen kann jedermann öffentlich seine Meinung sagen; die Voraussetzung für diese Freiheit ist nur die Lauterkeit seiner Absichten.“
Selbst an hervorragender bureaukratischer Stelle lenkte man meine Aufmerksamkeit „auf die rückhaltslose Sprache der öffentlichen Meinung“.
Die Vertreter der Presse anerkennen diesen Umschwung, aber sie wünschen trotzdem, daß die Regierung einen energischen Schritt weiter mache.
„Was würden Sie tun,“ fragte ich einen der liberalen Wortführer, „wenn Sie selbst zur Macht gelangen würden?“
„Die Presse besser stellen und die Semstwo-Idee Alexanders II. wieder aufnehmen,“ war die Antwort.
Die Erfüllung des letzteren Wunsches scheint augenblicklich aussichtslos, in der Frage der Presse aber kann die Regierung die Forderungen derselben mit nachgiebiger Gesinnung einer neuen Beratung unterziehen. Sie sollte es im Interesse des Volkes wie in dem eigenen! Der öffentliche Geist bedarf einer Vertretung, er kann sie nur in der Presse finden, wenn Russland, wie man sagt, „noch nicht reif ist für eine repräsentative Verfassung“. Die Regierung aber — falls sie wirklich, wie alle Welt im Lande in unbestimmtem Bangen und Erwarten hofft, neue Bahnen wandeln will — bedarf einer freien Äußerung der öffentlichen Meinung als Kontrolle für ihren tausendköpfigen, an die absoluteste Willensäußerung gewöhnten Beamtenkörper.
Einer der russischen Satiriker, deren Macht im Unglück ihres Vaterlandes so gewaltig anwuchs, meinte mit blutigem Spotte: „Oft genug hat sich ein Sturmwind in Russland erhoben, der alles erfasste — auch die bureaukratische Masse, um sie in eine neue, scheinbar bessere Richtung zu drängen. Bald begann das alte Spiel. Alles war Rauch und Dunst gewesen, hinter dem die früheren Mächte lebendig blieben!“ —
Wird die Gegenwart dasselbe traurige Schauspiel bieten? Tradition und Streben nach Reform sind an der entscheidenden Stelle offenbar im Kampfe. Die Zukunft des Öffentlichkeitsrechtes wird zeigen, wer von beiden siegreich blieb. Die Presse fordert keine großen Garantien für ihr Emporblühen. Sie ist zufrieden, wenn die neuen legalen Bestimmungen mit Vorsicht gefaßt, mit Strenge gehandhabt werden; sie will nur, daß die ihr übergeordnete Willkür aufhöre. Was sie verlangt, ist ein Naturrecht — ist der Schutz des Gesetzes und der Gerechtigkeit!
In dem schattigen „Sommergarten“ von Petersburg steht die Statue dieses Dichters, der seine Feder so oft in den Dienst des Tages gestellt. Man ist eben unter lebendigster Teilnahme der Bevölkerung daran, noch die Enthüllung mehrerer Denkmäler von Gesinnungsgenossen Krykows vorzubereiten. Das berührt sehr angenehm in einer Stadt, die man im Westen fast ausschließlich von Stock und Knute beherrscht glaubt, und es führt unwillkürlich in Erinnerung, wie in Deutschland solche Ehrungen aus kleinlichen Gründen der Gegenwart liberalen Poeten von höchstem Range verweigert werden oder wie in Wien, wo trotz der Schule von Dichtern und Denkern, die ihr Genie dem Fortschritte weihten, — die heutige Bevölkerung in einer gefährlichen Hypnose, ohne Sinn für die Macht des Gedankens völlig blind dafür erscheint, daß ihr schöner freier Himmel nach und nach von schwarzen Kutten verhängt wird!
In Russland hat — merkwürdig genug — auch Alexander III. dieser reaktionäre Erbe der reaktionären Ideen seines Großvaters, den Einfluss der Presse in seiner Art anerkannt. Katkow, ein Journalist, der aus dem liberalen Lager, das seinen Ruf begründet hat, nach rechts schwenkte, genoss die aufrichtige Freundschaft des Zars. Er blieb trotzdem ein echter Journalist; er wollte leiten, nicht geleitet werden. Er unterwarf sich durchaus nicht bedingungslos den herrschenden Mächten, er verblüffte sie im Gegenteile wiederholt durch die Regungen seiner Selbständigkeit. Alexander III. bot ihm das Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten an. Katkow lehnte ab, er fühlte, daß er allenfalls die Rolle Lothar Buchers, aber nie die eines slavischen Bismarck zu spielen berufen sei.
Zu Bismarck selbst ist er wiederholt in geistiger Berührung gestanden. In einem Augenblicke der Verwirrung, welche die Auffassungen gefährlich beeinflusste, meinte er: „Vielleicht wäre es gut, wenn ich mit ihm spräche!“
Er war lange ein Verteidiger des Dreikaiserbundes; erst als er zu bemerken glaubte, daß Russland in demselben die Freiheit seiner Aktion verlieren könne, wendete er sich heftig gegen ihn. Um jene Zeit schrieb ihm einer der Schriftsteller des Berliner Auswärtigen Amtes ein Wort der Besänftigung. Katkow druckte, entgegen allem journalistischen Brauch, den Brief in seiner Zeitung mit höhnischen Glossen ab. Nur wenige Jahre vorher hatte er in seinem Hause auf dem Moskauer Boulevard, der die alte Stadt mit anmutigem Grün umschließt, einen unerwarteten Besuch empfangen — den des Grafen Andrassy. Dieser Staatsmann, mit dem Spürsinn für die wirklichen Quellen der Macht, hatte es verstanden, eine Annäherung an Katkow herbeizuführen.
„Er ist durch und durch eine ritterliche Natur,“ hatte der russische Publizist von ihm gesagt „und auch die Magyaren sind nicht so arg, als wir gewöhnlich glauben“.
Dies Urteil wirkt — so weit es sich auf Andrassy bezieht — heute noch nach.
„Er war verlässlich,“ sagte man mir an hervorragender Stelle „und er hat sein Wort immer ehrlich eingelöst. Sollte einmal wieder eine Vakanz in seinem Amte eintreten, wäre es vielleicht von Vorteil für Österreich, einen Ungar mit dessen Leitung zu betrauen, er hätte nicht nötig, seinen Landsleuten Konzessionen auf Kosten des Reiches zu machen, und er könnte manche chauvinistische Äußerung derselben leicht zurückhalten“.
Die Ausnahmestellung Katkows galt nur seiner Person; die übrige Presse erlebte eine harte Zeit während des Regimes Alexanders III. Es wandelte förmlich über Zeitungsleichen. Nie war die Zahl der Sistierungen und Journalverbote größer als damals gewesen, aber je größer die Macht der Zensur sich äußerte, desto feiner spitzte sich die journalistische Kunst des verhüllten Angriffes zu. Die Erscheinung, daß literarische Erfolge durch die Stimmung, für die sie berechnet sind, mitbegründet werden, ist in der letzten Epoche der russischen Geschichte klar hervorgetreten. Hinter dem dichtesten Schleier erkannte der Leier das erwünschte Bild, das gesuchte Wort. Der Schreiber hatte auch diesen Erfolg zu büßen. Die Presse wurde immer enger eingeschnürt. Es war erklärlich, daß ihre Mitglieder einen Verein zur Wahrung ihrer Interessen begründeten. Er begann am 5. Mai 1890 seine Wirksamkeit. An die Spitze desselben trat ein liberaler Journalist, Gregor Gradowski. Man hatte ihm als hervorragendem Mitarbeiter des Golos [war eine russische anarchosyndikalistische Zeitschrift] den Boden seiner Wirksamkeit mit der Unterdrückung dieser Zeitung entzogen, er
schuf eine Monatsschrift, die „Russische Revue“, man verbot auch diese; er wußte sich in den gut geleiteten Birschewyija Wjedomosti eine neue Tribüne zu errichten.
Als Alexander III. starb, schien für den Verein der Journalisten die Aufgabe gekommen, eine Besserung der Pressverhältnisse anzustreben. Man wagte nicht, direkt vorzugehen; ein Ausschuß wurde eingesetzt, in dem berühmte Poeten, Historiker, Männer der verschiedensten Wissenschaften saßen. Man entwarf eine Adresse an den jungen Kaiser.
„Der Zar“, hieß es in derselben, „hat seinen Schutz allen Schwachen zugesagt, es gibt nur eine Körperschaft in Russland ohne Fürsprecher, ohne Schirm, ohne Gesetz — dies ist die Presse, die verfolgt und geächtet wurde und nun vertrauensvoll eine Besserung ihrer Lage vom Throne erwartet!“
Man forderte alle Schriftsteller im Lande auf, dies Akten-Stück zu fertigen, — auch Leon Tolstoi.
„Ich bin bereit, mich anzuschließen,“ sagte dies«, „wiewohl mein Prinzip dem Gedanken widerstrebt, etwas als Gnade zu fordern, was doch nur ein verweigertes Recht gewesen ist; meinen Kollegen zuliebe will ich gegen diese Überzeugung handeln!“
Die Richtigkeit dieses Standpunktes wurde anerkannt, die Sammler von Unterschriften für die Bittschrift entwanden Tolstoi die Feder, die er eben ansetzte, um seinen Namen auf die Adresse zu schreiben.
Der Ausschuß beschloß ein zweites Schriftstück für den Kaiser zu entwerfen: ein Promemoria [Denkschrift] über die Lage der Presse. Auch dieses war bald vollendet; aber wie es an seine Bestimmung gelangen lassen? Die Presse hatte ihre Freunde im Ministerium, bei Hofe, im Senate, im Reichsrate — wo ihre Vertreter anpochten, hieß es: „Vortrefflich! Schön! Aber wer soll die Verantwortung für die Übergabe dieser Kundgebungen auf sich nehmen?!“ So war man genötigt, ein neues Gesuch zu machen:
„Wir haben eine Bitte an Eure Majestät,“ hieß es in diesem, „aber der Weg zum Throne ist uns verschlossen. Wir suchen um die Gnade an, unser Anliegen vor denselben bringen zu dürfen.“
Bisher war es Gepflogenheit gewesen, Gesuche für den Kaiser an den Ressortminister zu lenken, welchen deren Inhalt berührte; der neue Zar führte es nach und nach als Regel ein, daß er selbst die Bittschriften zu lesen pflegte, die vorher einer seiner Offiziere, der Generaladjutant Richter, einer Prüfung unterworfen hatte. Diesem wurden beide Adressen übergeben.
„Der Überreichung steht nichts im Wege,“ entschied er, und schon nach wenigen Tagen erhielt das Komitee den Bescheid, daß der Kaiser begierig sei, auch das Promemoria über die Lage der Presse zu lesen. Dieses ist ein wichtiges Aktenstück für die Entwicklung des Geisteslebens in Russland geworden.
Es lautet:
„Das Gesetz vom 6. April 1865 gab der russischen Presse eine gewisse Unabhängigkeit; seitdem wurden die Pressgesetze nicht verbessert, im Gegenteile, es erfolgte ein beklagenswerter Rückschritt, der den völligen Mangel jeden Öffentlichkeitsrechts herbeiführte. Die praktische Handhabung der neuen gesetzlichen Bestimmungen verschärfte noch ihren Charakter. In allen zivilisierten Staaten Europas ist die Presse gewissen Einschränkungen, die das Gesetz genau bestimmt, unterworfen; bei uns herrschen die Zensur und Strafbestimmungen, die noch härter erscheinen, als die Zensur selbst. Zur Zeit der schärfsten Bedrückung der Presse, im Jahre 1880, wurde eine besondere Kommission unter Vorsitz des Grafen Walujew einberufen, um eine Reform der selbst damals als besserungsbedürftig erkannten Presszustände anzubahnen. In die Kommission wurden Vertreter der Presse berufen, aber die Arbeiten dieses Ausschusses wurden unterbrochen, und statt der Reform, die man erwartet, erschienen 1882 Ausnahmeregeln, die den damaligen außerordentlichen Verhältnissen entsprechen sollten. Seither bestehen sie fort. Die Bedeutung der russischen Presse, ihre Stellung, die sie dem Talent, Wissen und auch dem Charakter vieler ihrer Mitglieder dankt, gestatten wohl die Hoffnung, daß endlich die vor sechzehn Jahren in Aussicht gestellte Revision des Pressgesetzes wirklich erfolgen werde.
„Die bestehenden Gesetze teilen die Presse in zwei Kategorien, die eine ist der Zensur unterworfen, die andere von ihr befreit. Die Befreiung von der Zensur erfolgte nur für einen Teil der Presse von Petersburg, die Presse in der Provinz, ja teilweise die der Hauptstadt, blieb der Zensur unterworfen. Das Recht, Bücher zu verlegen und Druckschriften herauszugeben, war bis 1865 von der Zensur jener Staatsämter beaufsichtigt, die der Inhalt der publizierten Schriften betraf. Seit 1865 ist es erlaubt, Originalwerke bis zehn Bogen, Übersetzungen bis zwanzig Bogen ohne Präventivzensur zu veröffentlichen; ferner sind nur Bücher ausgenommen, die der geistlichen Zensur unterliegen, und den Verwaltungsbehörden bleibt das Recht unbenommen, diese Werke zu verbieten, falls ihr Inhalt als ungesetzlich anerkannt würde. Das Gericht und das in Permanenz bestehende Minister-Komitee konnte — ganz abgesehen von den eine Druckschrift ungesetzlicher Art bedrohenden Strafen — jederzeit die Beschlagnahme verlangen.
„Die Erlaubnis zur Herausgabe periodischer Druckschriften, früher von einer allerhöchsten Bewilligung abhängig, wurde an die Kompetenz des Ministers des Innern gewiesen. Dem Sinne des Gesetzes nach sollte sie alten unbescholtenen Bürgern möglich sein. Die Verweigerung einer solchen Lizenz war gleichbedeutend einer Einschränkung der Ehre — sie sollte als Ausnahme, nicht als Regel gelten. Leider ist diesem Geiste des Gesetzes nicht entsprochen worden. Seit Jahren ist niemandem das Recht zur Herausgabe periodischer Druckschriften erteilt worden. Mehr noch! Es ist gestattet, ein Recht auf Herausgabe von Druckschriften nach vorangegangener Anmeldung bei der Behörde zu cedieren. Die Pressverwaltung annullierte dieses Recht. Die Folge dieser Gesetzlosigkeit machte sich bald geltend: das Verlagsrecht wurde ein Privilegium Einzelner, die Erlaubnis, Zeitschriften herauszugeben, eine Konzession in der Hand der Regierung, die Zahl der Zeitschriften nahm ab, während die Bevölkerungsziffer gestiegen ist; Petersburg hat heute weniger politische Zeitschriften, als in den siebziger und achtziger Jahren, ihr geistiger und moralischer Wert wird durch einen unnatürlichen Druck gehemmt. Ehedem war der Herausgeber einer Zeitung selbst ein Schriftsteller, der achtunggebietend in seinem Fache wirkte, jetzt dringt ein industrielles Element in unsere Publizistik, viele Journalisten von Ansehen verlangen gar nicht mehr nach dem Rechte, eine Zeitung zu begründen, und der Mangel an Stabilität in unseren Pressverhältnissen nötigte ihnen die Rolle von geistigen Taglöhnern und Arbeitern, die sich verdingen müssen, auf! Gleichzeitig ist das Herausgaberecht ein Gegenstand der Spekulation geworden, die bei der Unbestimmtheit der Verhältnisse und der Entscheidungen der Regierung nur zu erklärlich ist. Es kam vor, daß einer ganzen Reihe von Redakteuren die Bestätigung ohne Angabe eines Grundes versagt wurde, daß umgekehrt Nichtjournalisten als Redakteure bestätigt wurden. Musste dies nicht die moralische und geistige Bedeutung der Zeitungsleiter berühren, mußte dies nicht in vielen Fällen dieselben zu armseligen Puppen und Strohmännern herabdrücken?
„Gesetzlich steht heute nur dem Senate oder dem Gerichte im Falle eines vorliegenden Verbrechens das Recht zu, eine Zeitung zu sistieren, aber bisher ist nie durch eine Gerichtsentscheidung eine solche Sistierung verfügt worden; der Senat verordnete bisher nur eine, und zwar die der Mosfkwa von Aksakow. So ist § 148 des Pressgesetzes, ohne aufgehoben zu sein, wirkungslos. Wenn vor dem Jahre 1882 Zeitungen verboten wurden, geschah dies auf Vorschlag des Ministers des Innern; seither ist die Sistierung auf Beschluss des Conseils der Minister, das vier Mitglieder zählt, möglich. Statt einer Gefahr drohen der Presse vier.
„Aber nicht nur ein direktes Verbot berührt die Existenz der Zeitungen, es kam noch ein anderes gewichtiges Moment hinzu: die erdrückende Schwere administrativer Strafen
und die Unmöglichkeit, sich technisch den Bestimmungen der Verordnung von 1882 zu unterwerfen. Dieselben verlangen zum Beispiel, daß jedes Blatt um elf Uhr am Tage vor der Herausgabe der Behörde auf Wunsch derselben vorzulegen sei. Unter dem Drucke dieser Bestimmung sind die „Molwa“ und der „Golos“, Zeitschriften von größter Bedeutung und von einem Verkaufswert von drei Millionen Rubel, zu Grunde gerichtet worden.“ „Welche Geldwerte dies vernichtet hat, zeigt die Tatsache, daß der Herausgeber der Molwa jahrelang einen Gewinn von mehreren hunderttausend Rubeln aus seinem Blatte zog. Außer der Vermögenszerstörung eines Einzelnen, die also erfolgte, außer der Beschränkung eines geistigen Rechtes hat solch ein Vorgehen — das möglich war, ohne daß eine gerichtliche Untersuchung geführt wurde, ohne daß der Gestrafte sein natürliches Verteidigungsrecht ausüben konnte, und ohne daß ein Ge richt einen Beschluss faßte — die Existenz zahlloser Personen berührt und vernichtet, sowohl die von Schriftstellern, die ihre Tätigkeit nicht zum Gewerbe erniedrigen wollten, als die der unschuldigen Arbeiter der Administrationen und Druckereien, die in eine bedrückende Notlage gerieten!
„Nach dem Gesetze von 1882 ist noch eine sehr gefährliche Maßnahme für die Presse statuiert die der Verwarnungen, deren dritte das Verbot von Zeitungen bis zur Dauer von sechs Monaten nach sich zieht. Diese dem Gesetze des französischen Kaiserreichs nachgeformte Strafbestimmung besteht nunmehr in keinem Kulturstaate Europas. Das Verwarnungsrecht ruht in der Hand des Ministers des Innern, und es ist bisher nach so persönlichen Anschauungen ausgeübt worden, daß die Presse in eine ganz einseitige Richtung gedrängt wurde. Die Stoffe in Fragen der äußeren Politik, der Finanzen, der Justiz, ja der höchsten staatlichen Autoritäten waren für die Besprechung weniger engherzig beurteilt, als jene, welche die Tätigkeit des Ministers des Innern betrafen. Dies erschien nach der Aufhebung der dritten Abteilung noch viel empfindlicher. Die wichtigsten Ministerien — eine zeitlang besonders das für Heeresangelegenheiten — waren der Kritik unterworfen, aber die Polizei war in allgemeinen, in politischen, ja in sanitären Fragen dem öffentlichen Urteile förmlich entzogen.
„Russland wurde von den Schrecken der Hungersnot oder entsetzlicher Epidemien überrascht, weil seine Presse stumm bleiben mußte und durch rechtzeitig erhobene Warnungen nicht den Ereignissen vorbeugen konnte. Es hätten sich gewiß Mutige gefunden, dies System zu durchbrechen, aber die Verwarnung mit ihrem Charakter einer eigentlich zufälligen und ungleichmäßigen Strafe lähmte jede Energie, und für diese Verwarnung tritt — gewiß ein Unikum — nie eine Verjährung ein. Es kam vor, daß die gefährliche dritte Verwarnung viele Jahre nach der ersten erfolgte, nach einem Zeiträume, in dem die betreffende Zeitung ehrlich das Ihrige getan hatte, um die Ursache ihrer Bestrafung vergessen zu machen! Es kam vor, daß das, was die Verwarnung eines Blattes, herbeigeführt hatte, von der Regierung selbst als schädlich erkannt wurde. Die seinerzeit geübte Kritik hatte also die glänzendste Rechtfertigung erfahren, aber ihre Folgen wirkten verhängnisvoll nach. Die bulgarische Politik Russlands zum Beispiel haben einzelne Zeitungen seinerzeit als eine falsche beleuchtet; vielleicht infolge ihrer Kritik hat die Regierung sie abgeändert, aber die Verwarnung, die jene Blätter erhalten hatten, die so einsichtig wie herzhaft auf den besseren Weg wiesen, schwebt als Damoklesschwert weiter über ihnen! In früheren Zeiten, wo eine so abnorme Wirkung so abnormer gesetzlicher Bestimmungen eintrat, war ein allerhöchster Gnadenakt ein Mittel, sie zu lindern; seit 1887 hat die Presse kein Amnestiefall berührt! Zur Zeit stehen alle mehr oder weniger verbreiteten Journale, alle Wochen- und Monatsschriften unter dem Drucke der Tatfache, daß sie zwei Verwarnungen bereits erhielten — die dritte also jeden Augenblick ihre Existenz zerstören kann.
„Einzelne dieser Verwarnungen erflossen vor fünfzehn Jahren, einem Zeiträume, der dem Verjährungsrechte von Strafen für große Verbrechen entspricht; sie bleiben aufrecht, wie alle übrigen. Das ist eine fürchterliche Lage und ein ganz ungewöhnlicher Druck! Dies scheint selbst im Ministerium erkannt worden zu sein. Es erteilt jetzt nur „Verweise“, nicht Verwarnungen — der letzte derselben betraf die Nowoje Wremja wegen eines Artikels über den Marine-Zensus — solche Verweise sind öffentlich zum Unterschiede von den geheimen, durch Drohungen verschärften, welche die Pressverwaltung und das Zensurkomitee erlassen.
„Im Jahre 1878 erschien ein Gesetz, das verordnete, wenn die Regierung es für gut findet, der Presse die Erörterung irgend einer staatlichen Frage während eines bestimmten Zeitraumes zu verbieten, dies durch die Oberpressverwaltung auf Verfügung des Ministers des Innern geschehen könne. Zuwiderhandelnde können durch Sistierung ihrer Zeitung bis zur Dauer von drei Monaten gestraft werden. Die buchstäbliche Ausführung dieses Gesetzes hätte eine klare Lage geschaffen, aber in der Praxis betrafen die erstoffenen Verordnungen dieser Art niemals Dinge von Wichtigkeit, sie berührten nur Nebensächliches, zum Beispiel Börsenverluste einzelner Personen, Streitigkeiten von Privatleuten in adeligen Versammlungen, Kommunalwahlen, Unglücksfälle auf den Bahnen oder Malversationen bei den Banken. Ein Stadtoberhaupt, dem seine Kandidatur Sorge einflößte, konnte ein Verbot der Besprechung derselben erwirken; der Direktor einer Aktien- oder Versicherungsgesellschaft, der ein Unglück in ihrer Gebarung widerfuhr, konnte die Meldung desselben unterdrücken, ja die Veröffentlichung von Anzeigen erzwingen, die zu den Tatsachen in direktem Gegensatze standen.
„Die Presse ist noch durch zwei andere in ihren Wirkungen außerordentlich gefährliche Maßnahmen bedrückt.
„Nach dem Gesetze ist die Polizei berechtigt, bei gewissen Druckschriften das Verbot der Kolportage auszusprechen. Diese Bestimmung, die augenscheinlich nur verbotene oder unmoralische Bücher treffen soll, hat in der Praxis sich zu einer Strafe für die Zeitungen entwickelt und bei einzelnen derselben die vollständige Aushebung des Einzelverkaufes nach sich geführt. Dies geschah nicht etwa infolge eines schweren Verbrechens, sondern wegen kleiner Vergehen, die dem Gesetze nach eine geringe Geldstrafe ahnden sollte. Ebenso traf die Zeitungen eine zweite, ganz unvorhergesehene Strafe: die des Verbotes, Annoncen zu publizieren. Sie wurde zu einer Zeit (1863) für die zensurfreie Presse in Aussicht genommen, als das Annoncenwesen völlig unentwickelt war. Seither hat dieses einen außerordentlichen Aufschwung genommen, und die Unterdrückung des Inserates ist der Unterdrückung der Zeitung selbst gleichbedeutend geworden.
„Im Jahre 1865 war im Senate ein Gesetz beantragt, das Russland eine unabhängige Presse schaffen sollte. Für ihre Missbrauche hätte sie die Strafe des Gesetzes ereilt. Gewisse Einschreitungen durch die Administrativgewalt sollten nur in außerordentlich wichtigen Ausnahmefällen erfolgen. Seither aber ist die staatliche Gewalt über die Presse, von einigen geringfügigen Ehrenbeleidigungsprozessen abgesehen, aus der Hand der Justiz in die der Administration gelangt. Nach dem Geist unseres Pressgesetzes und der Motive, mit denen der Staatsrat dies Gesetz versah, hätte Russland das Recht der freien öffentlichen Diskussion und das der Kritik gewonnen. Tatsächlich besteht weder das Eine noch das Andere. Ja, die administrative Unterdrückung der Presse hat die Vorteile der Aufhebung unserer Präventivzensur vollständig bedeutungslos gemacht. Als 1894 die Cholera in Petersburg auftauchte und die Zeitungen auf die ungenügenden sanitären Vorkehrungen hinwiesen, dehnte der Minister des Innern die Präventivzensur auf sämtliche von der Zensur befreiten Zeitschriften aus, welche die Maßnahmen gegen die Cholera besprachen. Die Zensurierung erfolgte jedoch nicht bei der Staatsbehörde, sondern bei der Stadthauptmannschaft, deren unzulängliche Tätigkeit die Kritik am meisten herausforderte.
„Solche Umstände und eine auch nur oberflächliche Prüfung der Pressverhältnisse zeigen, wie unerläßlich eine Reform derselben sei.
„Sie hätte zunächst nachstehende Wünsche zu erfüllen:
1. Das Recht der Herausgabe von Büchern und Zeitschriften ist nicht von einer vorhergehenden Genehmigung abhängig. Die Einschränkungen derselben müssen im Gesetze vorgesehen sein.
2. Die Sistierung von Büchern und Zeisschristen bleibt dem Gerichte anheimgestellt und darf nur als Strafe für Rechtsverletzungen erfolgen.
3. Das System der Verwarnungen soll aufgehoben werden.
4. Die Verhinderung von unzukömmlichen Publikationen (z. B. Mobilisierungsplänen und Mitteilungen über Verteidigung des Landes und wichtige diplomatische Aktionen) bestimmt das Gesetz.
5. Der Einzelverkauf und die Veröffentlichung von Annoncen kann nicht verboten werden.
6. Pressstrafen soll nur das Gericht aussprechen. Für den Fall eines sofortigen Aufhörens des Einflusses der Administration auf die Presse genügen bis zur Erlassung eines neuen Gesetzes die bezüglichen Bestimmungen des gegenwärtigen Strafgesetzes, welches Vergehen der Presse mit hohen Kerkerstrafen, Verlust aller bürgerlichen Rechte, eventuell Zwangsarbeit ahndet.
7. Das Pressgesetz ist nicht nur auf die hauptstädtische, sondern auf die ganze Provinzpresse auszudehnen.“
„Wie denken Sie sich die Erledigung Ihrer Gesuche?“ hatte man die Vertreter des Presskomitees bei der Überreichung dieser Denkschrift gefragt.
„Durch eine Prüfung der Minister,“ antworteten sie.
In diesem Sinne entschied der Kaiser. Das Promemoria wanderte in den Ministerrat. Hier erhob sich manche Stimme zu Gunsten der Presse, der Beschluss war ein abweisender. „Es sei kein Anlaß, dem bisherigen Gebrauche zu entsagen,“ lautete er. Hievon wurde das Komitee verständigt in einer, wie es scheint, absichtlich schroffen Form — durch die Polizei; aber der Rückschrittsgedanke war doch nicht völlig siegreich gewesen, der Kaiser hatte den Beschluss seiner Räte zur Kenntnis genommen, ihnen aber befohlen, ihm in Hinkunft von allen Maßnahmen, die der Presse gelten, Mitteilung zu machen. Diesem Umstande dankte sie die auffallend bevorzugte Stellung bei den Krönungsfesten. Alle Verfügungen in dieser Richtung sind nach einem Vortrage bei dem Zar erfolgt. Er hatte den Wunsch geäußert, daß man sämtliche dem Hausministerium zugänglichen Beurteilungen und Schilderungen dieser Feste sammle.
„Es wird auch feindselige geben,“ glaubte man bemerken zu sollen.
„Ich wünsche auch diese. Wie können sie schaden, da nur ich sie lesen werde,“ entschied der Kaiser.
Er hatte verfügt, daß zum „Courtage“ alle in Moskau anwesenden Journalisten geladen würden. Eine Stunde vor Beginn des Balles hatten sich diese bei einem Hofbeamten zu versammeln. Er führte sie in den Georgensaal, dem ersten der Prunkräume im Palais des Kreml.
„Hier werden die Herren ein Plätzchen finden,“ meinte er; „es ist der Raum, der früher den Ständen als Aufenthalt während der Hoffeste zu dienen pflegte.“
Eine halbe Stunde später erschien derselbe Beamte.
„Se. Majestät hat verfügt, daß die Herren all seinen Gästen gleich geachtet seien; nehmen Sie Ihre Plätze, in welchem der Säle des Schlosses Sie wollen,“ verkündete er.
Der Kaiser zeigt auch für persönliche Fragen, welche die Presse berühren, die lebhafteste Teilnahme. Die Moskowskija Wjedomosti sind in ihrem Einflusse seit dem Tode Katkows zurückgegangen. Sie werden vom Beginne des nächsten Jahres einen neuen Leiter erhalten, den gelehrten Staatsrat Wladimir Gringmut, der als Freund Katkows bisher die Direktion des Nikolas-Lyzeums in Moskau führte. Er ist ein streng Konservativer, aber voll Begeisterung für die Vermehrung der Mittel des Volksunterrichtes und die Erweiterung der klassischen Bildung. Der Kaiser empfing vor seiner Reise in das Ausland den zukünftigen Redakteur in längerer Audienz und ließ sich von ihm seine Ansichten ausführlich entwickeln.
Ein solcher Geist mußte auf die Pressverhältnisse von Einfluß werden; die drückendsten Bestimmungen der alten Verordnungen scheinen stillschweigend außer Kraft gesetzt, der frühere Pressleiter aus der Zeit Alexanders III. hat einem neuen Manne Platz gemacht, der Geist der Diskussion wird zeitweilig wenigstens aus freieren Gesichtspunkten beurteilt.
„Eine bessere Zeit hat für uns begonnen!“ rief mir in Petersburg General Komarow zu, der ein Vollblutjournalist ist, trotz seiner nach rechts strebenden Gesinnung. „Wir brauchen uns jetzt nicht mehr wie früher nach Ihrer österreichischen Konfiskations-Praxis zu sehnen, die ja auch eine Art Zensur ist!“
„Unsere Presse,“ sagte mir in ähnlichem Sinn ein liberaler Journalist, der jüngste Zeitungseigentümer von Petersburg, „ist nun viel besser gestellt — seit einigen Wochen kann jedermann öffentlich seine Meinung sagen; die Voraussetzung für diese Freiheit ist nur die Lauterkeit seiner Absichten.“
Selbst an hervorragender bureaukratischer Stelle lenkte man meine Aufmerksamkeit „auf die rückhaltslose Sprache der öffentlichen Meinung“.
Die Vertreter der Presse anerkennen diesen Umschwung, aber sie wünschen trotzdem, daß die Regierung einen energischen Schritt weiter mache.
„Was würden Sie tun,“ fragte ich einen der liberalen Wortführer, „wenn Sie selbst zur Macht gelangen würden?“
„Die Presse besser stellen und die Semstwo-Idee Alexanders II. wieder aufnehmen,“ war die Antwort.
Die Erfüllung des letzteren Wunsches scheint augenblicklich aussichtslos, in der Frage der Presse aber kann die Regierung die Forderungen derselben mit nachgiebiger Gesinnung einer neuen Beratung unterziehen. Sie sollte es im Interesse des Volkes wie in dem eigenen! Der öffentliche Geist bedarf einer Vertretung, er kann sie nur in der Presse finden, wenn Russland, wie man sagt, „noch nicht reif ist für eine repräsentative Verfassung“. Die Regierung aber — falls sie wirklich, wie alle Welt im Lande in unbestimmtem Bangen und Erwarten hofft, neue Bahnen wandeln will — bedarf einer freien Äußerung der öffentlichen Meinung als Kontrolle für ihren tausendköpfigen, an die absoluteste Willensäußerung gewöhnten Beamtenkörper.
Einer der russischen Satiriker, deren Macht im Unglück ihres Vaterlandes so gewaltig anwuchs, meinte mit blutigem Spotte: „Oft genug hat sich ein Sturmwind in Russland erhoben, der alles erfasste — auch die bureaukratische Masse, um sie in eine neue, scheinbar bessere Richtung zu drängen. Bald begann das alte Spiel. Alles war Rauch und Dunst gewesen, hinter dem die früheren Mächte lebendig blieben!“ —
Wird die Gegenwart dasselbe traurige Schauspiel bieten? Tradition und Streben nach Reform sind an der entscheidenden Stelle offenbar im Kampfe. Die Zukunft des Öffentlichkeitsrechtes wird zeigen, wer von beiden siegreich blieb. Die Presse fordert keine großen Garantien für ihr Emporblühen. Sie ist zufrieden, wenn die neuen legalen Bestimmungen mit Vorsicht gefaßt, mit Strenge gehandhabt werden; sie will nur, daß die ihr übergeordnete Willkür aufhöre. Was sie verlangt, ist ein Naturrecht — ist der Schutz des Gesetzes und der Gerechtigkeit!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen