Bei Pobedonoszew.

Nicht weit von der stolzen Peters-Statue Falconets erheben sich auf einem der größten Plätze von Petersburg zwei Gebäude, die ein hoher Bogengang verbindet. Das eine ist das Haus des obersten Gerichtshofes, des Senats, das andere gehört dem Heiligen Synod.[ ständiges Gremium, das sich an der Spitze der orthodoxen Kirchen befindet.] Über beide breitet ein Riesenbild der Gerechtigkeit segnend die Hand, In dem Synod ruht die Macht der orthodoxen Kirche, Patriarchen und Popen zweier Weltteile sind ihm untertänig. In den von seiner Wirkungssphäre berührten kirchlichen Gebieten fehlen die Bedingungen für den kühnen Übermut und die stolzen Herrschergelüste der Priesterwelt des europäischen Westens. Auch in Russland war nach Zertrümmerung der heidnischen Götzenwelt die Kirche dem Staate übergeordnet — die erste Tat regierungskluger Zaren änderte dieses gefährliche Machtverhältnis. Staat und Kirche wurden gleichberechtigt; dabei hatte es nicht lange sein Bewenden; um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, zur selben Zeit, wo Deutschland und seine Nachbarländer von den Reformationskriegen zerfleischt und die Früchte der edelsten Kulturbestrebungen in einem Blutmeere erstickt wurden, besiegelte zu Moskau die Absetzung des berühmten Patriarchen Nikon die Oberhoheit des staatlichen Synod über alle geistige Macht. Peter der Große, Katharina II, Nikolaus I. haben die kräftige Einflussnahme des Staates auf die russische Kirche noch erhöht. Der Papst derselben ist der Präsident oder Oberkurator des Synod, er besitzt an kirchlicher Macht nicht weniger als der Heilige Vater in Rom, ohne daß er eine geistliche Würde inne hätte, und wiewohl er nur ein einfacher Staatsminister ist, dessen Gewalt in erster Linie vom Zar abhängt.

Diese Würde hat im Augenblicke Heer Pobedonoszew inne, einer der intimsten Ratgeber Alexanders III. und wohl der mächtigste Staatsmann, der in dessen Regierungsepoche gewirkt hat. In den letzten Lebensjahren des verstorbenen Kaisers ist sein Einfluß beträchtlich gesunken, aber bis dahin hat es kein Gebiet der Verwaltung, der Justiz, der Wissenschaft, ja selbst der Kunst gegeben, das nicht von seinem Willen abhängig gewesen wäre. Er galt als der Inbegriff des Systems seines Herrn, als die Hoffnung der altrussischen Partei mit ihren seither wesentlich geänderten Anschauungen, als der Schrecken der freisinnigen und radikalen Elemente, die in einem Gemisch von Verzweiflung und Staunen über diese ungewöhnlich energische Natur ihr Walten empfanden. Denn eine große Willenskraft gewinnt in Russland Anerkennung auch bei dem Gegner. „Als Korporal gilt,“ wie eine alte Volksregel meint, „wer den Stock zu Schwingen weiß.“ Es ist ganz im Geiste dieses Sprichwortes, wenn ein politischer Widersacher Pobedonoszews das folgende Urteil über ihn fällt:


„Er ist ein Talent und ein Charakter, er ist im Innersten überzeugt von der Nichtigkeit dessen, was er will, und hat nichts von dem Verächtlichen der opportunistischen Lakaien, die sich jedem Gegner um den Preis der Macht unterordnen. Die Eignung, seine Absichten und Meinungen denen anderer anzupassen, fehlt ihm. Das hat ihm den Weg zu dem Vertrauen Alexanders III. geebnet. Als ihn dieser an die erste Stelle schob, dachte er durchaus nicht daran, einen exorzistischen Zauberer zu finden, der dem Volke die Freiheitsgedanken austreibt. Er suchte damals nur, wie der Tyrann des Schillerschen Dramas, nach einem ,Menschen‘, der ihm ,Wahrheit‘ gab. Er kannte Pobedonoszew sehr genau aus der Zeit, da dieser sein Lehrer war. Er wußte, daß er das besaß, wonach der Zar strebte: die rückhaltlos durch nichts und durch niemanden zu erschütternde Offenheit seiner Meinung. So kam es, daß dieser Mann, der als Lehrer des Zivilrechtes in Moskau sich zu der ersten Autorität auf juristischem Gebiete emporgearbeitet hatte, um später an die Spitze der Kirche zu treten, nun ganz Russland seine Hand fühlen ließ. Die Überzeugungen, die ihn erfüllten, kennt die Welt. Er hat eben jetzt ans Anlaß seines Amtsjubiläums ein Buch herausgegeben, das dieselben lebendig widerspiegelt. Er geht darin allem zu Leibe, was ein aufgeklärter Geist als die höchsten politischen Errungenschaften ansieht, die ,Schlagworte des Westens‘ erscheinen ihm wider die Natur der lokalen Eigentümlichkeit Russlands, er verabscheut die Institution der Geschwornen, der unabhängigen Presse, des Parlaments, er ist für ideale Richtungen, aber nur für die, welche den Untergrund der Gläubigkeit bilden Die Überzeugung der österreichischen, heute wiedererstehenden Konkordatsepoche ist auch die seine, er will, daß die Kirche allein dem Staate seine Rechte sichert und den Gehorsam des Volkes dauernd erhält. Er fühlt, daß jetzt der öffentliche Geist Russlands umschlägt. Nikolaus II. verdammt die Schulfeindlichkeit des früheren Regimes. Der junge Zar ist der Überzeugung, daß die Zukunft des Reiches einer Vermehrung der Bildungsmittel bedürfe. In den Stiftungsakten aus Anlaß der letzten Krönung sollte deshalb diesem kaiserlichen Wunsche gemäß die Gründung von Schulen besonders berücksichtigt werden.

„Wenn schon Schulen geschaffen werden müssen,“ meinte der Leiter des Synod, „so sollen es zum mindesten Klosterschulen sein, die unter geistlicher Aufficht stehen.“

Pobedonoszew ist durchaus nicht blind für die Reformbedürftigkeit Russlands, und da mit der Glaubenstreue allein ihr doch unmöglich Genüge geschehen kann, predigt er, nur dem russischen Bauer zu vertrauen, von ihm werde die Besserung schon kommen. Aber dies Programm der alten Russophilen, das mit dem Schlagworte „Rückkehr zum Volke“ nur den Mangel einer wirklichen Reformidee zu verhüllen suchte, hat schon Turgenjew mit erbarmungslosem Spott verurteilt.

„Sie bücken sich,“ schrieb der große Dichter, „vor dem Muschik.“ „Heile du uns,“ flehen sie zu ihm, „sonst muß Russland sterben.“ — Der kluge Bauer aber gibt seinen gebildeten Verehrern zur Antwort: „Bekehre mich, statt so zu reden, wenn du mich wahrhaft liebst, denn sonst verkümmere ich in der Finsternis!“

Augenblicklich ist Pobedonoszew auf seiner Sommerfrische in Oranienbanm, einem unansehnlichen Örtchen an dem finnischen Meerbusen, das der Günstling der ersten Katharina, Mentschikow, gegründet hat. Das Haus des Ministers in Petersburg, ein dunkelgrau getünchter Bau in der Nähe des Anitschkow-Palastes, den Alexander III. bewohnte, ist halb verödet. Nur ein Polizist an der Pforte und ein paar ausnehmend höfliche Diener im Flur erinnern an den einfach-vornehmen Haushalt des reaktionären Feuerkopfes, der trotz seiner siebzig Jahre vor nicht allzu langer Zeit eine junge hübsche Frau heimgeführt hat.

Auch in dem Heiligen Synod herrscht auffallende Ruhe. Müde auf seinen Stock gestützt, hält der Portier in seinem Scharlachmantel schläfrig Wache; niemand kommt und geht, die Sonne brennt heiß auf die hohen Granitstufen vor dem Eingang hernieder. Die Leitung der orthodoxen Kirche liegt offenbar im Sommerschlaf. Zweimal in der Woche scheucht sie Pobedonoszew aus demselben. Montag und Mittwoch kommt er nach der Stadt, um die wichtigsten Geschäfte zu erledigen und Empfang zu halten. Das Bild vor dem Synod wird da ein anderes. Er pflegt pünktlich um zwölf Uhr einzutreten; zwei Stunden vorher füllen sich die Vorsäle mit Bittstellern aus allen Klassen und Volksschichten, mit Popen, Geistlichen verschiedener Grade, Beamten in kleidsamen Uniformen, Bauern in der pelzverbrämten Volkstracht. Ein Diener an der Tür empfängt sie, fragt nach ihrem Begehr, dann treten sie ein und verbeugen sich tief unter frommen Kreuzeszeichen vor einem großen Marienbild, zu dessen Füßen in goldiger Lampe ein „ewiges Licht“ brennt. Dies Bild stimmt nicht ganz zu dem feierlichen Ernste des Gemachs, in dem nur ängstliches Flüstern herrscht und niemand die Stimme laut zu erheben wagt. Die heilige Maria ist mit realistisch-natürlichem Sinne von kecker Hand hingemalt. In vollem Mutterglück blickt sie heiter fröhlich, wie beseligt mit schönen Frauenaugen aus dem hellen Goldgründe, dessen Erfindung die russischen Kirchenhistoriker dem Apostel Lukas zuschreiben. Die Leute in der Nähe des Heiligenbildes sind offenbar sehr gläubiger Natur, die frömmsten von ihnen halten krampfhaft Rosenkränze in der Hand, deren Kugeln mechanisch heruntergleiten. Auch an Frauen fehlt es nicht; sie sind von ärmlichem Aussehen: kleine, hagere, abgehärmte, auch verkrüppelte Gestalten aus jener großen Familie der Zurückgesetzten, die in ihrem Aschenbrödellose vergeblich von dem schönen Ausgange des Märchens träumen. Die älteren dieser Beklagenswerten blicken scheu wie Nachvögel hinter den Riesengläsern ihrer Hornbrillen hervor. Nein, die Schönheit muß man hier nicht suchen! — Vielleicht doch — in einer kleinen verschwiegenen Ecke, aus welcher der schwere Duft englischer Parfüms immer stärker und kräftiger dringt — hinter dem dichten Gewebe eines schwarzen Spitzenschleiers. Stolz, majestätisch ist seine imposante, in den dunkelsten Farben gekleidete Trägerin mit der vornehmen Haftung angeborenen Adels hereingerauscht; nachlässig sank sie auf den Platz am Kamin, den man ihr ehrerbietig angewiesen, neugierig stiegen die Blicke der immer zahlreicher werdenden Tschinowniks zu dem verschleierten, regungslosen Bilde. Plötzlich ein Glockenzeichen — der Ruf einer heiseren Stimme: „Er ist da!“ Alles steht auf, ein Troß von Beamten mit großen Ledertaschen unter dem Arm stiegt herein, die Tür zum Ministerzimmer öffnet sich, der Diener am Eingange klopft mit seinem Stabe, wie bei Hofe der Marschall und Zeremonienmeister in feierlichen Augenblicken, —. Pobedonoszew tritt ein.

Man hat sich ihn gewiß anders vorgestellt. Wie er mit jugendlicher Hast vorüberhuscht, leicht vorgeneigt, bescheiden den ehrfurchtsvollen Gruß dieser demütig harrenden kleinen Welt erwidernd, glaubt man einen alten Bureaukraten oder einen Professor, der am Schreibtische ergraute, nicht den Beherrscher einer großen Kirche zu sehen, dessen Hand — die Vergangenheit hat dies manchen fühlen lassen — einen Donnerkeil zu schleudern vermag.

Der „Empfang“ beginnt sofort. Zuerst wird „die Dame in Schwarz“ vorgelassen. Ihr Anliegen ist rasch erledigt. Ich darf ihr nach wenigen Minuten in das Zimmer des Ober-Prokurators folgen.

Dieses ist von kühler Einfachheit, wie der erste Eindruck des Hauptes der orthodoxen Kirche — aber wie man bald bei näherer Beobachtung erfährt, war die rasch auftauchende Empfindung nicht zutreffend. Ein unerklärliches Etwas interessiert in dieser Erscheinung, ein geistigsprühendes Wesen wird rasch in ihr lebendig — das Auge besonders: stechend, scharf durchdringend, sucht förmlich aus dem kleinen weißen Kopfe herauszudrängen, es ist so lebendig wie das Wort Pobedonoszews, das in seiner Beweglichkeit den Hörer fesselt, welcher Überzeugung er auch sein mag. Es doziert nicht wie die Schriften des gelehrten Ober-Prokurators, die so verschiedene Gebiete, kirchliche und soziale, politische und wirtschaftliche berühren, es ist trotz seines schlichten einfach-natürlichen Tones von einer stark-heftigen Leidenschaft durchglüht. Pobedonoszew besitzt die Kunst der Rede, wie die Lust, sie auszuüben. Er zeigt dies nicht selbstgefällig; im Gegenteile, das Wort scheint ihn, er nicht das Wort zu haben, und dieser Bureaukrat in seiner anspruchslosen Kleidung von altmodischem Schnitte gewinnt rasch den zornsprühenden Ton eines Kirchenvaters. Er liebt es im Sinne eines solchen zu disputieren. Das haben Andersgläubige und Andersmeinende häufig genug erfahren, nur hatte sehr zu ihrem Schaden der scharfe Polemiker einen letzten gefährlichen Vernunftgrund — die Gewalt.

„Sie kommen aus Wien und sind der Vertreter eines großen Blattes, das ich häufig lese, nicht mit Vergnügen, wie Sie sich selbst sagen können, denn Sie haben uns scharf angegriffen und das mit unrecht. Ich anerkenne den Ton der ,Neuen Freien Preise‘, den Ernst und das Charaktervolle ihrer Haltung, aber das entschädigt mich nicht für die häufig unrichtige Auffassung unserer rassischen Verhältnisse und dessen, was die Negierung für notwendig hält“

Man klopft an einer kleinen Tapetentür, der Sprecher hält inne. Ein Beamter in dunklem Frack mit Silberkragen tritt ein.

„Ein wichtiges Aktenstück,“ steht er mit frommem Augenausschlag zu seinem Chef.

Während dieser die Schrift überfliegt, murmelt er seinem Untergebenen die Worte zu: „Ein Redakteur der ,Neuen Freien Presse‘. Ein Feind!“

,,O,“ sagt der Beamte, während ein helles Lächeln über seine vollen Züge fliegt, „ich bin einer Ihrer ältesten Leser — seit fünfundzwanzig Jahren! Sie haben uns oft hart mitgenommen, aber Ihr ,Feuilleton‘ habe ich immer mit uneingeschränkter Freude gelesen.“

Wir wechseln einige verbindliche Worte, der freundliche Beamte entfernt sich.

„Ihre Zeitung ist“ fährt Herr Pobedonoszew fort, „kein Freund Russlands, und ich wiederhole, sie beurteilt es auch nicht immer aus richtigen Voraussetzungen. Das ist erklärlich. Russland ist so groß, von so gewaltiger Ausdehnung, von einer so merkwürdigen Eigenart, daß auch bei uns, auf seinem eigenen Boden, nicht Klarheit über das, was ihm nottut, herrscht. Es ist sehr gut, daß Sie hierher kamen, um die Dinge ein wenig in der Nähe zu beobachten. „Willst du Dichters Art verstehen, musst in Dichters Lande gehn“. Aber so leicht ist das nicht. Ein paar Interviews führen kaum zum Ziele. Der Eine sagt das Richtige, der Andere will sich in schönem Lichte zeigen, bei dem Dritten ist man in falsche Hände geraten, er führt irre und bestärkt in den Vorurteilen, denen Russland zu begegnen hat.

Man verschreit uns im Westen als Barbaren. Sind wir das wirklich? Gibt es keine Barbaren bei den Nationen mit vorgeschrittenster Kulturentwicklung, treten die Irrtümer, Mängel und Laster der Menschen, die Rohheiten ihrer Natur nicht überall in bestimmten Eigenarten, wenn auch in verschiedenen Formen zu Tage? Wer will das leugnen, wer möchte das Gegenteil in einer Zeit behaupten, welche fortgesetzt eine zunehmende Verrohung der gebildeten Klassen, eine garstige Brutalisierung der Intelligenz zeigt, der man überall, in der Wissenschaft, in der Kunst, ja in den sozialen Umgangsformen begegnet? Und da sollen wir die einzigen Barbaren sein? Gehen Sie doch — wie es schon einzelne Franzosen und Engländer getan — in das Innere des Landes, besuchen Sie seine Klöster mit ihrer naiv-religiösen Überzeugung, treten Sie dem Volke, dem Bauer vor allem, näher, von dessen Fähigkeiten unsere Verjüngung zu erwarten ist. Er ist unsere Zukunft, denn er hat, was diese bedingt, — Glauben und Gemüt. Von unseren Institutionen in Petersburg bin ich allerdings nicht immer begeistert. Man kann sie jetzt nicht leicht beurteilen. Die Stadt ist förmlich ausgeschöpft, alles sticht die Hitze. Im großen und ganzen sind die Einrichtungen, denen man hier begegnet, von der gewöhnlichen allgemeinen Art, die Gutes neben Schlechtes setzt. Man kann das Gute auch im Schlamm und Kot der Hauptstadt verborgen finden, denn selbst in diesem gibt es Elemente, die an der Zukunft nicht verzweifeln lassen. Worin diese bestehen muß, habe ich bereits angedeutet: in der Pflege des Glaubens und des Gemütes. Für diese Anschauung habe ich zeitlebens gekämpft. Das hat mir auch Feinde genug gemacht. Diese stellen mich als die alleinige Ursache aller Erscheinungen unseres öffentlichen Lebens dar, und es gibt wirklich Leute, die eine solche Behauptung ernst nehmen. Vor Ihnen war eine Dame da.

,Was wünschen Sie von mir?‘ fragte ich sie. —

,Mein Mann ist ein höherer Offizier, er will sich schlagen, er steht unmittelbar vor einem Duell. Ich beschwöre Sie, verhindern Sie das!‘ —

,Ich, wie kann ich das?!‘ —

,Sie können ja alles!‘

„Sehen Sie, So falsch fasst man vielfach meine Stellung auf, aber ich bin durchaus nicht allmächtig, ich beschränke mich seit Jahren auf die Grenzen und Kompetenzen meines Amtes, ich habe dieselben niemals überschritten. Es ist ganz töricht, mich allein für alles verantwortlich zu machen, als gäbe es keine Minister und keinem Staatsrat.

„Ich habe, als die Judenfrage bei uns spielte, aus allen Weltgegenden Briefe erhalten, aus Deutschland, Frankreich, England, Amerika, selbst aus Australien! Man bedrohte, man beschimpfte mich. Ein Mann schrieb mit Angabe seines Namens und seiner Adresse, man werde mich töten, wenn ich in meiner Verfolgungswut nicht innehalte. Ich erkläre Ihnen nun: Ich bin nicht Schuld an dem Vorgehen gegen die Juden in Russland. Ich habe Freunde unter den Juden, es gibt viele unter ihnen, die mich genau kennen und die das wissen. Mir kommt es nicht in den Sinn, die Anhänger einer Religion zu ächten! Welcher religiöse und wirklich gläubige Mensch könnte das?! Die Judenfrage in Russland ist nicht leicht zu beurteilen, sie ist eine der kompliziertesten der Weit. Sie hat keinen religiösen, sondern vielmehr einen sozialpolitischen Charakter. Wir haben die Judenfrage von den Polen als schlechtes Erbstück, als eine Art Inventar übernommen. Die Polen, außer Stande, durch ihre aristokratische Misswirtschaft ein Bürgertum zu bilden, ließen die Juden an seine Stelle treten, aber Adel und Juden haben sich gegenseitig gleich schlecht beeinflusst, dadurch ist ein Typus von Juden entstanden, der nicht mit dem der Juden anderer vorgeschrittener Länder verglichen werden kann. Dies führte auf dem Lande zu bedauerlichen Missständen und Missbräuchen, dies förderte in den Städten die Teilnahme jüdischer Studenten an den garstigsten Umtrieben. Der Staat war genötigt, in irgend einer Weise einzuschreiten. Was er tun wollte — nämlich die Aufrechterhaltung der gesetzlichen Bestimmungen sichern — war ähnliches, wie das, was man im freien Amerika gegen die Chinesen ausgeführt hat. Nicht mehr. Ja noch weniger! Ein Rassenkampf lag uns fern. Den anständigen, den gebildeten Juden geht es gut bei uns und wird es immer gut gehen. Als man die entscheidenden Maßnahmen traf, schrieb mir der verstorbene Baron Hirsch: ,Ich biete Russland fünfzig Millionen zum Ausbau seiner Eisenbahnen, wenn Sie in Ihrem Bedrückungsplane gegen die Juden innehalten!‘ — Ich wies ihn an die Regierung und stellte ihm meine Auffassung der Frage dar. Ich konnte ihn nicht abgestoßen haben, denn er setzte die Korrespondenz noch länger fort. Eines Tages erklärte er, er wolle eine Million für einen wohltätigen Zweck widmen. Ich riet ihm, diese Summe dem Heiligen Synod zur Verfügung zu stellen, damit dieser für das Geld Schulen gründe. Das tat er auch. Sehen Sie, Hirsch war ein Jude, der mich mit der Zeit näher kennen lernte, und er stimmte gewiß nicht in das allgemeine Geschrei gegen mich ein, in dem so viel Lüge und Verleumdung, so viel bewusster und unbewusster Irrtum enthalten ist.“

„Man sagt, ich sei es,“ fährt der Minister fort, „der in Russland die Einführung einer Konstitution verhindert hat, nachdem der verewigte Alexander III. den Thron bestieg. Handelte es sich damals darum? Es war in jener traurigen Epoche nur von der Berufung einer Versammlung die Rede, die ziemlich unbestimmte Ziele hatte. Man denke nur, in welcher Verwirrung dies geschah. An der Leiche seines ermordeten Vaters hatte ich dem Sohne zu raten. Es ist nicht meine Art, meine Überzeugungen zurückzuhalten; ich verberge sie nie! Das ist auch meine Pflicht! Das Diplomatisieren, die heuchlerische Verstellung kann nach meiner Meinung unter umständen das größte Verbrechen werden. Eben diese Offenheit, diese Gewissenhaftigkeit gegenüber meinem eigenen Gewissen ist wieder eine Ursache der großen Zahl meiner Feinde, unbekümmert darum, habe ich immer gehandelt. Das, was damals geplant wurde, und sollte es auch nur die gemäßigteste und im konservativen Sinne gehaltene Veränderung bringen, war ein Unglück — es war mehr — es war der Tod Russlands! Das habe ich offen ausgesprochen. Wie die Dinge lagen, hielt ich jede Nachgiebigkeit für bedenklich. Mit geringfügigen Konzessionen in ähnlichen Situationen haben alle gefährlichen Umwälzungen begonnen. Sehen Sie doch, wohin man anderwärts dadurch steuert, blicken Sie nach Frankreich oder, was näher liegt, nach Österreich, wo die Herrschaft der geistig unbedeutendsten Fraktionen den gesunden Menschenverstand und das Staatsinteresse bedrohen! Heute wie damals bin ich der Überzeugung: derlei passt für Russland nicht! Konzessionen, wie sie Loris-Melikow [1825-1888, war ein General der russischen Armee, Chef der russischen Geheimpolizei und Innenminister]vorschlug, haben das Schlechte, daß ihre Rücknahme nicht erfolgen kann, auch wenn sie die Erwartungen und Hoffnungen, die an sie geknüpft wurden, nicht erfüllt haden; selbst wenn das Volk zur Erkenntnis gelangt, daß das versprochene Glück ausblieb, wird es nicht den Mut haben, einer Rückkehr der früheren Staatsgrundlagen zuzustimmen. Diese Auffassung erklärt meine Haltung in jenen bangen Tagen, aber sie war nicht die Ursache der Entscheidungen, sie hat nur bestärkt in denselben. Ich verdiene deshalb nicht, als das Schreckbild genommen zu werden, als welches man mich hinstellen will. Ich liebe mein Volk und mein Land wie irgend jemand in Russland, ich werde es nie mit Bewußtsein auf eine falsche Bahn führen — auch nicht auf die des Panslavismus [Bestrebungen, alle slawischen Völker in einem Großreich zu vereinigen], wie ein drittes Schlagwort heißt, mit dem man mich zu bekämpfen sucht. Es ist ein albernes Wort! Nur die Gegner Russlands können es erfunden haben.

„Panslavismus! Was will er und was soll er? Glaubt man wirklich, daß ein vernünftiger Mensch bei uns der Ansicht sein kann, Russland soll alle slavischen Länder und Völkerschaften in sich aufnehmen?! Wir wissen was wir sind; wir fühlen das Bewußtsein unserer Macht. Wir wollen nicht mehr sein! Wir sind das größte Slavenreich! Soll uns das nicht genügen können? Wir haben als Slaven nationale Sympathien für die anderen Slaven, wir wünschen, daß es ihnen nach zwei Richtungen wohl ergehe, nach der religiösen und nach der sprachlichen. Ist dem so schwer in anderen Staaten Rechnung zu tragen? Gewiß nicht, und auch in Österreich nicht; nur dürfen dort nicht jesuitische Bestrebungen maßgebend sein. Es hat den Anschein, daß dies jetzt sehr der Fall ist. Die Regierung ist gewiß nicht, weder offen noch geheim für sie, aber sie schwankt häufig, und während dessen kommen die immer nach dem nämlichen Ziele strebenden Jesuiten vorwärts. So erkläre ich mir zunächst die Verhältnisse in Galizien und in der Bukowina. Ich halte die Jesuiten dort für völlig schrankenlos, alles unterstützt sie, die Beamten, der Adel und die Leute, welche Karriere machen wollen; deren gibt es nicht wenig in Polen ... Es ist kein Vorteil für Österreich, daß es die Polen so uneingeschränkt wirtschaften läßt. Ich wünschte, offen gesagt, und zwar im Sinne unsrer religiösen und nationalen Empfindungen, daß dies nicht immer so bliebe, ich wollte auch, daß die liberalen Ungarn den Gleichberechtigungsgedanken ihren Slaven gegenüber besser und energischer vertreten würden. Auch hier wäre der Vorteil nur bei ihnen! Solche Wünsche leugne ich nicht, aber aus ihnen panslavistische Tendenzen abzuleiten, ist töricht und falsch, sie bestehen nicht bei uns. Wir sind zufrieden mit dem, was uns das Geschick gegeben hat!“

Mit diesen Worten schloß die Unterredung.

Wie ich nach derselben das Vorgemach durchschreite, erheben sich die Anwesenden. Ein Schimmer des Glanzes, der für sie auf Pobedonoszew ruht, fällt auf den bescheidenen Zeitungsmenschen, weil der Mächtige diesem trotz seiner karg bemessenen Zeit ein Stündchen gewidmet hat.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen