Ein Tag bei Leon Tolstoi.

Die russische Literatur des Tages ist mit der, welche bleibende Dauer anstrebt, eng verbunden. Jede Zeitung hat ihren Hausbelletristen und die großen Blätter haben mit schweren materiellen Opfern Ausgaben volkstümlicher Dichter wie Turgenjew und Dostojewski veranstaltet. Beider Popularität ist hiedurch mächtig angewachsen, sie erreicht trotzdem nicht den Nimbus eines lebenden Schriftstellers, der dem Russen die nationale Eigenart am vollsten zu besitzen scheint. Dies ist Leon Tolstoi, der nicht nur seinen Landsleuten als ihr erster Dichter gilt, sondern dessen Wirken auch in der Literatur der Fremde starke Spuren hinterließ. Seine Gedankenwelt lebt in den Werken der jungen Deutschen, Franzosen und Italiener weiter. „Manchmal,“ sagt er, „glaube ich selbst, daß man mich anderwärts wiederholt, und ich meine während der Lektüre fremder Poeten meinen Auffassungen zu begegnen. Aber,“ fügt er bescheiden hinzu, „ich halte dies nicht für Nachahmungen. In bestimmten Zeiten reifen bestimmte Ideen. Ganz unabhängig von ihren Urhebern tauchen sie hier und dort in überraschender Ähnlichkeit auf, genau so wie der Frühling in Moskau, Petersburg, Paris, Berlin und Wien zu gleicher Zeit unter gleichen Erscheinungen lebendig wird. Überall dasselbe Grün, dieselbe Blüte, ja derselbe Vogelsang!“

Tolstoi, der früher nur in der Einsamkeit des Landlebens Behagen fand, ist wintersüber seit Jahren in Moskau. Er besitzt, entfernt von dem Gewühle der endlosen Stadt, ein Haus mit bescheidener schmaler Front, hinter dem sich zahlreiche Wohnräume verbergen. Mit dem Frühling flüchtet der Dichter aus der dunklen Stadt auf sein Gut Jasnaja-Poljana. Dieses liegt nicht weit von dem kleinen Örtchen Tula, auch einer Art Berühmtheit durch die Kunst, phantastische Einfälle in Metall zu ätzen. Seit das silberne Ornament vieux jeu geworden, hat man in Tula die Fertigkeit gelernt, die Solinger Stahlarbeit getreulich nachzubilden und neue Formen für den Samowar, dieses Brutnest russischer Gemütlichkeit, zu ersinnen.


Man gelangt nicht ohne Mühe zu dem Dichter. Die Eisenbahn hat nicht genügend Mittel, dem gewöhnlichen Verkehr zu entsprechen. Starker Menschenandrang, große Verspätungen sind die Folge; die Lokomotive wird zur Schnecke. Man trennt sich in Jassenka von ihr, in einer armseligen Station, die nur durch ihre Nachbarschaft von Jasnaja-Poljana bekannt ist; hier liegt das Erbgut der Tolstoi. Der Graf besitzt es nicht mehr. Er hat bei Lebzeiten — ein moderner Lear — all seine Güter unter seine acht Kinder verteilt. Jasnaja fiel dem Jüngsten, einem kleinen Blondkopf, zu, in dem die Fähigkeiten seines Vaters fortzuleben schienen. Der Letztgeborene genießt in Russland die Vorrechte, die bei uns der Älteste durch die Geburt erhält, vielleicht ein gerechterer Gebrauch, da er den Minder-Entwickelten und Schwächeren bevorzugt. Vor einem Jahre erkrankte der kleine Tolstoi am Scharlach. Inmitten seiner Fieberphantasien faßte ihn die Hand des Todes. „Ich sehe! Ich sehe!“ rief er, und schon war sein Auge für immer geschlossen. So ist Jasnaja-Poljana ein Gemeingut der ganzen Familie geworden, die es von dem achtjährigen Knaben geerbt hat.

Zu Wagen braucht man etwa zwei Stunden von der Bahn zu dem Gute. Ein garstig beschwerlicher Weg! Die Landschaft in dichte Nebelschleier gehüllt, der Regen ohne Ende, die Straßen ohne Grund, und von diesen Wegen glaubte ein militärisches Genie wie Napoleon, daß sie zum Siege führen könnten! Zu allen Jahreszeiten bergen sie den Tod für den fremden Eindringling. Im Winter vernichtet ihn der Schnee, im Sommer der Staub, im Frühling und Herbst der Kot.

Jassenka ist ein kleiner Ort; hinter ihm die Öde der Steppe, weites Weidengebiet, auf dem mageres Vieh grast, Schafe träumen, artig kleine Lämmer von wenig Lebenswochen mit dem Übermut und Ungeschick der Jugend umherhüpfen. Erst nach einigen Meilen tauchen Menschen auf. Die Straße belebt sich, Leute kommen und gehen. Nie allein. Der Trieb, sich anzuschließen, zu verbinden, ist sehr lebendig im Russen. Paarweise versehen Post- und Telegraphenboten ihren Dienst, paarweise tauchen Polizisten und Gendarmen zum Schutze der Straße auf, paarweise kommen Knaben und Mädchen, Männer und Frauen daher; nur selten verrät ein Blick, eine Geberde, ein Wort von ihnen, daß die Liebe auch in dieser gleichgültigen Natur nicht erstarrte, unter den Bauernmädchen mit blauen Augen und zerzaustem Haar, die, wie Pilgerinnen auf ihren Stock gestützt, einherschreiten, ist manche Schönheit. Ihren rosigen Teint können alle Wässer, Essenzen und Schminken Frankreichs der vornehmen Russin nicht auf die fahle Wange zaubern. — Wenn sie sich pflegen könnte!

Die Häuser in den Dörfern sind arg verfallen. Griesgrämig ruhen die Strohdächer wie verschobene Pelzmützen auf den Bretterwänden der kleinen Gebäude, griesgrämig blicken Menschen und Tiere; Pferde mit zusammengebundenen Vorderfüßen machen traurige Galoppversuche, selbst die Hundes sehen griesgrämig zu dem fremden Wagen auf. Sie bellen nicht. In diese Grabesstimmung mit der plätschernden Begleitungsmusik eines endlosen Regens passt kein anderer Laut, und hinter diesem armseligen Dorfe beginnt der Boden die dunkle schwarze Farbe zu zeigen, das Zeichen einer Fruchtbarkeit, die beispiellose Reichtümer erschließen müsste, wenn das Bahnnetz Russlands vollendet wäre! — Nach zwei Stunden — wieder ein Dorf, größer als die früheren, auch die Menschen darin von besserer Art. Wie Sie ihre roten Oberkleider tragen, wie die Frauen ihre Tücher um die Häupter hüllen, das zeigt Geschmack und Schönheitssinn. Die Häuserreihe, die in buntem Auf und Nieder einen Hügel emporsteigt, gehört zu dem Gute des Dichters. Hinter einem großen Teiche beginnt der Park des Herrenhauses; aus seinen Bäumen grüßt ein kleines Schloß — hier wohnt Leon Tolstoi.

Im Parterre des Hauses sind die Wohn- und Arbeitszimmer des Dichters. Sie scheinen mit Büchern und Instrumenten angefüllt. Tolstoi hat den Sport, die Gegenstände, die er braucht, persönlich anzufertigen, kurz, all seinen Bedürfnissen selbst zu genügen; er liebt es nicht, fremde Augen in seine Werkstätte blicken zu lassen. Er empfängt in dem großen Speisesaale im ersten Stock, von dessen Fenstern der Blick weit in die Ebene hinausreicht: über Felder und Wiesen, Eichen und Birken, Tannen und Fichten — bis zu den Dörfchen der Nachbarschaft, die freundlich herübersehen.

Das große Gemach ist weiß getüncht, es zeigt wenig Schmuck, nur aus den Ecken blicken Büsten Tolstois, von guter Künstlerhand geformt; die Tische zieren Nachahmungen der bekannten Plastik, die den „Dichter“ vor dem Pfluge darstellt. Die Möbel stammen aus der Zeit Alexanders I., in welcher dieser Herrensitz neu gebaut wurde, zum Teile auch aus älteren Epochen, die mit der buntfarbigen Lackmanier des russischen Kunstgewerbes unverwüstliche Erfolge erzielten. Alte Ahnenbilder an den Wänden des Saales erzählen ein Stück Geschichte. Es reicht weit in die Vergangenheit zurück. Im Rate der neun Richter, die Alexis, den Sohn Peters I., wegen seines geheimen Einverständnisses mit Wien und dem deutschen Kaiser verurteilten, sprach ein Tolstoi das entscheidende Wort. Seine nächsten Nachkommen, Hofgenerale und Hofminister, lebten im Rokoko von Petersburg mit seiner schlüpfrigen Liebes- und Günstlingszeit. Nun haftet ihr Auge erstaunt auf dem Treiben des Enkels, der die große Katharina wie ihren mächtigen Ahnen Peter mit aller Härte verdammt, weil er sich den Erfolg auch im politischen Leben ohne sittlichen Ernst nicht zu denken vermag. Wie höhnisch würden diese gepuderten Köpfe, falls sie noch lebten, einen so naiven Ernst beurteilen? Die Tolstois, die unter Leichensteinen ruhen, waren lustige Brüder; unter ihren Händen, auf ihren Lippen, in ihrer Kehle verschwanden Wohlstand und Reichtum des Hauses, und dessen Mitglieder rückten von der höheren auf eine tiefere Stufe, ja eine der Frauen von ihnen wanderte verdrossen und vergrämt in die Grabesnacht des Klosters.

Das Bild der Nonne hat den Ehrenplatz im Saale. Lebt ihr religiöses Empfinden in dem Dichter weiter? Führt der christliche Sinn in seinen Werken und Reden, der die höchste Verehrung für die evangelische Weisheit fordert zu dem rätselhaften Fragezeichen in dem träumerischen Antlitze einer Frau, deren Lebensgeheimnis die Klosterzelle abschloss?

Tolstoi, der bald selbst vor uns steht, macht so neugierigen Fragen ein Ende. Er ist von achtunggebietendem Eindrucke. Eine hohe Gestalt. Die achtundsechzig Jahre seines Lebens haben ihn nicht gebeugt. Die mächtige Figur, der gewaltige Kopf mit der breiten Denkerstirne und den klug fragenden Augen, der weiße Vollbart, der bis zur Brust herniederwallt, erinnern an Buonarotti [Michelangelo B., (1475-1564) italienischer Maler, Bildhauer und Architekt, einer der größten Künstler aller Zeiten]. Die Natur — wie jede schaffende Kraft vor Nachahmungen nicht zurückschreckend — gefiel sich öfter in Wiederholungen von dessen prächtiger Erscheinung. Auch Tolstoi ähnelt dem großen Meister, er trägt den Kopf Michel Angelos, nur ist dieser ein wenig ins slawische umgeprägt. Man hat den Dichter wie einen Bauer oder wie den Helden des bekannten russischen Romans geschildert, der sich in einen groben Kittel steckt und, weltverachtenden Launen nachhängend, zum ursprünglichen Volkstum zurückkehrt. In Wahrheit liebt er, wie dies die meisten russischen Grundbesitzer tun, eine Flanell- oder Tuchjacke, die ein breiter Gurt zusammenhält; er sieht darin ähnlich wie unsere Maler oder Bildhauer in ihrem Atelierkleide aus. Er reitet, marschiert wie ein Jäger und beherrscht, nachdem er die Jagd aufgegeben, das Fahrrad mit Gewandtheit. Er legt auch Hand an die ländliche Arbeit, genau wie dies Gladstone tat, der mit silberner Art Holz zu spalten pflegte. Das hat ihn frisch und elastisch erhalten. Schreitet er neben seinem Gast hocherhoben, kerzengerade einher, so hat man den Eindruck, einen älteren Offizier zu sehen, der sich in weiser Entsagung, von dem Treiben der Welt angeekelt, in die Einsamkeit flüchtete. Er liebt keinen Komfort; der Charakter seines Hauses ist trotzdem auch äußerlich vornehm. Wenn die Glocke zu Tische ruft, erscheint das Menu des Grafen von buddhistischen Launen bestimmt, es gibt weder Fleisch, noch Milch, noch Eier, aber die Kunst seines Koches weiß die Gerichte der Vegetarianer schmackhaft zu machen, und Tolstois Hafergrütze ist ein mehr als annehmbares Gericht. Umgebung und Gäste des Dichters haben neben ihm ihr eigenes Mahl. Es ist vortrefflich bereitet, man speist auf englischem Porzellan, ein geschickter Diener serviert. Die Frau des Hauses hat den Vorsitz, eine Dame von Welt; ihr Salon in Moskau ist ein Anziehungspunkt aller geistig Wirkenden der Stadt.

Die Gräfin ist wie ihr Gatte, der die Ungerechtigkeit der herrschenden Ordnung tapfer bekämpft, aus guter Familie, ihre Mutter war von Adel. Ein Zug von wehmütigem Verlangen nach der alten Zeit mit ihrem Noblesse oblige, ihrer anmutenden Wohlerzogenheit ist noch lebendig in ihr. Das hindert nicht, daß sie im Sinne Tolstois Gutes tut, die Armen unterstützt, Schulen fördert und auch der Tochter Tatjana zustimmte, als diese ein Stück des Gutes, das ihr „Papa“ geschenkt, nach dem System Henri Georges [(1839-1897), nordamerikanischer Nationalökonom, Vertreter der „single tax“ d.h. Besteuerung von Grund und Boden als einzige Steuer] zu verwalten begann. Die Bauern erhielten Anteile, zahlten eine Pachtsteuer, die nur zu Schul- oder Spitalbauten verwendet wurde und behielten den Reinertrag für sich. Solche Neuerungen erweckten die Aufmerksamkeit der Regierung, die dem Dichter nicht freundlich ist; selbst der Hof blickte fragend und voll Interesse nach dem Herrensitze von Jasnaja-Poljana.

Alexander III. ließ eines Tages die Gräfin zu sich bitten. „Die Kaiserin kam dazu, man sprach,“ erzählt Gräfin Tolstoi, „eine Stunde über Literatur, den Grafen, sein Wirken, auch über Volk und Dinge in Russland. Der Zar zeigte sich nicht immer unterrichtet, aber die Absicht, Gutes zu fördern und nur in diesem Sinne zu wirken, lebte in jedem seiner Worte. Als ich von ihm ging, hätte ich ihm segnend die Hände aufs Haupt legen mögen mit dem Wunsche: Gott schütze dich! Du bist ein guter Mensch!“

Eine Erzählung in diesen Farben kommt sehr unerwartet im Hause des kühnen Denkers, der die Stützen der Throne nicht zu schonen pflegt und am liebsten die Republik aus ganz Europa ausgedehnt sehen möchte, aber die Natur Tolstois ist tolerant. „Ich beschäftige mich,“ sagte er mir im Laufe des Gespräches, „mit dem Gedanken einer Zeitungsgründung, ich dachte an ein Organ, das meine Ansichten verbreitet. Ich bin nun anderer Meinung. Ich würde gerne ein Journal, und zwar in London ins Leben rufen, das auch den Anschauungen der Gegner, den Konservativen Rechnung trägt. Ich denke, ein Ausschuß, in dem diese vertreten wären, hätte über Aufnahme und Ablehnung aller Beiträge zu entscheiden. Für beides sollte in erster Reihe die Ehrlichkeit der Gesinnung maßgebend sein.“

„Ist es möglich, daß eine in sich so widerspruchsvolle Zeitung wirkt?“

„Ist es möglich, daß eine reine, hingebende Erörterung der Dinge nicht schließlich zum Ziele führt?“

Frage und Gegenfrage lenken in ein Gespräch über die Ansichten und Ziele des Grafen auf sozialen, politischen und den Gebieten der Kunst, das ein fesselndes Bild seiner geistigen Persönlichkeit gibt.

„Ich bin ein Anarchist,“ sagt er, „aber ein Anarchist im guten Sinne, nicht in dem, welchen das Wort durch die Ausbrüche der Leidenschaft erhielt. Ich finde unsere Einrichtungen ungerecht, gewaltsam, wider die Natur, deshalb bekämpfe ich sie, doch suche ich Reformen nicht im Wege des Zwanges, sondern nur durch die Einwirkung auf die herrschenden Überzeugungen. In diesem Grundzuge meiner Anschauungen liegt ein Gegensatz zu den Regierenden, die ohne ein Maß von Gewalt nie auszukommen pflegen. Ich beschäftige mich mit Vorliebe mit der Frage des Eigentums. Ich glaube, Henri Georges macht gute Vorschläge zur Anbahnung ihrer Lösung. Man sagt mir, meine Bestrebungen könnten den Einfluss der Individualität, dessen die Welt nicht entbehren kann, zerstören. Das will ich gar nicht. Wer die Flugmaschine ersinnen möchte, braucht deshalb die Gesetze der Schwerkraft nicht zu vernichten. Wir Russen haben einen besonderen Sinn für diese Frage und alles, was in ihr Gebiet fällt. In unserm Gebiete lebt das Gefühl für Association. Die Maurer, die Sie draußen mit der Herrichtung und Vergrößerung meines Hauses beschäftigt sehen, bilden einen Artel, einen Bund; sie bestimmen den Preis für den Arbeitnehmer, sie setzen die Entlohnung für jeden Einzelnen unter sich fest, und zwar nach Maßgabe seines Fleißes und seiner Fähigkeit, nur glaube ich, sie kümmern sich nicht genügend um den Spruch des Evangelisten, der auch den Späterkommenden, das ist den Schwachen und Minderjährigen, ein gleiches Maß zuerkennen wollte. Das wird man in Zukunft müssen, wenn dies auch alle unsere Einrichtungen erschüttern und große geistige Kämpfe verursachen sollte. Schon der Evangelist kannte die Gefahr, die in dieser Notwendigkeit liegt. Er spricht von dem harten Strauße, den die Besserung herbeiführen wird.“

„Die Streitfragen des Tages aus der Gesichtswelt des Evangeliums zu betrachten, ist gewiß sehr religiös.“

„Ich bin es auch. Ich bin religiös in dem Sinne, daß ich wünsche, eine große Weltanschauung, welche die reifsten und edelsten Gedanken umspannt, möge herrschend sein für alle moralischen und gesetzlichen Grundlagen unserer Kulturwelt. Ist dies einmal der Fall, dann wird alles, was moralisch ist, auch ökonomisch, sozial und politisch sein und sich als ganz richtig, zuträglich und vorteilhaft für die Gesamtheit erweisen. Diese Moral ist in unserem Christentume enthalten, allerdings in dem Urchristentume, in seiner unverfälschten Reinheit, die dem Wesen und nicht der Form dienen wollte. Mit dem, was später entstand, habe ich nichts zu tun. Ich bekämpfe diejenigen, welche den Glauben missbrauchen und die Menschen in geistiger Umnachtung erhalten wollen, welche sich der Bildung widersetzen, um selbst ohne Bildung herrschen zu können. Ich war und bin ein Vorkämpfer der Schule und des Unterrichtes, in denen ich ein Mittel sehe, die Zukunft zu gewinnen. Man muß nicht Wunder von der Bildung und Kultur erwarten, sie werden das Paradies nicht herstellen, so wenig wie die Aufhebung der Leibeigenschaft allen Wünschen genügen konnte, aber eine Besserung, einen großen Fortschritt, werden sie genau so wie diese bedeuten, unsere sozialen und politischen Ideale wechseln eben; was uns heute Gegenstand der Sehnsucht war: die Konsumtion für die Einen, das allgemeine Stimmrecht für die Anderen, die staatliche Einheit für die Dritten, ist morgen überholt. Die Zeit arbeitet immer weiter und fordert unablässigen Fortschritt und immer neue Ziele.“

„Diese Worte rechtfertigen in gewissem Sinne den vielgelästerten Liberalismus.“

„Ich unterschätze ihn durchaus nicht. Er ist hier in Russland in zahlreichen Vertretern lebendig. Sie stecken in den Zeitungen, in der Jugend, in der Literatur; wenn die Liberalen den Boden hier wie anderwärts verlieren, so liegt die Ursache darin, daß der Liberalismus zu langsam vorwärts ging, ja daß er in letzter Zeit völlig stille stand. Er bedarf einer Häutung. In dem Streben, Kompromisse zu schließen, hat er überall Überzeugungsopfer gebracht. ,Wir wissen‘, sagten da und dort seine Führer, ,daß unsere Regierung schlecht ist‘, aber um einen Fetzen von Macht und Vorteil verständigen sie sich mit ihr; ,wir wissen, daß die kirchlichen Parteien eine Gefahr für den Fortschritt sind‘, dennoch drückte man ihnen heimlich die Hand; ,wir wissen, daß im nationalen Gedanken eine Beschränkung liegt, wir wollen ihn trotzdem fördern helfen.‘ Solches Vorgehen halte ich für einen Fehler, für ein Unglück der Gesamtheit, denn der Liberalismus verfügt über große Begabungen und bedeutungsvolle Kräfte, sie sind verloren für den Kampf um die edelsten Güter der Menschen. Ein mächtiger Strom, geeignet, die Welt vorwärts zu treiben, dreht sich um das kleine Mühlrad des Gewöhnlichen. Das Rad bleibt an seiner Stelle, das Wasser fließt kraftlos ab. Ich hatte eine Polemik mit dem Dichter Spielhagen. Nicht meine Auffassung in der bezüglichen Frage, meine Kampfesweise weckte seinen Unwillen. ,Nicht laut und stürmisch,‘ meinte er, ,man erörtere heikle Fragen in der Literatur, in den Zeitungen, im Theater mit einer gewissen Vorsicht.‘ — Die Sprache des echten Liberalen! Ich aber bin nicht der Meinung, daß sie gut ist. Die Begeisterung für Überzeugungen braucht die Vorsicht nicht. Wer im öffentlichen Leben ein Ziel erreichen will, muß womöglich Wünsche äußern, die über dieses hinausgehen, wenn er wirklich au die gewünschte Stelle gelangen will. Er bedarf deshalb zunächst der Entschlossenheit, Opfer zu bringen, er muß gewillt sein, in den Kampf, nicht in ein Scheingefecht zu gehen.“

„Welche Partei zeigt nun Ihrer Meinung nach diese Eigenschaft?“

„Darauf wird die Antwort nicht leicht. Parteipolitik existiert überhaupt nicht für mich. Ich bin Kosmopolit und erkenne die Schlagworte, die bei uns herrschend sind, nicht an. Ich habe mich jüngst über eines derselben, über das kleine und so vielvermögende Wort „patriotisch“ geäußert. Was in Europa häufig als Patriotismus gilt, erscheint mir viel mehr zu der Weltanschauung, welche von dem Christentum zerstört wurde, als zu diesem selbst zu neigen, auch die Republikaner und die vaterlandslosen Sozialdemokraten sind, nach den Berichten über ihre Versammlungen zu schließen, in dieser Frage lange nicht so weit vorgeschritten wie ich.“

„Und Sie erwarten dennoch eine Besserung in Ihrem Sinne?“

„Gewiß. Die öffentliche Meinung wird umschlagen. Aus ihrer Unzufriedenheit wird sich die Zukunft entwickeln. Negativ werden hiezu gerade Jene beigetragen haben, die manchen der heutigen Zustände, die erdrückende Militärlast zum Beispiel, herbeiführten. Ich halte es für sicher, daß die Zukunft sich gegen sie auflehnen muß. Eine Österreicherin, Frau Suttner, hat ein schönes Buch zu dieser Frage geschrieben: „Die Waffen nieder!“ Ich wünschte, daß es immer mehr Verbreitung fände. Mit seiner Schlussabsicht bin ich allerdings nicht einverstanden. Ein Friedensgericht in Europa, das den Krieg hintanhalten soll: der Plan erinnert an den unserer Kinder, die Vögel fangen wollen, indem sie ihnen Salz auf den Schwanz streuen. Ein Friedensgericht würde nur die Gefahr für den Friedlichen erhöhen, denn einen Napoleon oder Bismarck wird es immer geben, immer auch die sogenannten Patrioten, die ihnen willig Heerfolge leisten. Nein, der Krieg gegen den Krieg muß anders geführt werden. Die Geister müssen gewisse Begriffe umwandeln — die Begriffe von Mut, Tapferkeit, Heldentum, man muß von der Armee, den Kasernen, dem Kriege andere Auffassungen erhalten, als die, welche heute gelten; man muß sie für eine Gefahr, für ein lästerliches irreligiöses Übel, für ein Unglück ansehen, das zu fördern verwerflich ist; ein solcher Gedanke erscheint jetzt unmöglich, aber man bedenke doch, welche Umwälzungen die Ideen der römischen Epoche erfuhren, als das Christentum siegreich wurde. Die ersten Anhänger des Evangeliums wurden wie Räudige verfolgt. Nach etwa zwei Jahrhunderten beschloß der Senat von Rom, in dessen Fenster die Statuen der heidnischen Götter noch herein blickten, daß das Christentum Staatsreligion sein müsse und der Götzendienst abzuschaffen sei. Ich verzweifle deshalb nicht an der Zukunft. Sie wird klüger, egoistischer und „patriotischer“ denken, als die Gegenwart. Die Besserung wird von oben und unten kommen. Heute schon gibt es eine Seite, die Nazarener. Sie zählt an dreißigtausend Angehörige, die Alle das Kriegshandwerk vom Standpunkte des Christentums als unzulässig bezeichnen und den Eintritt in das Heer, wenn es sein muß, mit Gewalt verweigern. Ich kann Ihnen Briefe zeigen, die beweisen, daß diese Genossenschaft, selbst in Ihrer Heimat, in Österreich Anhänger hat. Davon wissen Sie gewiß nichts.“

„Unsere Aufmerksamkeit ist leider auf die lärmenden Parteien beschränkt.“

„Oh! Sie meinen Ihre Antisemiten! Ehrlich gesagt, diese Parier verstehe ich nicht, auch die Mittel nicht, die gegen sie in Verschlag gebracht werden, zum Beispiel den Judenstaat — die Frauen aber begreife ich am wenigsten, die den Antisemiten helfen — dieselben Franen, für deren höhere Stellung im sozialen Leben wir kämpfen, weil wir von ihrer milderen und edleren Natur einen wohltätigen Einfluss auf die Gesellschaft erwarten. Jüngst war ein polnischer Abgeordneter ans Österreich bei mir. Er wollte mir erklären, daß die Antisemiten Liberale seien, die nur die Ausschreitung des Kapitals bekämpfen wollen. ,Aber die Gleichheit der Menschen?‘ fragte ich ihn, denn daß alle Menschen gleich sind vor dem Gesetze, halte ich für ein unumstößliches Gebot. Traurig, wenn dies Gebot im Gesetze noch nicht geregelt ist, trauriger noch, wenn dies der Fall ist und der Staat sein eigenes Gesetz unbeachtet läßt. Nach meiner Meinung hat dieser Staat seine Existenzberechtigung verloren.“

„Man zitierte jüngst ein gutes Wort von Bismarck in diesem Sinne: „La recherche de la confession est interdite.“ [Die Nachforschung nach der Religion ist verboten]

„Auch Nikolaus II., der die Meinungs-Unerschrockenheit der Jugend hat, äußerte sich ähnlich. Man legte ihm die Conduite-Liste der Offiziere vor. Sie enthielt eine Rubrik über die Religion. ,Was wollen Sie damit?‘ fragte er. ,Das kümmert uns nichts, es ist ja ohne Einfluss auf die Conduite!‘ — Doch nun genug von Politik und Sozial-Theorie. Der Regen hat aufgehört, besichtigen Sie ein wenig mein Gebiet.“

Man durchschreitet den Park, dessen junges, kaum ersprossenes Grün einen mächtigen Teich umschließt. Hohe Alleen führen nach allen Richtungen, „unter den Linden“ wird das Gespräch wieder lebendig. Der Blick zwischen den Bäumen führt zu dem kleinen Dorfe hinüber.

„Dort,“ Sagt Tolstoi, „ereignete sich die Handlung meiner ,Macht der Finsternis‘. Ich war eines Tages in Tula bei einem Freunde, dem Staatsanwälte dieser Stadt. Er erzählte mir einen Gerichtsfall, erfüllt von Greueln des Mordes, der Unzucht und Schrecklicher Sühne. Ich brachte ihn tieferschüttert zu Papier. Das muß aufs Theater, glaubte ich, wiewohl ich bis dahin nur ein Luftspiel für die Bühne gelegentlich eines Festes meiner Kinder schrieb. ,Die Macht der Finsternis‘ sollte nach meiner ersten Absicht lediglich zur Belehrung auf einem Bauerntheater gespielt werden. Diese Volksbühne wurde nicht gestattet, das Stück verboten, erst der jetzige Kaiser gab es frei, und es wird nun überall in Russland aufgeführt. Ich hätte noch manches von der Bühne zu sagen, aber ich bin zu sehr beschäftigt mit philosophischen Arbeiten, die meinen Gedankennachlass enthalten sollen.“

„Vielleicht ist das minder beklagenswert, da die Bühne heute nicht erfreulich wirkt.“

„In Deutschland sicherlich nicht. Wie seltsam, daß die Siege von 1870 so unglücklich auf die deutsche Literatur gewirkt haben. Mir pflegen Sudermann und Hauptmann einige Freude zu bereiten. Beide schon deshalb, weil durch sie Ibsen in den Hintergrund gedrängt wurde. Mit ihm geht es mir wie mit manchem, was die Welt törichterweise begeistert. Ich verstehe ihn und den Kultus nicht, den seine Anhänger treiben. Vielleicht wirkt das Dunkel seiner Worte, hinter dem er seine Absichten zu verbergen pflegt, auf sein Publikum; mir hat keines seiner Stücke Erhebung, Freude, ja auch nur Interesse eingeflößt. Ähnlich ergeht es mir mit dem neuen Wagner. Man gab jüngst „Siegfried“ in Moskau, denn der Gouverneur ist ein Anhänger von Wagners Richtung. Ich habe immer nur einen halben Akt dieser beschreibenden Musik ertragen. Welche Langeweile! Ich halte die „Nibelungen“ für das schwächste der großen Epen. Wagner hat sie in seiner sogenannten Dichtung noch verschlechtert und dazu eine Schilderungsmusik gemacht, die nur den Moment im Auge behält. Ich meine, jeder Mensch von Fertigkeit und Reimkunst kann zu den Tönen einer Beethovenschen Symphonie leicht ein paar Verse schmieden; deshalb ist er kein Dichter. Nur eine bestimmte poetische Idee verleiht literarischen Werken ihre Bedeutung. Den Mangel an Konzentration, an innerem, natürlich entwickeltem Streben zu klar fassbaren Zielen finde ich bei Ibsen wie bei den letzten Sachen Wagners. Mir erscheinen sie nur uninteressant.“

Tolstoi, der unablässig Sprachstudien treibt, beherrscht die Literatur der führenden Böller. Er liebt von den Engländern Shakespeare, schätzt von den jüngeren Franzosen Maupassant am höchsten, mit Dumas fils verband ihn eine treue Freundschaft, Zola vermag er nur selten Geschmack abzugewinnen. Es ist sehr anregend, seinen kritischen Einfällen auch auf diesem Gebiete zu folgen, sie streifen fortwährend die sozialpolitischen Fragen.

So fesselnd es ist, Tolstoi, dem das Wort leicht und absichtslos von den Lippen fällt, zu hören, so schwer wird es mitunter, einzelne seiner Äußerungen in voller Treue wiederzugeben. Er liebt starke Ausdrücke. Manchmal glaubt man einem wiedererstandenen Brutus, dann wieder einem der unerschrockenen Kirchenväter zu lauschen, denen es unter ihrer härenen Kutte ernst war mit dem Christentum und die als leidenschaftliche Revolutionäre die Welt zu erobern suchten. Wie sie, ist auch Tolstoi ein heftiger Gegner des „Pfaffentums“. „Die Macht der Finsternis“, sein Bühnenwort an das Volk, will zeigen, wohin dessen planmäßig herbeigeführte Verdummung führt. Zornig und drohend weist der Finger des Dichters auf jene Dunkelmänner, die seit Huttens Tagen so oft besiegt immer wieder, wie das Schreckbild der Mythe, erhobenen Hauptes auferstehen. Tolstoi ist ein Weltbürger, durchglüht von dem Geiste der Toleranz und Menschenliebe, der das Ende des vorigen Jahrhunderts verklärte. Er ist kein Himmelsstürmer. Der kühne Spott Voltaires — er kennt ihn nicht, der heidnische Prometheusfunke Goethes wurde nicht lebendig in ihm. Wie Loyola wählte er nach einer fröhlich verlebten Jugend eine ernst-zurückgezogene Lebensweise, um sich in seine Gedankenwelt einzuspinnen, aber dieser christliche Umstürzler kämpft für die Freiheit! Er ist der Mann kommender Zeiten. Mag die praktische Gegenwart seine Gedanken für Utopien halten, die Zukunft wird ihnen Rechnung tragen.

Es war Morgen, als ich dem Dichter nahen durfte, tiefe Nacht, als ich Abschied nahm von ihm. Lange erschien auf dem Rückwege seine Heimstätte noch sichtbar. Geisterhaft umspann der Mond die Linien des alten Schlosses. Auch in diesem blieb es lebendig, von hellem Scheine erfüllt blickten die Fenster in die ebene dunkle Landschaft. Das Haus Tolstois grüßte wie eine Stätte des Lichtes, wie ein Wahrzeichen, daß kühne Geister über die Macht der Finsternis siegen werden.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen