Fünftes Kapitel. Das Zentrum. Der Adel

Aus dem vorhergehenden Abschnitt drängt sich die Bemerkung auf, wie in der neuen Ära seit 1887 die Staatswirtschaft Russlands immer mehr sich von der Volkswirtschaft scheidet. Die Finanzen des Staates nehmen immer stärker die Sorge und Tätigkeit der beiden Finanzminister dieser Zeit in Anspruch, sie gewinnen das Obergewicht über die Volkswirtschaft. Auch wo die Minister die wirtschaftliche Arbeit im Volke fördern, wie in der Industrie, ist der leitende Gesichtspunkt immer ein staatsfinanzieller: die staatlichen Geldmittel sollen gemehrt werden. Nicht, wie der Wohlstand im Volke zu heben wäre, ist die erste Frage, sondern, welchen Nutzen der Fiskus haben wird. Finanzielle Technik, das ist die oberste Regierungskunst, und diese allerdings war seit 1887 glänzend. So waren es auch die Staatsfinanzen. Wie überwiegend Herr WITTE hierin seine Aufgabe sah, wie durchdrungen er davon war, dass blühende staatliche Finanzen ein untrüglicher Beweis für wachsendes Wohlergehen des Volkes seien, hat er selbst oft ausgesprochen. In seinem Budgetbericht für 1896 erklärte er die finanziellen Erfolge für so glänzend, wie sie seither weder in Russland noch anderswo je erreicht wurden; sie hätten alle Merkmale der Dauerhaftigkeit an sich; sie seien nie und nirgends bei einer Verarmung des Volkes vorgekommen, und undenkbar in Zeiten, wo die Volkswirtschaft leide. Er meinte bemerkt zu haben, dass der Wohlstand im Volke steige, dass sich aus dem Bauernstände heraus eine wohlhabende Schicht der Landbevölkerung bilde, die in sich die Bedingungen zu weiterer Entwicklung trage. Das Vertrauen in die Macht der Staatsfinanzen spricht auch noch aus den ministeriellen Kundgebungen der letzten beiden mageren Jahre. Allein es ist nicht wahrscheinlich, dass an einem so einsichtigen Mann wie Herrn WITTE die Erfahrungen dieser Zeit und die von allen Seiten sich erhebenden Warnungen ganz wirkungslos könnten vorübergegangen sein.

Wenn man die russische Literatur der letzten 20 Jahre überschaut, so ist man überrascht, fast immer und überall auf Schilderungen oder Beurteilungen von wirtschaftlichen, sozialen, moralischen Übelstanden des Volkslebens zu stoßen. Von GOGOL an bis auf GORKI hat sich die sogenannte schöne Literatur meist mit diesen Dingen, und zwar kritisch, negierend, klagend beschäftigt. Positiv bauend ist weder diese, noch die Fachliteratur gewesen, und das ist dadurch erklärlich, dass das Volk selbst, wenigstens bis 1864, von jeder praktischen Beteiligung an öffentlichen Dingen ausgeschlossen war. Ihm blieb nur die Rolle des Zuschauers und Kritikers gegenüber einem Schauspiel, das von dem staatlichen Beamtentum aufgeführt wurde. Auf diese erzählende Literatur werde ich noch zurückkommen. Hier will ich nur auf die in letzter Zeit sich mehrenden fachlichen Schriften hinweisen, die neben den amtlichen Veröffentlichungen von den verschiedenen Gebieten des Volkslebens handeln, und die sämtlich in schroffem Widerspruch stehen nicht nur zu dem Optimismus des Finanzministers, sondern fast immer auch zu dem gesamten Gange der inneren Politik. Was uns zunächst interessiert, sind die speziell volkswirtschaftlichen Schriften. Welche von ihnen man zur Hand nehme — von KEUSSLER und ENGELMANN bis auf GOLOWIN, SCHWANEBACH, NOWKOW, ISSAJEW, LOCHTIN, SIMKOWITSCH, JERMOLOW, M LÜKOW usw. — überall, und ganz besonders deutlich in den Werken national-russischer Schriftsteller — wird man denselben tief klagenden Grundton vernehmen, den Ausdruck der Enttäuschung, des Schmerzes über die Gegenwart, oft der Erbitterung über die eigene Machtlosigkeit gegenüber einer Welt von Übeln. Nur Fremde, die als literarische Geschäftsreisende das Land durchfliegen, sind manchmal anderer Meinung. Man muss dabei stets im Auge behalten, wie vorsichtig besonders die Tagespresse der Zensur gegenüber zu steuern genötigt ist, sobald sie innere Zustände besprechen will. Vielleicht nicht ein Zehntel von dem, was ihr am Herzen liegt, wird ausgesprochen. Und dennoch brechen manchmal Schreie der Verzweiflung durch.


Es handelt sich bei allen diesen Untersuchungen und Klagen weniger um das ganze russische Reich, als um das sogenannte Zentrum, das eigentliche Russland, ja man kann sagen um das alte Großfürstentum Moskau mit Ausschluss Sibiriens. Es sind die Gebiete, wo die Schwarzerde vorherrscht, als Wellenland im nördlichen, als Steppe im südlichen Teil, ein Land, das an natürlicher Fruchtbarkeit unübertroffen ist, das an Ausdehnung Deutschland weit übertrifft. Das sogenannte zentrale Russland umfasst 338.000 Quadratkilometer mit 14 ½ Millionen Einwohnern, zeigt aber heute dieselben wirtschaftlichen Erscheinungen, dieselben kulturellen Zustände wie das Wolga-Gebiet im Osten. Diese beiden Bezirke zusammen bilden gerade das großrussische Kernland in einer Ausdehnung von 923.000 Quadratkilometer mit 25 ½ Millionen Einwohnern.*) Es bildet die nationale Hochburg, von der aus Geist und Charakter des Riesenreiches bestimmt werden, von dessen Festigkeit die Zukunft Russlands und der Russen abhängt. An dieses Land schließt sich im Süden das gleichfalls großrussische Neurussland und im Südwesten Kleinrussland an, die, in manchen Dingen vom Zentrum abweichend, weit weniger von der wirtschaftlichen Not zu leiden haben, im ganzen aber doch an dem Entwicklungsgange des Zentrums teilnehmen, zu dem sie nach Bodenbeschaffenheit und auch nach Nationalität gehören. Diese letzteren beiden Gebiete, eine gewaltige, fast ganz waldlose Ebene von großer Fruchtbarkeit, umfassen 633.800 Quadratkilometer mit 19.300.000 Einwohnern. Lassen wir uns nun von kundigen Führern durch einige Räume der russischen Hochburg leiten.

*) S. KOWALEWSKI, La Russie à la fin du 19. siècle. Paris 1900.

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Vor 1861 waren die sozialen und die wirtschaftlichen Zustände sehr einfach organisiert. Der Staat forderte durch seine Beamten Steuern und Rekruten, handhabte die obere Gerichtsbarkeit und die höhere Polizei, und sah darauf, dass Ruhe im Lande herrschte. Die eigentliche Macht und Verwaltung lag in den Händen des angesessenen Adels, der weniger sein Land, als die darauf sitzenden Bauern verwaltete, die ihm hörig, an die Scholle gebunden, völlig in seiner Gewalt standen. Von zahlreichem Hausgesinde umgeben saß der Edelmann auf dem Hof und hielt die Dorfbauern zur Arbeit auf seinem Acker an, zu einer Arbeit allerursprünglichster Art und mit dem allerrohesten Ackergerät; er selbst, der Herr, ohne jede andere landwirtschaftlichen Kenntnisse, als sie der Bauer auch besaß, aber auch mit der Bedürfnislosigkeit, die ein breites, bequemes Leben in weiten Flächen mit dem Überfluss an einfachen Nahrungsmitteln, an Brot und Butter, an Fleisch und Gemüse, an Kwass und Met und Branntwein, an Wild und Fischen, an Wolle und Lein zur Kleidung so leicht mit sich bringt. Im Hause saßen die Mägde am Spinnrocken, die Weiber am Webstuhl; auf den reicheren Höfen gab es Klöpplerinnen und Stickerinnen, gab es Gestüte, Gärten und Parks; da ritt man mit zahlreicher Meute oder mit Windhunden zur Jagd; man verstand gut zu tafeln, die Vornehmeren hielten mehr auf gediegene Ausbildung ihrer drei oder vier Köche, als auf die eigene Bildung, und die kulinarische gute Tradition hat alle Stürme der Neuzeit überstanden. Aber das kostete alles nicht gar viel, weil Koch und Küche kein Geld erforderten, und so kümmerte man sich wenig ums Geld, denn man brauchte davon wenig. Aber man lernte auch wenig oder nichts; man begnügte sich mit dem sehr dürftigen Unterricht im Gymnasium der Gubernialstadt, man bedurfte nur geringer Kenntnisse, um in den Militärdienst zu treten. Wer höher hinaus wollte, ging nach Petersburg in das Lyceum oder in die Junkerschule. Man lernte auch nicht die Landwirtschaft, denn der Bauer kratzte in althergebrachter Weise mit seiner hölzernen Zoche den Boden im Frühling auf, säte ohne zu düngen und erntete den Weizen in diesem und die Sommerung im nächsten Jahr, und im übernächsten gab es Brache; Rinder, Rosse und Schafe hatten stets ausreichende Weideflächen in der jungfräulichen grasreichen Steppe, fraßen ihr Heu in den leichtgebauten Winterställen oder auch nur unter einem Schutzdach, die Kühe gaben wohl wenig Milch, aber die große Kopfzahl machte es. Was war da zu lernen? Der Edelmann war, wie TERPIGOREW sagt, Polizeianstalt, nicht Landwirt. Der Aufseher hatte nur darauf zu achten, dass kein Bauer den Tag stahl, dass jeder nach Befehl zur Stelle war, heute zu Fuß, morgen mit Pferd und Gerät, heute allein, morgen mit Weib und Kind. Im Dorf musste er aufpassen, dass die Hütten ausgebessert wurden, dass die Staatssteuer einfloss, und wenn's not tat, musste der Gutsherr einschreiten, hier einen Streit schlichten, da die mannbar gewordenen Mädchen verheiraten, dort für ein Vergehen den Prügel schwingen lassen — was stets im Pferdestall geschah — oder gar in Ketten legen, nach Sibirien verschicken, oder diesen oder jenen Taugenichts verkaufen. Was war viel dabei zu lernen? und auch Sorgen gab's nicht allzuviel. Der Bauer zahlte seine Kopfsteuer, der Herr seine Branntwein-Accise, und sonst war nicht viel zu steuern, es sei denn, dass man in der Gouvernementsstadt bei dem Kaufmann für ein Pariser Kleid oder einen persischen Teppich oder bei dem Gastwirt für Champagner mit dem Preise indirekt Staatssteuer entrichtete. Hypothekenschulden hatte man nicht oder doch wenig, und das wenige erst, seit vor kurzem der vom Staat errichtete „Vormundschaftsrat“ dem Adel Kredite eröffnet hatte; eine Justiz, bei der Bauer oder Städter Recht finden konnte und die Geld gekostet hätte, gab es auch nicht, und wo nötig, da konnte man Polizei und Gericht mit einigen Gänsen, Fischen, einem Gaul, einem Fälschen Branntwein in gute Stimmung versetzen. Übrigens gehörten die oberen Beamten in der Provinz ja meist zu „uns“ zum Adel der Provinz, und waren nicht grausam. Was hatte man da zu sparen oder zu sorgen?

Dann aber kam das Jahr 1861 mit dem erschütternden 19. Februar, an dem die Bauern die persönliche Freiheit, ihren Hof im Dorf und ihren Anteil an der Dorfflur erhielten. Erst war man wie betäubt von diesem Schlage, und mit gutem Grunde. Denn der Adel war hierauf in keiner Weise vorbereitet worden. Man erwäge, dass bisher das Vermögen des Edelmannes in Bauern, nicht in Land bestand, wenn man unter Vermögen den nutzbaren Besitz versteht. Nutzbar war der Bauer, nicht das Land, denn Quadratmeilen des schönsten Landes im Gouvernement Samara oder Simbirsk, auch Saratow jenseits der Wolga, hatten gar keinen Wert an sich; sie bekamen erst Wert von dem Augenblick an, wo der erste Bauer auf ihnen angesiedelt wurde. Die Witwe in TERPIGOREWS Erzählung macht sich Vermögen, indem sie alles Takelzeug, Männer, Weiber, Mädchen, Kinder, dessen sie habhaft werden konnte, im Tambowschen Gubernium, ihrer Heimat, aufkauft und in die Samarasche Wüste, oder vielmehr Steppe, mit Ketten gefesselt schickt, um in Ketten dort zur Arbeit zu gehen, bis sie sich eingewöhnt hatten: Neuland brechend, Hütten bauend, und vor allem Kinder zeugend — niemand durfte damit zögern, sobald er am Ort anlangte; denn jedes Kind mehr trug zur Erhöhung der Werte des Landes bei und jeder Strolch war gut genug, um mit einer Dirne zusammengetan zu werden und eine Familie zu schaffen. Es waren da unendliche Gebiete, aber ohne Menschen darauf; der Boden war fast umsonst zu haben, der Gutsherr kolonisierte, indem er deportierte. Umgekehrt mochte man wenig Land haben, aber viel Bauern, so hatte man an ihnen doch Vermögen, denn sie erarbeiteten etwas, sie gingen auch wohl als Händler in die Stadt, und von dem Verdienst gaben sie einen Teil dem Leibherrn ab. Und nun waren plötzlich die Bauern weg, frei, und man hatte noch Land, aber ohne die Arbeiter dazu! Freilich, man bekam von der Regierung Loskaufscheine; der freie Bauer musste für sein Land dem ehemaligen Gutsherrn eine Summe zahlen; die Regierung trat für ihn ein und gab dem Gutsherrn einen Schein über die Schuld, den dieser verkaufen konnte. Aber der Bauer hatte nur etwa vier Hektar Land auf den Kopf bekommen; vorher, als Leibeigener, jedoch hatte er sechs oder acht Hektar für den Herrn bearbeitet Wie sollte der Herr nun diese bearbeiten, um zu den alten Einkünften zu kommen? Was er für die vier Hektar des Bauern an Zinsen durch den Fiskus erhielt, deckte nicht den Ausfall von den drei Hektar, die nun brach lagen, und die derselbe Bauer vordem bearbeitet hatte. Denn der Bauer wollte anfangs nur ungern sich für Tagelohn verdingen, und wo ein harter Herr saß, da gab es erst recht keine Lohnknechte. Auch hatte der Bauer seinen Pflug nebst Pferd mit fortgenommen und der Gutshof war oft ohne Gerät und Zugvieh. Es war wirklich eine sehr schwierige Lage; man hatte wohl noch den Gaul, aber Sielen und Pflug waren fort — wie sollte man nun ackern? Draußen das neue Gut im Samaraschen mit den neuen Ansiedelungen, den Erdhütten der deportierten Bauern, ohne Gutsgebäude, hatte gar keinen Wert mehr; aber auch das Stammgut trug nichts mehr, weil wenig darauf geackert wurde; die brach liegenden Flächen wuchsen. Der Kutscher war nach zwei Jahren fortgezogen, der Tischler, der Schmied, die Spinnerinnen und Stickerinnen und Weberinnen hatten nur noch die gesetzliche Dienstfrist von zwei Jahren im Hof ausgehalten und sich dann verlaufen. Der Gutshof war verödet, nur dieser oder jener alte Diener, Koch, Aufseher hielt noch aus Anhänglichkeit bei der alten Herrschaft aus, wenn er eben genug Anhänglichkeit hatte und die Herrschaft danach war. Sonst ging auch er seiner Wege, nahm Dienste in der Stadt oder eröffnete im Dorf eine Schenke, einen Kramladen, eine Schmiede — der arme Gutsherr aber breitete entsetzt die Arme zum Himmel aus: seines Vermögens, das er von Vätern und Vorvätern ererbt, habe man ihn beraubt — was nun beginnen!

Allmählich wich die Betäubung, und zwar beim Adel wie auch beim Bauern. Dieser letztere hatte seinen Freiheitsrausch ausgeschlafen, und da er von seinem Acker allein meist nicht leben konnte, musste er beim Gutsherrn Arbeit nehmen. Es begann die erste Wanderung auf Arbeit, die nachmals so großen Umfang angenommen hat. Der Gutsherr schickte sich seufzend und klagend in die neue Wirtschaftsart, für die Geld zu Löhnen verlangt wurde, das er nun schaffen sollte. Die Ackerfläche war eingeschrumpft, Geld aus dem Lande zu ziehen war noch schwerer als ehedem, und viele kamen in Bedrängnis. Viele hatten ja auch von dem Vormundschaftsrat das erste Darlehn gegen Hypothek erhalten, und war es nicht groß, so mussten die Zinsen doch gezahlt werden. Nun kamen die Loskaufscheine, man erhielt Geld. Da begann eine Erregung plötzlich durchs Land zu gehen. Was man vom Vormundschaftsrat erhalten hatte, war in alle Winde gegangen. Jetzt hieß es, man müsse in neuer Zeit ein neues Leben anfangen: die einen wollten eine neue Art von Landwirtschaft beginnen, wie sie im Ausland, in Deutschland, Frankreich, geführt wird, wo die Gutsbesitzer doch von ihrem Lande große Einkünfte haben. So sollte es nun auch hier im Orelschen oder Tambowschen werden, und man reiste mit Loskaufscheinen nach Moskau, ging in die neue deutsche Maschinenniederlage und fragte da, welche Maschinen und Geräte man sich wohl anschaffen müsse, um auf deutsche Art zu wirtschaften. Mit mehreren Fuhren Maschinen und ein paar deutschen Werkführern kehrte man heim, alle Nachbarn wurden auf einen bestimmten Tag eingeladen, und nun wurden vier Rosse vor einen schweren Pflug gespannt, oder eine Sämaschine, ja vielleicht eine Dreschmaschine in Gang gesetzt. War das Glück gut, so kam sie wirklich in Gang zum Staunen der Nachbarn, und es dauerte sogar Wochen, ehe ein Rad brach oder ehe die Knechte erklärten, der Pflug tauge nichts, ehe alles in den Schuppen wanderte und die deutsche Landwirtschaft ein Ende hatte. Die ersten Versuche fielen bei der völligen Unbekanntschaft mit modernem Ackerbau natürlich meist traurig aus, auch wenn sie nicht vom Händler in der Stadt oder von dem deutschen Werkführer, der vielleicht ein Mecklenburger Stromer war und nie eine Dreschmaschine gehandhabt hatte, betrogen wurden. Was dabei sicher war, das war das Hinschmelzen der Loskaufscheine.

Man kann nichts Vollendeteres dieser Art lesen, als die Schilderungen, die TERPIGOREW von diesen Zuständen nach der Bauernbefreiung entwirft.*) Es ist das Chaos, das wirtschaftliche und auch das moralische Chaos. Denn dieser Adel ward nicht nur wirtschaftlich gänzlich unvorbereitet aus der reinen Naturalwirtschaft hinausgeworfen in eine Geldwirtschaft, die er nicht verstand, sondern er war auch ebenso moralisch unfähig in Verhältnisse gestoßen worden, die einen festen Willen und viel Besonnenheit forderten. Hatte er bisher Geld in die Hand bekommen für ein nach Petersburg verkauftes Ross, so war das nur dazu da, um in Champagner und Festen vertan zu werden; denn wozu sonst brauchte er Geld auf seinem Gut, sofern er nicht ein Geizhals war oder Land zukaufen wollte? Jetzt hatte er Geld, und das floss ihm so schnell wie vorher durch die Finger, denn an die Zukunft, ans Bezahlen zu denken hatte er nicht, aber den Herrn zu spielen überall, wo er erschien, hatte er wohl gelernt; oder vielmehr das saß ihm im Blut aus den Generationen in der Zeit der Leibeigenschaft; vielleicht auch saß es im nationalen Slawenblut, in der „weiten Natur“ des Russen. Und dazu kommt noch, dass der Russe, ob Bauer oder Edelmann, keine Anlage zur Landwirtschaft hat. Er ist nicht Landwirt in dem Geiste, wie wir Deutsche wenigstens, es verstehen; er ist nicht Ackerwirt, hängt nicht an der Scholle und trennt sich leicht von ihr, um in die Stadt zu ziehen und einen Dienst zu suchen.

*) TERPIGOREW, Verkümmerung. St. Petersburg. (Russisch.)

Andere, die von moderner Landwirtschaft nichts hielten, hielten umso mehr von guter Kindererziehung, die es der Nachkommenschaft ermöglichen sollte, im Staatsdienst den verlorenen Wohlstand wieder zurück zu gewinnen. Sie nahmen ihre Loskaufscheine, fuhren damit nach Petersburg oder Moskau und lebten dort so breit und bequem, wie sie es gewohnt waren und ihrem Stande angemessen hielten. Die Söhne wurden für die „Kronsanstalten“ vorbereitet, lernten die Hauptsachen, nämlich fremde Sprachen und gute Manieren; die Töchter wurden von wirklichen oder vermeintlichen Gouvernanten glattgeschliffen; die Eltern zeigten sich in der Weit — und dann waren die Loskaufgelder alle. Man musste wieder heim auf die Scholle, man musste da zu Gelde machen, was noch vorhanden war, um den hoffnungsvollen Sohn in die glänzende Staatskarriere zu bringen, die ihm nach seinen Gaben und Versicherungen sicher bevorstand. Und dann ging es abwärts.

Etwas später, als auf dem Lande ein Gutsbesitzer nach dem anderen zusammenbrach, suchte die Regierung zu helfen. Trotz der bereits zweimal gemachten Erfahrungen glaubte sie in dem Geldmangel das Übel sehen zu müssen, das an dem Grundadel zehrte. Es wurde im Jahre 1874 die gegenseitige Boden-Kredit-Gesellschaft gegründet mit staatlicher Hilfe und unter staatlicher Kontrolle. Sie gab Papiere zu pari aus, die zu 88 verkäuflich waren, auf Metall lauteten, nicht unter 7 — 8 Prozent, bald aber 9—11 Prozent Zins forderten, den Kapitalverlust von 12 Prozent eingerechnet, den der niedere Kurs veranlasste. Diese „goldene Bank" hat eine Menge Gutsbesitzer ruiniert, bis der Staat sie aufhob. Nun trat der Staat selbst ein, gründete im Jahre 1886 und 1894 die Adels-Agrarbank und die Bauer-Agrarbank, regte die Gründung einer Menge von Privatbanken an, kurz streute das Geld ins Land, das den Adel retten sollte. Aber dieser Adel hatte noch immer nicht gelernt, mit Geld umzugehen. Er nahm, was man ihm anbot, hielt es oft für eine Unterstützung, zu der der Zar gegenüber seinem getreuen und bedrängten Adel wohl verpflichtet war, entrüstete sich dann aber manchmal, wenn von ihm Zinsen oder gar Rückzahlung von Kapital gefordert wurden, was doch unmöglich der Zar habe im Sinn haben können, als er das Geld gab. Im übrigen lebte man davon wieder einige Jahre, und einige Gutsbesitzer gelangten wirklich zu moderner, d. h. intensiverer Wirtschaft, besonders durch die Zuckerindustrie; das waren aber wenige und sehr reiche Leute.

Wieder eine neue Zeit brach an, als der Eisenbahnbau in großem Maßstab begann und als der Gründungstaumel die Residenz erfasste. Da hieß es denn auch in der Provinz: wir müssen eine Bahnkonzession haben, wir müssen Aktiengesellschaften gründen. Die meisten dieser Gutsbesitzer hatten weder eine Aktie noch eine Fabrik jemals gesehen und keine Ahnung von dem geschäftlichen Gang solcher Unternehmungen. Aber bald fand sich da ein Bruder, der in Paris gewesen war und dort einige mal die Börse besucht hatte, oder ein anderer, der mit dem Finanzminister auf der Schulbank gesessen hatte — ganz in seiner Nähe, nur zwei Plätze von ihm! — dem es gar nicht fehlen konnte, durch des Ministers Protektion die schönsten Konzessionen zu erlangen, die gewinnreichsten Unternehmungen zu gründen. Das Spiel begann, man nahm aus den neuen Hypothekenbanken das Geld, gründete Bahnen oder sonst was, und das Geld floss ab; bald saß man wieder auf dem Trockenen, denn all diese Bahnen und Gründungen waren faul in der Wurzel, aus Unkenntnis und Unehrlichkeit, mehr noch aus Leichtsinn.

Man rechnet, dass auf diese Weise an 1 ½ Milliarden von dem Adel auf seine Besitzungen erborgt und dann zu weitaus größtem Teil durch Leichtsinn, Unkenntnis und Unverstand, durch grenzenlose Charakterschwäche und kindliche Sorglosigkeit vergeudet wurden. Denn seit Beginn der siebziger Jahre ist in manchen Gegenden ein Drittel des Adels und noch mehr von seinen Gütern verschwunden, weggefegt durch die gepriesene Geldwirtschaft, die den Fortschritt bedeutet. Man sieht es TERPIGOREW an, wie ihm das Herz blutet, wenn er von diesem Nachbar und von dem und von jenem in langer Reihe erzählt, wie es kam, dass sie von ihrer Scholle mussten.

Die wirtschaftliche Umwälzung hatte nicht alle unvorbereitet getroffen. Kalte, geriebene Rechner, kleine Beamte oder Kaufleute aus der Stadt, oder Wucherer, die ihre Zeit verstanden tauchten auf. Zwei Typen solcher Leute schildert TERPIGOREW; sie tauchen in all seinen Erzählungen auf. Der eine raubt den Bauer, der andere den Edelmann aus; der eine nimmt Pferd, Kuh, die nächste Ernte des Bauern durch wucherische Vorschüsse fort, der andere kauft für willkürlich von ihm gesetzte Preise die Pferde des Edelmannes, dann die Wirtschaftsgebäude, dann den Park, den Obstgarten, dann die Möbel im Herrenhause, endlich das Herrenhaus selbst. Alles wird fortgebracht; die uralten eichenen Wände des Hauses werden auseinander genommen und in der Stadt wieder zusammengefügt, die Möbel hineingesetzt, und da ist nun der alte Hof selbst in die Kreisstadt oder Gubernialstadt gezogen, wie der ehemalige Herr es auch getan hat. Aber in dem Hause sitzt der Wucherer, und der Herr bettelt um eine kleine Anstellung irgendwo im Smolenskischen oder in Petersburg, oder er ist Säufer geworden und verkommen, oder er ist verschollen, man weiß nicht wohin. Wo der Hof stand, ist es öde geworden, die alten Linden der Alleen, die mächtigen Bäume des Parks, alles ist fort, und die Acker werden jährlich stückweise an die Bauern im Dorf verpachtet, die Wiesen werden verpachtet, der Wald wird abgeholzt und verkauft. Hunderte, vielleicht Tausende von Gütern sind jetzt in diesem Zustande, nicht nur im Tambowschen, Orelschen, Tulaschen usw., sondern auch ganz in der Nähe Moskaus.

Wenn man diese Schilderungen liest, meint man, es sei von Kindern die Rede. So wenig Besonnenheit, so wenig Festigkeit, so wenig Erfahrung, so wenig Lebensklugheit, so wenig Selbstachtung; und so viel Zutrauen, Weichherzigkeit, Sorglosigkeit, so leicht im Nehmen und Geben, so genussfähig, so duldsam gegen andere — es sind Kinder, die noch kaum die Schule verlassen haben; ihre Gedanken reichen nicht über den nächsten Monat, die nächste Woche hinaus, sie haben nie ökonomisch zu denken, zu rechnen gelernt, und nationalökonomisch schon gar nicht. Es ist in allem ein überraschender Mangel an Besonnenheit, ja an praktischer Vernunft zu beobachten, der uns anderen kaum begreiflich ist. Wenn dies der Charakter, der empirische Charakter des Volkes wäre? Ich wüsste dann freilich kaum, wie es zu Selbständigkeit jemals sich herausarbeiten könnte.

Inzwischen hatte die Regierung Alexanders II den ersten Versuch gemacht, das Volk zu Selbsttätigkeit und Selbständigkeit zu erziehen. Sie hatte die Landschaftsinstitutionen ins Leben gerufen, sie hatte die erste wirkliche Rechtspflege organisiert. Dem Adel öffneten sich seit 1863 und 1864 diese beiden Felder nützlicher und einträglicher Arbeit, und er drängte sich besonders in die Stellungen, die Landschaften boten, wo es keines Fachstudiums wie in der Justiz bedurfte. Es war in der ersten Schreckenszeit nach der Bauernbefreiung; der Adel hatte durch das Amt des Friedensvermittlers, der den adligen Kreisen angehörte und die Beziehungen zwischen den Bauern und den ehemaligen Leibherren zu regeln hatte, bedeutenden Einfluss auf die Bauern im Dorf und ebenso auf die wenigen bäuerlichen Vertreter in den Landschaften. Als dann dieses Amt abgeschafft wurde, schwand auch dieser Einfluss und es begann sich ein mittleres Element heraufzuschieben, das wirklich arbeiten lernte, das aber den Suppentopf der Pfründen für den Adel schmälerte. Dieses Element wurde für den Adel das, was der Dorfwucherer, die „Faust", für den Bauer wurde: es beutete den kindlich-leichtlebigen Edelmann aus, bereicherte sich durch seine Wälder, Häuser, Parks, und machte sich in der Verwaltung Stellung.

So fand sich der Adel einem doppelt feindseligen Beamtentum gegenüber und geriet alsbald mit ihm in Streit auf dem Boden der Selbstverwaltung, die die Landschaftsverfassung dem Adel eröffnet hatte. Wie ich schon sagte, fiel diese Neuerung in die Zeit völliger Fassungslosigkeit des bauernlos und damit brotlos gewordenen Adels, der nun, seit 1864, in den neuen landschaftlichen Ämtern Rettung vor Hunger und Schande suchte. Man hatte allerlei Aufgaben den Landschaften überwiesen, die mit Verwendung bedeutender Geldmittel verbunden waren. Die Landschaften besteuerten das Land, erhoben und verwendeten die Steuern für öffentliche Zwecke. Da waren Wege, Spittel, Schulhäuser, Getreidemagazine und Brücken zu bauen, und man wusste sehr gut aus der alten Erfahrung mit den Kronsbauten, Kronsunternehmern und Lieferanten, wie man dabei Geld verdienen konnte. Die Landschaften wurden ein Feld der Spekulation; die Bauten wurden schlecht ausgeführt, die Wege vernachlässigt, und so kam es, dass die Zustände bald schlimmer wurden als zuvor. Dies brachte die Regierung gleich anfangs in Opposition mit der Landschaft. Dazu kam die natürliche Abneigung des Beamten des Staates gegen jede von ihm unabhängige Autorität, die seine Macht beschränkte, die scheel sehende bürokratische Eifersucht auf alle ständische Selbständigkeit. Die Gouverneure hinderten, hemmten, die Landschaften beschwerten sich, und der Streit wurde allmählich zu einem Prinzipienkampf zwischen Selbstverwaltung und Staatsbeamtentum. Endlich bildete sich auch noch ein politischer Gegensatz heraus zwischen den Anhängern der alten bürokratischen Selbstherrschaft und der auf Wahl der Stände ruhenden Landschaft, die den Verdacht erweckte, nach politischen Vertretungskörpern zu streben, durch die die zarische, d. h. die bürokratische Allgewalt könnte eingeschränkt werden. Den bürokratischen Verteidigern des Absolutismus stellte sich sofort die Kirche zur Seite, und der Prinzipienkampf nahm dann einen für die Landschaft verderblichen Ausgang, wie wir in einem anderen Abschnitt sehen werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900
Russland 017. Alte Holzkirche im Gouvernement Archangelsk

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Russland 017. Im Nordrussischen Waldgebiet

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Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow

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Russland 018. Nordrussisches Mädchen aus Archangelsk

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Russland 018. Wologda, Ikonostas der Kirche Joann Bogoslaw, 16. Jahrhundert

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Russland 020. Ustjuk Welikij (Wologda). Blick von der nördlichen Dwina auf die Atsdt

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Russland 020. Wjatka, Wassersegen am Flusse Wjatka. Viele kirchliche Festtage werden mit der feierlichen Segnung fließender Gewässer verbunden

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Russland 021. Renntiere

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Russland 021. Winterreise im Norden

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Russland 022. Ein Narr in Christo

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Russland 022. Speicher im Gouvernement Olonezk

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Russland 022. Vorstadtkinder

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Russland 023. Industriearbeiter aus Jaroslaw

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Russland 023. Inneres eines nordrussischen Bauernhauses

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Russland 023. Nordrussland, Birken im Frühling

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Russland 024. Das Dorf Kem (Gouvernement Archangelsk)

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Russland 024. Fischerhütte am Weißen Meere

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Russland 025. Das Russsische Bad (1)

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Russland 025. Das Russsische Bad (2)

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Russland 025. Haus eines reichen Bauern der nördlichen Waldregion

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Russland 026. Altes Hoftor in Saratow

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Russland 026. Wjatka, Auferstehungskirche, 17. Jahrhundert

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Russland 027. Wäscherinnen im Flusse Moskwa

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Russland 027. Wjasma, Der Kaufhof (Gostinny Dwor)

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Russland 028. Pskow (Pleskau), Blick vom Flusse Welikaja auf dem Kreml

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Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer

Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer

Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer

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