Drittes Kapitel. Finanzen

Zu allen Zeiten sind wohlgeordnete Finanzen das Kennzeichen eines wohlgeordneten Staates gewesen. Aber ihre Bedeutung für das Staatsleben war nicht zu allen Zeiten gleich groß. So gut es eine Zeit gab, in der der Einzelne und die Massen des Geldes noch wenig bedurften, weil sie ihre Bedürfnisse zumeist oder ganz befriedigten durch Selbsterzeugung einfacher Lebens- und Genussmittel und deren unmittelbaren Austausch, wo also die Naturalwirtschaft noch vorwaltete, so gut gab es im Leben der Staaten eine Zeit der Naturalwirtschaft In den Jahrhunderten der Heeresfolge und des Patrimonialgerichts, des Zehnten und der Frone brauchte der Fürst für staatliche Bedürfnisse sehr wenig Geld, und was er einnahm, verbrauchte er meist für sich und seinen Hof, wie es der Ritter auf seiner Burg tat. Erst der Verkehr, der Handel, die Geldwirtschaft der Völker brachten auch in dem Staatsleben die Finanzen zu immer stärkerer Geltung, und je größere Bedeutung das Geld bei der Stadtbevölkerung wie im Dorf erlangte, um so wichtiger wurde es für den Fürsten, dieses Machtmittel in der Hand zu haben: stehendes Heer, staatliche Rechtspflege, staatliche Verwaltung mussten bezahlt werden, und zu diesem Zweck musste man außer den alten Zöllen zu allerlei Steuern greifen, die immer sich mehrten mit dem wachsenden Geldverkehr der Bevölkerung und dem wachsenden Geldbedürfnis der Regierung.

Im alten Russland lebten die Großfürsten von Moskau wie die Erbherren auf ihren Landgütern. Was sie an Gefällen in allerlei Ware erhoben, was sie durch große Handelsmonopole und aus dem Gewerbe erwarben, ging in ihren zarischen Säckel und war ihr privates Einkommen, an dem das Volk keinen oder sehr geringen Nutzen oder Anteil hatte. Mit Peter I, mit dem europäischen Wesen, das er ins Land brachte, begann das Bedürfnis nach Geld zu wachsen, und von da an erst kann man von russischen Staatsfinanzen reden. Indessen wirtschaftete auch Peter noch vorwiegend mit Naturalmitteln, mit Menschen und Produkten des Landes, die er schonungslos für seine Eroberungspolitik, aber doch auch für seine inneren Umwälzungen, wie er sie nun gerade verstand, aufwandte. Sein Staatsbudget an Geld betrug nur 3, später bis zu 10 Millionen, dafür verbrauchte er aber so viel Menschenmaterial in Kriegen und Bauten, durch sein zivilisatorisches Wüten gegen hoch und gering, dass zwischen 1678 und 1710 die Zahl der Höfe, d. h. der steuerzahlenden Siedlungen sich um 20 Prozent verminderte.*) Ein Fünftel der Bevölkerung hatte Peters zivilisatorische Naturalwirtschaft umgebracht oder aus dem Lande getrieben. Je mehr seine Nachfolger die europäischen Beziehungen verstärkten, je mehr sie selbst und ihr Hof sich äußerlich europäisierten, umso mehr Geld brauchten sie, umso mehr wuchsen Zölle und Steuern, und diejenige Kaiserin, die sich der höchsten Kultur rühmte, die „göttliche“ Katharina, hatte so verfeinerte europäische Bedürfnisse, dass sie z. B. bei einem Staatsbudget von etwa 65 Millionen Rubel davon für den Ankauf einer Sammlung von Kameen 7 Millionen ausgeben konnte, Hof und Heer kosteten Geld, aber Land und Volk sahen davon wenig: unter Anna, im Jahre 1734, kostete die Verwaltung der Provinzen eines Reiches, das von Riga bis an den Stillen Ozean sich ausdehnte, nur etwa 181.000 Rubel. Es war eben im Innern noch die alte staatliche Naturalwirtschaft; sie blieb vorherrschend bis in das 19. Jahrhundert hinein. Das Geldwesen und das Budget des Staates wurden nicht durch innere Bedürfnisse, sondern durch die äußeren Beziehungen bestimmt, nämlich durch die seit dem Schluss des 18. Jahrhunderts sich mehrenden Handelsbeziehungen und die seit derselben Zeit beginnende Verschuldung des Staates.


*) Vgl. MILÜKOW, Umrisse zur russischen Kulturgeschichte, T. I, S. 26.

Die Naturalwirtschaft blieb noch lange nachher die vorherrschende Form im privaten Erwerbsleben; sie fand ihr Ende erst infolge der im Jahre 1861 stattfindenden Aufhebung der Leibeigenschaft und des sich daran schließenden Emporkommens städtischer Industrie, ja sie ist im Grunde auf dem platten Lande in den großrussischen Gubernien noch heute nicht ganz verschwunden, wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden. Der Staat war dem Volk in seinem finanziellen Wirtschaftssystem sehr weit zeitlich vorausgeeilt. Bis 1861 lebten etwa 95 Prozent der Bevölkerung auf dem platten Lande von den Erzeugnissen des Bodens und der häuslichen Gewerbe; industrielle Produkte und namentlich fremdländische Erzeugnisse brauchten nur der zarische Hof, das Heer, die Flotte, die wenigen Reichen in Land und Stadt und außerdem die nichtrussischen, eroberten Provinzen an der Westgrenze. Daher genügte für diese Konsumenten die Ausfuhr von Rohprodukten in Friedenszeiten völlig, um die nötige Menge an Edelmetall ins Land zu ziehen und eine aktive Handels- und Zahlungsbilanz herzustellen. Leider nur gab es stets mehr Kriegs- als Friedensjahre, weshalb die Ausgaben des Staates die günstige Handelsbilanz immer wieder umwarfen und das Land von Edelmetall entblößten. So ist es diese 200 Jahre her gegangen. Von den wirren Zeiten Peters I ab hatte der kluge Minister Ostermann sparsam gewirtschaftet; der überseeische Handel hatte sich unter ihm gehoben, aber der ganze Handelsumsatz betrug 1742 doch erst 8 Millionen Rubel.*) Er stieg dann auf 21 Millionen im Jahre der Thronbesteigung Katharinas II, und auf 109 ½ Millionen in deren Todesjahr 1796. Aber diese ruhmvolle Regierung war es auch, die trotz steigender aktiver Handelsbilanzen im Jahre 1769 in Petersburg und Moskau Assignatenbanken gründete und mit Anleihen und mit Ausgabe von Bankassignaten zu operieren begann, was ihr zwar große Geldmittel zuführte, aber bei den steten Kriegen und der Verschwendung nicht verhinderte, dass fast alles Edelmetall aus dem Lande ging und der Geldkurs sehr ungünstig wurde. Für das Jahr 1794 wurden die Einnahmen des Staats auf 68.750.000 Rubel veranschlagt; davon aber musste, außer anderen unnützen Dingen und Personen, ein Heer von 593.000 Mann erhalten werden**), weshalb es verständlich ist, dass nur noch Kupfergeld im Lande vorhanden war, das gegen Silber mit 80 Prozent Verlust gewechselt wurde.

*) STORCH, Hist. Statist. Gemälde des Russ. Reichs, Supplementband zu T. 5, 6 und 7.
**) Nach der Berichten TARRACHS und TAUENTZIENS aus Warschau, Mai und Sept. 1795. Kgl. Preuß. Geh. Staatsarchiv.


Und nach anderen Angaben*) betrug im Jahre 1796, dem Todesjahre Katharinas, das Agio für die Assignaten der von dieser Monarchin gegründeten Staatsbank in Silber 39 ½ Prozent, in Gold 42 ½ Prozent.**) Kaum war die ruhmvolle Regierung beendet, so fiel im folgenden Jahre das Silberagio auf 24 ½ Prozent, das Goldagio auf 28 Prozent und die Handelsbilanz erreichte ein Aktivum von 21,7 Millionen. Das will sagen, dass die materiellen Verhältnisse des Landes sich unter dem ruhmlosen Nachfolger Katharinas, Paul I, ebenso besserten, wie es unter Katharina I und Peter II, den gleich ruhmlosen Nachfolgern des großen Peters, geschehen war.

Aber alsbald kam wieder eine Zeit des Ruhmes und der Siege und mit ihr das materielle Elend: die napoleonischen Kriege und die aus ihnen hervorgehende große Politik Alexanders I vermehrten die Staatsschuld auf über eine Milliarde Rubel'; die Ausgaben für das Heer stiegen im Jahre 1816, also nach Beendigung der Kriege gegen Frankreich und gegen die Türkei, auf 234 Millionen Rubel. Dafür entwickelte sich der Handel günstig, mit 32 Millionen Oberschuss im Jahre 1817, und das Staatsbudget zeigte schon 1816 414 ¾ Millionen Rubel an Einnahmen, freilich in entwerteten Bankassignaten. Denn die Metallverhältnisse blieben schlecht, der Bankrubel stand zum Silberrubel bis zum Jahre 1818 wie 4:1, d. h. weit schlechter als unter Katharina, was sich durch die stark gewachsene Staatsschuld erklärt. Diese Schuld bestand zum größten Teil aus schwebender Bankschuld, nur zu geringem Teil, nämlich 102 Millionen holländischer Gulden, aus verzinslichen Anleihen im Auslande, und wäre daher nicht besonders lästig gewesen, wenn ihr ein entsprechender metallener Wechselfonds zur Basis gedient hätte. Das war nicht der Fall, und der Bankrubel konnte daher gegenüber dem durch die günstige Ausfuhr von allen Seiten aus dem Auslande eindringenden fremden Metallgelde keinen rechten Wert erlangen. Die fremde Gold- und Silbermünze verdrängte nicht bloß die Bankassignaten, sondern auch das russische klingende Geld und der Kampf mit diesem fremden Gelde spielte eine Hauptrolle in den Beratungen, die unter CANCRIN zu der Reform von 1839 führten.

*) Storch, a. a. 0.
**) Nach einer vom Grafen SPERANSKI aufgestellten Tabelle stand der Assignatenrubel im Jahre 1796 gleich 70 ½ Kop. Silber.
***) S. BERNHARDI, Russ. Gesch. III, S. 143.


Das fremde Metall, durch andauernd günstige Handelsbilanz ins Land gebracht, erleichterte es der von diesem Minister gegründeten Depositenkasse, das nötige Silber an sich zu ziehen, auf welches der an Stelle der alten Assignaten geschaffene neue Bankrubel gegründet wurde. Mit diesen neuen Banknoten kam dann allmählich einige Ordnung in die Geldverhältnisse, die aber doch nicht vor steten, oft starken und dem Handel höchst beschwerlichen Schwankungen geschützt werden konnten. Der Kredit hob sich, die Banknoten stiegen im Kurse, aber kaum kamen sie dem Parikurse nahe, so brach 1853 der Krimkrieg aus und warf den Geldkurs wieder weit zurück. Indessen litt dabei der Staatskredit nur wenig. Die Handelsbilanz freilich verschlechterte sich, als auf den europäischen Markt immer mehr Rohstoffe aus überseeischen Ländern gebracht wurden. Seit Anfang der fünfziger Jahre trat die australische Wolle konkurrierend auf, schon vorher drückte die amerikanische Baumwolle auf die Preise der russischen Rohprodukte, später, gegen Ende der sechziger Jahre, begann das amerikanische Getreide seinen Eroberungszug auf den europäischen Märkten. Um die Ausfälle in der Ausfuhr zu decken, griff man zu verstärkten Schutzzöllen bei der Einfuhr. Indessen wuchs das Staatsbudget; der Staat zahlte pünktlich die Zinsen und so befestigte sich das Vertrauen in die finanzielle Zukunft des Reiches, und zwar besonders fest im Auslande.

Dies Vertrauen der Geldmächte wurde kräftig durch Anleihen ausgenutzt. Es kamen die Reformen von 1861—1864, welche die Gründung von Agrarbanken zur Folge hatten und die Einfuhr von Maschinen aller Art plötzlich anschwellen ließen; dazu kam der energischere Bau von Eisenbahnen, der Beginn industrieller Tätigkeit, endlich der Krieg von 1877. Das alles erforderte große Summen: in 25 Jahren bezog Russland durch Anleihen aus dem Auslande 1 ½ Milliarden Gold, und hatte einschließlich der aus den sibirischen Goldwäschereien geflossenen Menge im Jahre 1887 doch nur 281 Millionen als Bestand in der Staatskasse. Aus den Metallanleihen mussten die passiven Zahlungsbilanzen an das Ausland gedeckt werden, die sich seit der Entwertung des Papierrubels und dem Anwachsen der Zinsforderungen einstellten. Aus den Anleihen wurde auch das Defizit gedeckt, welches sich im Reichsbudget regelmäßig ergab. Da trat im Jahre 1887 an die Spitze des Finanzamts WYSCHNEGRADSKI. Mit ihm begann eine neue Ära, die durch die Rücksichtslosigkeit sich auszeichnet, mit der alle Volkskräfte angespannt wurden zur Erreichung fiskalischer Zwecke, eine Ära, die heute auf dem Höhepunkt angelangt zu sein scheint

Vor 1860 waren die ungeheuren Entfernungen allein genügend, um aller Verwaltung den Charakter großer Schwerfälligkeit zu verleihen. Eine Neuerung im ganzen Reich einzuführen, noch mehr aber sie richtig auszuführen, war besonders für einen Verwaltungszweig wie das Finanzministerium schwer, das mehr als andere Zweige der staatlichen Verwaltung darauf angewiesen ist, nach festen Normen zu verwalten. Jede neue Steuer war wenigstens bis an die asiatische Grenze durchzuführen, und die Ausführung musste kontrolliert werden. Solange es keine Eisenbahnen gab, war es für den Minister sehr schwierig, zu wissen, wie groß die Steuerkraft in den entfernten Gebieten war, noch schwerer, zu wissen, wie ehrlich oder wie raublustig seine Beamten in Astrachan, Odessa oder Pensa arbeiteten. Kein anderer Verwaltungszweig ist so zur Unehrlichkeit verleitend und bedarf daher der unausgesetzten Kontrolle seiner Beamten. Der Ausbau des Bahnnetzes begann anfangs der sechziger Jahre; die Hauptmaschen waren in den achtziger Jahren bereits vollendet. Damit öffnete sich das Land einer völlig neuen finanziellen Behandlung. Bahnen und Telegraphen machen es heute dem Minister möglich, unvergleichlich viel schneller fiskalische Neuerungen vorzunehmen, ihre Wirkungen zu beobachten, seinen Einfluss jederzeit geltend zu machen, seine Kassen vor unreinen Händen auch dort zu schützen, wohin vor 50 Jahren kaum jemals ein prüfender Blick des revidierenden Beamten gelangte. Die gesamte Maschine ist zuverlässiger geworden und leichter zu handhaben. Es ist daher nur natürlich, dass ein Finanzminister des Jahres 1860 anders verwaltet als einer vom Jahre 1890, und man kann die neue Ära durchaus nicht allein auf die Rechnung der betreffenden Minister setzen. Die administrative Technik hat eine Entwicklung erlangt, die vor 50 Jahren unmöglich war; heute sind die Minister in den Stand gesetzt, der Entwicklung des wirtschaftlichen Volkslebens Schritt für Schritt nachzugehen. Diese Möglichkeit musste im fiskalischen Interesse ausgenutzt werden und wurde ausgenutzt Ohne diese Umwälzung im technischen Apparat konnten die ungeheuren Summen nicht in Bewegung gesetzt werden, mit denen der Staat heute operiert. Aber die Wirksamkeit des Apparats birgt freilich auch die Gefahr in sich, dass sie missbräuchlich angewandt, dass der fiskalische Nutzen verfolgt werden kann mit einem Eifer, der die Interessen der allgemeinen Wohlfahrt nicht immer im Auge behält. Dass dieses in der neuen Ära geschehen ist, wird heute dem Minister Witte von vielen und sehr beachtenswerten Seiten zum Vorwurf gemacht.*)

*) Vgl. für die folgenden Ausführungen das Buch von SCHWANEBACH: „Geldreform und Volkswirtschaft". Petersburg 1901 (russisch).

Als der Finanzminister WYSCHNEGRADSKi im Jahre 1887 sein Amt antrat, fand er eine Staatsschuld von 4 ½ Milliarden Kreditrubel vor, die jährlich an Zins und Tilgung 262 Millionen verlangte; im Reichsschatz fand er 281 Millionen Gold. Die Schuld hatte sich durch Anleihen angehäuft, die meist im Auslande gemacht waren, als Zins und Tilgung floss daher viel Gold jährlich dorthin ab, was auf den Kurs des Kreditrubels nachteilig einwirkte. In dieser Periode des Anwachsens der russischen Staatsschuld seit den sechziger Jahren hatte in Europa und auch Amerika das Gold eine dominierende Stellung erlangt: Deutschland war zu reiner Goldwährung übergegangen, der lateinische Münzbund war geschlossen worden; in den Vereinigten Staaten, in Österreich, in Italien — überall suchte man das Gold zum Fundament der Geldwirtschaft zu machen. Je mehr Russland dem europäischen wirtschaftlichen Verkehr sich erschloss, je mehr es fremder Waren bedurfte, umso mehr Gold brauchte es, um sie zu bezahlen. Dieses Bedürfnis stieg mit jeder der neuen ausländischen Anleihen, die bisher zum Teil eben zu dem Zweck abgeschlossen worden waren, Gold herbeizuschaffen. Während von 1862 — 1887 die Schulden um etwa 1 Milliarde zugenommen hatten, blieb die Zahlungsbilanz schlecht, es flossen jährlich 50— 60 Millionen Gold mehr ab als einkamen, denn die eigene Goldgewinnung ergab damals nur etwa 20 Millionen jährlich; die Ausfuhr überstieg seit Erhöhung der Zölle um 60 Prozent vom Jahre 1881 ab zwar die Einfuhr, aber nicht so, dass mit eigenen Mitteln auch nur der ausländische Schulddienst bestritten werden konnte, weshalb man immer wieder borgen musste, um zu bezahlen. Den bergab rollenden Wagen brachte WYSCHNEGRADSKI mit festem Griff zum Stehen. Vor allem zog er die Steuerschraube an: in drei Jahren wurden über 50 Millionen Rubel Steuereinnahmen mehr jährlich erzielt. Zugleich wurden in zwei Jahren 16 Millionen Rubel Steuerrückstände beigetrieben, und diese Beitreibungen wurden damals auch schon zu dem so wichtigen Instrument gemacht, als welches sie bis heute sich bewährt haben. Durch die Steuerbeitreibung zwang der Minister den russischen Bauer, sein Getreide im Herbst so schleunig als möglich zu verkaufen. Das trug zur Beschleunigung und Mehrung der Ausfuhr bei. Man rechnet, dass, während von 1882—1886 von der reinen Ernte jährlich 15 Prozent ausgeführt wurden, dieser Satz von 1887—1891 auf 22 Prozent stieg. Das Getreide spielte von jeher die Hauptrolle bei der Ausfuhr, stieg aber erst unter dem Ansporn WYSCHNEGRADSKIS zu der Bedeutung auf, die es seitdem hat. Wurde der Bauer durch den Steuerbeamten zum schleunigen Verkauf genötigt, so lockte man den Großgrundbesitzer dadurch, dass man ihm den Verkauf, zu dem ihn überdies die schnell wachsende Bodenverschuldung und der Geldmangel antrieben, erleichterte. Der Minister sicherte sich die Verfügung über die Bahntarife, führte einen Differenzialtarif für das Getreide ein und lockte durch billige Frachtsätze aus den entferntesten Gutsspeichern das Getreide in die Ausfuhrhäfen. Er schuf, sagt SCHWANEBACH, eine Prämie für die Getreideausfuhr, und hatte Erfolg damit. Ebenso erfolgreich dämmte er die Einfuhr ein, indem er 1887 den Zoll auf Kohle, Eisen, Tee und andere notwendige Einfuhrartikel erhöhte, 1890 eine allgemeine Zollsteigerung um 20 Prozent eintreten ließ, und endlich 1891 auf viele Waren einen fast prohibitiven Zoll legte. Was er mit diesen Maßregeln erreichte, war, dass der Getreideexport in dem ersten Jahrfünft nach seinem Amtsantritt gegen das vorhergehende Jahrfünft von durchschnittlich 312 Millionen Pud jährlich auf 442 Millionen Pud stieg, die Handelsbilanz aber, die nach 1867 passiv gewesen und erst seit dem Ende der siebziger Jahre in eine aktive übergegangen war, von + 66 Millionen auf + 307 Millionen Rubel anschwoll. Wurde hierdurch der seitherige Goldabfluss in einen Goldzufluss verwandelt, so diente demselben Zweck die Umwandlung der auswärtigen Metallschulden in Papierschulden. Bei diesen Konversionen wurden freilich die Tilgungsfristen verlängert, aber auch die Tilgungsquote herabgesetzt. Der jährliche Dienst für die auswärtige Schuld verminderte sich um 7 ½ Millionen Rubel, die Schuld selbst vermehrte sich von 796 auf 941 Millionen Rubel Gold.

Während man vorher die starken Kursschwankungen dadurch zu mildern gesucht hatte, dass dem fallenden Kurse durch Aufkauf der Banknoten in Berlin entgegen gewirkt wurde, was erhebliche Kosten verursachte, benutzte WYSCHNEGRADSKI die vorhandenen Goldbestände dazu, im Börsenspiel die Kursschwankungen zum Vorteil des Fiskus auszunutzen, womit er zur Mehrung des Goldvorrats beigetragen haben soll.*) Während er die Staatseinnahmen so zu heben suchte, legte er den Ausgaben einen straffen Zügel an. Von den mehr als 50 Millionen Mehreinnahmen an Steuern und Zöllen gab er dem Lande nichts zurück; die Ausgaben im Budget stiegen nur wenig.

Die finanziellen Erfolge WYSCHNEGRADSKIS waren glänzend. Das chronische Defizit im Budget verschwand: es stellte sich ein jährlicher Überschuss von 41,4 Millionen Rubel ein. Diese Überschüsse gaben dem Minister die Möglichkeit, die Zinsen der Staatsschuld ohne Schwierigkeiten zu zahlen, zugleich aber auch durch Ankauf von Wechseln Gold aus dem Auslande zu holen und dem schon vorhandenen Metallfond hinzuzufügen. Während seiner Verwaltung, 1887—1893, wuchs der Goldvorrat rapide, von 281 ½ Millionen auf 581,6 Millionen Rubel alter, oder 782,8 Millionen neuer (1898er) Währung. Die Mittel, um diese 300 Millionen Gold in die Keller des Staates zu ziehen, bestanden in der verstärkten Besteuerung und den dadurch gewonnenen Mehreinnahmen gegenüber den Anschlägen des Budgets, d. h. in dem, was später unter dem Namen „freier Barbestand“ in den ministeriellen Berichten und Anschlägen eine immer wachsende Bedeutung erlangt hat. Diese Goldvorräte wanderten zum großen Teil in die Keller der Reichsbank, die dafür Noten abgab, wodurch, dem eigentlichen Zweck dieses Instituts zuwider, das Lombardgeschäft litt. Der Metallfond der Bank wuchs zwischen 1888 und 1893 aufs doppelte, zugleich sank aber der Umsatz des Lombard- und Diskontogeschäfts auf die Hälfte — die Bank begann auf einen Abweg zu geraten: aus einer zur Hebung des wirtschaftlichen Lebens bestimmten Anstalt wurde sie ein finanzielles Werkzeug des Ministers, was sie auch heute noch geblieben ist, nachdem sie ihre Tätigkeit als Kreditanstalt auf kommerziellem und industriellem Gebiet in großem Maßstabe wieder aufgenommen hat.

*) S. GOLOWIN, Russlands Finanzpolitik und die Aufgaben der Zukunft. Deutsch von KOLLOSSOWSKI. Leipzig 1900.

Diesem finanziellen Triumphzuge WYSCHNEGRADSKIS wurde ein schlimmer Stein in den Weg gerollt in dem Jahre 1891 mit seinem ausgedehnten Misswachs. Der Staat musste 162 Millionen opfern, um dem hungernden Volk zu helfen, und die Ausfuhr sank im Jahre 1892 erheblich. Die guten, von WYSCHNEGRADSKIS geschaffenen Staatsfinanzen konnten jedoch die Ausfälle sehr viel leichter ertragen, als es vordem der Fall gewesen wäre. Schon 1893 setzte die Aufwärtsbewegung der Ausfuhr wieder kräftig ein und der Staatsschatz schloss beim Abgange WYSCHNEGRADSKIS mit einem reichen Goldvorrat ab. Die Staatsschuld war in den 6 Jahren nur um 229 Millionen Rubel gewachsen, der Dienst für dieselbe aber hatte sich sogar, infolge der Konversionen in niedriger verrentete Papiere, um 20,7 Millionen vermindert.

Als der Staatssekretär WITTE das Ministerium übernahm, fand er die Finanzen zwar in guter Lage vor, aber von zwei Seiten her drohten Gefahren: hier die Staatsschuld, dort die Steuerkraft. Es erschien möglich, dass eines Tages das Missverhältnis sich einstellte, dass gleichsam durch die Eingangspforte des Hauses nicht mehr soviel hereinkommen könnte, als durch die Ausgangspforte hinausgehen musste. Wie energisch WYSCHNEGRADSKI es auch vermieden hatte, die Staatsschuld durch neue Anleihen zu vergrößern, so war sie doch in der vorhergehenden Periode durch Bahnbauten und andere große Ausgaben zu einem bedenklichen Umfang gelangt. Die 70er Jahre hatten alljährlich eine starke Anleihe gebracht, die Staatsschuld belief sich 1893 auf 4.571 Millionen 1898 er Währung, der Dienst für diese Summe auf 241 ½ Millionen. Vermehrt hatte sich die Staatsschuld unter WYSCHNEGRADSKI nur um 229 Millionen. Aber ein großer Teil der Schuld war im Auslande untergebracht und musste mit Gold bedient werden; in Gold musste auch das steigende Bedürfnis nach Maschinen und anderen Erzeugnissen gedeckt werden, die die russische Industrie nicht herstellte. Wenn die Ausfuhr, die eben einen starken Stoß durch die Missernte von 1891 erhalten hatte, dieses Gold nicht zurückbrachte, so konnte sich zuletzt auch der angesammelte Goldschatz nicht mehr halten und der Finanzkarren nahm wieder seinen gefährlichen früheren Lauf zum Abgrunde hin. Zugleich begann sich schon 1893 die Wirkung des von WYSCHNEGRADSKI ausgeübten gewaltsamen Druckes auf die Getreideausfuhr zu zeigen. Hinter dem Bauer stand der Mann mit der Steuerpeitsche, vor ihm und dem Großgrundbesitzer der Mann mit den billigen, lockenden Differentialtarifen. Es war soweit gekommen, dass die Amerikaner ein Schiff mit Brot-Korn als Geschenk für die Hungernden nach Petersburg schickten. Das Schlimmste war, dass die Steuern immer schwerer beigetrieben werden konnten und die Rückstände zu wachsen begannen. In 46 Gubernien Russlands betrugen im Jahre 1893 die bäuerlichen Rückstände bereits 119 1/3 Millionen Rubel und davon fielen auf die zentralen und östlichen, die altrussischen, und zwei neurussische Gubernien, also auf das fruchtbare Schwarzerdegebiet, 110 Millionen. Die Rückstände übertrafen trotz aller Strenge der Beitreibung die jährliche Steuerquote um das Doppelte bis Dreifache. Das war ein bedenkliches Zeichen der nachlassenden Steuerkraft bei dem Landvolk, d. h. bei mehr als 90 Prozent der Bevölkerung dieser Gebiete, die zugleich die Hauptproduzenten des Landes waren.

Dass Verschuldung und besonders auswärtige Verschuldung des Staates ein Übelstand sei, hatte man von jeher in gewissem Maße anerkannt; schon CANCRIN hatte ausgesprochen, der Staat solle zu ausländischen Anleihen nur im Fall äußerster Not greifen.*)

*) Vgl. A. Schmidt, Das russische Geldwesen wahrend der Finanzverwaltung des Grafen CANCRIN von 1823—1844, St. Petersburg 1872, S. 21.

Wenn aber die landwirtschaftliche Produktionskraft weiter sank, so drohte die Hauptquelle der Ausfuhr und auch der Steuern zu versagen, oder wenn sie sich auf der seitherigen Höhe erhalten oder gar mehren sollte, so mussten die harten Beitreibungen fortgesetzt werden. Diese Quelle versprach nicht die Mittel zu liefern, um das Reich auf dem Wege europäischer Entwicklung weiterzubringen, auf den man es seit 1861 auf sozialem Gebiet und seit Ausbau des Hauptnetzes der Bahnen auf wirtschaftlichem Gebiet geleitet hatte. Wollte man die Steuerkraft wahren, so musste man die Produktionskraft mehren, so musste man mit den Mitteln des Staates die wirtschaftliche Entwicklung heben. Und man wollte dieses letztere, man wollte Russland auf die Höhe eines europäischen Kulturstaates heben, nachdem es so lange eine Großmacht, aber kulturlich von Europa abhängig gewesen war. Und das sollte schnell geschehen, sofort, denn das nationale Selbstbewusstsein ertrug keinen Aufschub mehr. Diese Strömungen mochten WITTE die Entscheidung für den von ihm einzuschlagenden Weg erleichtern. Er mochte erwägen, dass die Produktivität der Landwirtschaft mit staatlichen Mitteln so zu erhöhen, dass dadurch neue Anleihen unnötig wurden, eine Aufgabe von vielen Jahren «sein würde; dass eine agrare Reform nicht eine Angelegenheit des Finanzministers allein sei, sondern der Mitwirkung anderer Organe der Regierung bedürfe, die eine solche Reform vorläufig nicht für durchführbar, vielleicht nicht einmal für nützlich hielten. Denn jede agrare Reform musste und muss, um Großes zu wirken, alsbald auf prinzipielle Fragen, wie Gemeindeverfassung, Feldgemeinschaft, Steuersystem, ja Dorfschule und provinzielle Selbstverwaltung, stoßen, Fragen, die von den Kollegen des Ministers in sehr verschiedener Weise wären beantwortet worden. Der Minister konnte im Vertrauen auf eine natürliche Entwicklung der Dinge, der großen Agrarreform von oben her entsagend, auf dem von seinem Vorgänger eingeschlagenen Wege weiterschreiten, den Goldschatz weiter anwachsen lassen und den Geldkurs fixieren, bis er in die Lage kam, die seit lange eingestellte Einlösung der Banknoten gegen Metall wieder aufzunehmen. Er konnte versuchen, die ausländische Schuld allmählich zu tilgen und dadurch dem Goldabfluss zu steuern. Mochten auch gute Ernten und starke Ausfuhr die Einfuhr industrieller Erzeugnissen, die, da sie im Inland nur in geringem Maße hervorgebracht werden, aus dem Auslande bezogen werden müssen, nicht ausgleichen — ein stärkeres Einströmen fremder Waren, womit ein steigendes Abströmen von Gold ins Ausland verbunden ist, steht immer in genauem Zusammenhang mit der fortschreitenden Entwicklung des Landes — so lagen ja 581 ½ Millionen Gold in den Kellern. Zudem begann sich die Ausfuhr wieder zu heben. Der Weg der allmählichen Hebung des Volkswohlstandes und der allmählichen Tilgung der ausländischen Schulden drohte sehr lang zu werden. Herr WITTE traute sich die Kraft zu, die Hauptziele: Wiederherstellung der Valuta und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Reiches, auf kürzerem Wege zu erreichen. Und hatte WYSCHNEGRADSKI eine feste Hand gezeigt, so blieb er doch weit zurück hinter dem rücksichtslosen Vorgehen, das nun überall zu Tage trat Gleich das erste Jahr überstürzten sich die Neuerungen. Der Geldkurs wurde nicht mehr durch Notenkäufe zum Steigen, sondern durch An- und Verkauf von Goldwechseln auf einen festen Stand gebracht. Die Steuern wurden vermehrt und um etwa 70 Millionen jährlich erhöht. Dann wurde der Zollkampf mit Deutschland, der infolge der vorhergegangenen übermäßigen Zollerhöhungen ausgebrochen war, beendet durch Abschluss eines Handelsvertrages, der die Zölle herabsetzte. Das Konvertieren der Anleihen wurde — wenigstens in der bisherigen Art — eingestellt, aber man schritt sofort zu neuen Anleihen, die nun von Jahr zu Jahr folgten.

Hatte WYSCHNEGRADSKI ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit das fiskalische Interesse an der Regelung der Valuta und der Sicherung des Budgets verfolgt, so ging WITTE in dieser Richtung noch weit energischer vor. Vor allem machte er sich zum unumschränkten Herrn des Geldverkehrs. Nicht nur die Reichsbank, sondern alle Privatbanken nahm er unter seine Aufsicht und mittelbare Leitung; er sicherte sich das Recht, Direktoren abzusetzen, Makler ohne weiteres zu entlassen, Banken und Wechsel-Stuben zu schließen; er verbot bei Strafe alle Spekulationen in Goldwerten, ja er zwang die privaten Banken zeitweilig, den Wechselverkehr ins Ausland der Reichsbank zu überlassen, und diese selbst musste, nach dem neuen Statut von 1894, fortan weniger dem Handel dienen, als der Industrie und den Börsenoperationen des Ministers. Zugleich begann WITTE den Goldschatz weiter zu mehren. Wenn sein Vorgänger geradeswegs auf die Goldwährung abzielte, so scheint WITTE zu Anfang noch geschwankt zu haben, bis das fortgesetzte Anschwellen der in den Kellern tot daliegenden Goldmenge ihn dazu antrieb, den Schritt zu wagen. Denn ein Wagnis blieb es, dass er zu Anfang 1896, noch vor Erlass des betreffenden Gesetzes, mit dem Einwechseln der Banknoten in Gold begann, als der Goldvorrat sich auf 629,7 Millionen Rubel oder 2 ½ Milliarden Franken gesteigert hatte. Hätte sich die Handelsbilanz wieder ungünstig gestellt, so musste auch die Zahlungsbilanz schlecht werden und das mit großen Opfern gesammelte Metall würde ins Ausland zurückgeflossen sein. Die Goldwährung konnte und kann sich nur halten unter der Voraussetzung, dass das Gold durch fortgesetzte Überschüsse im Handel im Lande bleibt. Ein Land wie England kann im Außenhandel große Summen abfließen lassen, ohne sich zu schädigen, weil es mehr als diese Summen in Form von Zinsen fremder Staaten, von Zinsen und Gewinnen in seinen über die Erde zerstreuten privaten Schuldforderungen und industriellen Anlagen ständig zurückholt. Im Jahre 1899 belief sich die Unterbilanz im englischen Handel (Großbritannien ohne die Kolonien) auf über 3 Milliarden Mark, aber der Besitz an fremden Werten wird auf 40 Milliarden Mark oder etwa 20 Milliarden Rubel geschätzt Russland hat keine solchen Forderungen, keine fremden staatlichen oder privaten Schuldforderungen, auch keine industriellen Anlagen im Auslande, aus denen es Gewinn hätte ziehen können. Von der eigenen Industrie aber ging ein großer Teil des Gewinnes in Zinsen und Dividenden jährlich hinaus an die fremden Gläubiger und Aktionäre. Die staatlichen Zahlungen, der „Goldtribut“ wie man es in Russland zu nennen pflegt, sowie die Gewinne und Zinsen privater ausländischer Gläubiger müssen, nächst der eigenen Goldgewinnung in den sibirischen Wäschereien, völlig durch die Überschüsse des Handels aufgebracht werden, wenn die Goldwährung sich halten soll. Ist der Handel nicht im Stande, diese Überschüsse zu schaffen, so kann der Goldvorrat zeitweilig durch Anleihen oder andere Operationen im Auslande ergänzt werden, in der Erwartung, dass sich die Handelsbilanz bessern und die Kosten solcher Operationen wieder einbringen werde. Indessen kann dieses Mittel doch nur als zeitweiliges und als Aushilfe gelten bis auf bessere Zeiten, und wer es anwendet, muss ein starkes Vertrauen in die künftige Steuerkraft des Landes haben, um zu ihm zu greifen. An solchem Vertrauen nun hat es Herrn Witte nicht gefehlt „Im festen Glauben“, sagt er in seinem Budgetbericht für 1898, an die „stetige Fortentwicklung der Produktivkräfte Russlands" ging er ans Werk.

Die Ausfuhr hatte sich nach dem Rückgang von 1892 wieder gehoben. Aber infolge des Handelsvertrages mit Deutschland, der die Zölle stark herabsetzte, und infolge des gleichzeitig wachsenden Bedürfnisses nach für den Eisenbahnbau und für die Industrie notwendigen fremdländischen Waren, stieg auch die Einfuhr so stark, dass das Aktivum des Handels, das zwischen 1887 und 1892 über 300 Millionen Rubel jährlich ergeben hatte, von 1893 bis 1898 nur 143 Millionen betrug und in einem Jahre, 1896, sogar auf nur 99,3 Millionen Rubel sank. Da nun im Jahre 1893 der Dienst für die äußere Staatsschuld jährlich etwa 100 Millionen in Gold forderte, so konnte man von dem Ertrag der eigenen Goldwäschereien nicht so viel Überschuss erwarten, um den Goldschatz zu sichern oder zu vermehren. Noch unsicherer war die Aussicht, aus den ordentlichen Einnahmen die Mittel zu gewinnen, um durch großartige staatliche Kredite die einheimische Industrie so zu fördern, dass man vom Auslande unabhängig wurde. Der Minister hatte sich zur Aufgabe gestellt, in dem großen und industriell sehr unentwickelten Lande schleunigst eine Industrie zu schaffen, die den jährlichen Abfluss vieler Millionen für Bahnschienen und rollendes Material, für landwirtschaftliche und industrielle Maschinen, für Chemikalien und viele andere Dinge hemmen sollte; eine Industrie, die dem Bauer Verdienst und dem Unternehmer Vermögen zuführen, die die Ansammlung von Kapital beschleunigen und dem Staat neue Steuerobjekte bieten, sollte. Dazu brauchte der Minister Geld, und Geld war wiederum nötig, um die Eisenbahnen zu verstaatlichen, um die Goldwährung durchzusetzen, um dem verarmten russischen Adel und den Bauern zu helfen, kurz um die Finanzpolitik mit der souveränen Allgewalt zu führen, die wir seitdem bewundern. Herr WITTE verließ unbedenklich die vorsichtige Zurückhaltung WYSCHNEGRADSKIS und griff zu neuen Anleihen.

Die politische Annäherung an Frankreich hatte ihm dessen reichen Kapitalmarkt geöffnet Frankreich hatte schon vorher den größten Teil der russischen Staatsschulden übernommen und damit Deutschland von einer die deutsche Politik gefährlich drückenden Last befreit. Von nun an wurde es zum Säckelmeister Russlands, und das deutsche Kapital täte gut, Frankreich dieses Geschäft ganz zu überlassen. Die politische Freundschaft pflegt nicht dadurch sich zu erwärmen, dass sie mit großen Geldverbindlichkeiten belastet wird. Man kann schwer freie Hand in der Politik einem Staate gegenüber behalten, dem man einen zu großen Teil des Volksvermögens, sei es in Staatspapieren, sei es in Privatanlagen, hingegeben hat. Ein Krieg, in den Russland heute verwickelt würde, müsste Frankreich fast ebenso in Sorge stürzen als Russland selbst. Und wenn, wie man sagt, französisch-belgisches Geld in russischen Eisen- und Stahlwerken allein mit 1.650 Millionen Franken beteiligt ist, so bedeutet das eine sehr merkliche Vermehrung der Macht, die der russische Finanzminister über die französische Politik gewonnen hat. Wie im privaten Leben, so geht es auch im staatlichen: die Stimmung Russlands für ein Land, dem es 8—9 Milliarden in verschiedenen Formen schuldig ist, wird nicht nur von Dankbarkeit getragen sein. Und man braucht nur die Budgetberichte des Herrn Witte zu studieren, um zu erkennen, dass er mit dem fremden Gelde mehr als kühner Bankunternehmer, denn als sorgsamer Hausverwalter verfährt. Er sagt es offen, dass das fremde Kapital die Produktivkraft Russlands anregen soll und dass es ihn wenig kümmert, was aus ihm sonst wird. Russland ist nicht ein Landgut, das man wegen einer Hypothekenschuld einklagen und versteigern lassen kann. Es gibt keinen Gerichtshof für insolvente Staaten. Sollte einmal Russland die Zinsen und die Tilgung für die 60.000 Werst Eisenbahnen, die es gebaut hat, nicht aufbringen können, dann dürfte es schwer sein, dieses Pfandobjekt unter den Hammer zu bringen; ebenso schwer ist es, den Minister dafür verantwortlich zu machen, dass er das Vertrauen fremder Kapitalisten in eine zauberhaft üppige Entfaltung der russischen Volkswirtschaft unterstützt hat. Die russische Verschuldung ist uns Deutschen nicht schädlich, eher das Gegenteil; aber wir sollten die Hände möglichst davon lassen.

Seit dem Amtsantritt des Herrn WITTE verging kein Jahr ohne wenigstens eine Anleihe, und am 1. Januar 1900 hatte Herr Witte die Staatsschuld schon um 1.579 Millionen Rubel gemehrt; sie betrug 6.150 Millionen Rubel und erforderte einen jährlichen Dienst an Zinsen und Tilgung von 292 Millionen. Er begann ferner in großem Maßstabe russische Wertpapiere, insbesondere auf Gold gestellte, wie Eisenbahnobligationen, Pfandbriefe der Adels-Agrarbank, im Auslande zu verkaufen. In 6 Jahren gingen von den beiden genannten Werten 90% über die Grenze, und zum Jahre 1900 befanden sich im Auslande im ganzen an russischen Goldwerten etwa für 3 ½ Milliarden Rubel, die einen jährlichen Dienst in Gold von 140 Millionen Rubel forderten. Für die hinausgegangenen Schuldverschreibungen aber war Gold ins Land geflossen. In Russland waren nur die auf den Rubel neuer Währung lautenden Anleihen geblieben. Solcher Papiere waren über 4 Milliarden vorhanden und von ihnen im Lande selbst rund 2.700 Millionen; von der 4prozentigen Rente waren am 1. Januar 1899 im Lande rund 1.503 Millionen.*) Eine dritte Geldquelle öffnete sich seit 1895 durch die schnell sich entwickelnde Industrie, die der Minister auf jede Weise förderte. Aus dem kapitalreichen Westen strömte Gold herbei zu industriellen Anlagen aller Art, Summen, die auf durchschnittlich mindestens 100 Millionen Rubel jährlich angeschlagen worden sind.

*) Bericht der Kreditkanzlei.

Während der Überschuss des Außenhandels nicht ausreichte, um den jährlichen „Goldtribut“, die Zinsen und Tilgung der Staatsschuld an das Ausland, zu zahlen, während die sibirischen Wäschereien von 1893—1898 im ganzen 297 Millionen Rubel an Gold ergaben, mehrte sich der staatliche Goldschatz in dieser Zeit um 637 1/3 Millionen und erreichte am 1. Januar 1897 bereits die Summe von 1.247 Millionen. Eine solche Goldmasse in den Kellern zu haben und zugleich bei der alten Silberwährung, die eigentlich nur Papierwährung war, weiter zu verbleiben, hatte keinen Sinn: man musste dieses tote Kapital irgendwie fruchtbar machen und entschloss sich endlich dazu, zur Goldwährung überzugehen. Auf Grund des Gesetzes vom 3. Januar 1897 wurde damit begonnen, das Papiergeld zu dem fixierten Kurse von 1 ½ Rubel gegen 1 Rubel Gold einzuwechseln, und hatte es nun auch sehr eilig, das Land mit Metall zu überschütten. Im Volk war man verblüfft: die lebende Generation hatte nie, die ganz alten Leute nur als Seltenheit russische Imperiale gesehen, und nun wurde das Gold jedem von den Renteien aufgedrängt. Man hielt Herrn WITTE für einen Finanzkünstler, fast für einen Zauberer. Allein es war nicht viel Kunst, noch weniger Zauberei dazu nötig, mit vollen Händen das Gold auszustreuen, solange das Ausland fortfuhr, immer neue oder auch alte russische Werte aufzunehmen, und solange mit Hilfe der Steuerschraube und anderer Mittel die Einnahmen des Staates hoch gehalten werden konnten. Am 1. Januar 1899 war an Gold im Staatsschatz 1.420,1 Millionen, an fiskalischem Gold bei Banken im Auslande 179,9 Millionen, zusammen eine Summe von etwa 1.600 Millionen Rubel Gold neuer Währung. In 10 Jahren war Russland auf die Höhe der westeuropäischen Geldwirtschaft gelangt, war es finanziell eine Großmacht geworden, hatte es mit der alten Abhängigkeit von den Notierungen an der Berliner und anderen Börsen gebrochen, die weder seiner politischen Stellung, noch seinem vermeintlichen Reichtum entsprach.

So schien es. Aber man konnte sich denn doch nicht verhehlen, dass dieser scheinbare Goldüberfluss meist aus fremdem Gelde bestand, dass die Schulden, die man gemacht, auch verzinst und getilgt werden mussten, dass der Goldrubel auch wieder dorthin zurücklaufen könnte, woher er gekommen war, wenn die Produktionskraft des Volkes ihn nicht festhielt. Von da ab war die ganze Sorge des Ministers darauf gerichtet, ein solches Rücklaufen des Goldes ins Ausland zu verhindern. Die Produktion musste gehoben werden. Bis dahin beschäftigten sich 90 Prozent der Bevölkerung mit dem Landbau; 90 Prozent aller Ausfuhr bestand in Rohstoffen: 85 Prozent aller Ausfuhr bestand 1893 aus Erzeugnissen der Landwirtschaft. Noch im Jahre 1898 sagte der Minister in einer Rede, der Landbau schaffe fast gar kein Kapital, das zu industriellen Zwecken könne verwandt werden. Und Kapital war in großer Menge nötig, um das Land industriell von der so stürmisch gerade in dieser Zeit sich aufwärts bewegenden fremdländischen Industrie unabhängig zu machen. Denn an den hierzu nötigen natürlichen Reichtümern, besonders an Kohle, Erdöl, Eisen, gebricht es dem Lande nicht Nun sollten die Schätze gehoben werden.

Gleich im Jahre 1894 wurden für ungefähr eine Milliarde Staatspapiere, die im Inlande lagen, konvertiert. Die mit 5 Prozent verzinslichen Werte wurden eingezogen und dafür 4prozentige Rentenpapiere ausgegeben. War der unmittelbare Gewinn des Fiskus an Zinsen vielleicht auch nicht groß, so musste doch die Wirkung dieser Operation in einem Lande sehr groß sein, wo das Geld so rar, wo der private Zinsfuß etwa 10 Prozent jährlich betrug. Mit der neuen 4prozentigen Rente zog man die 5prozentigen und dann auch die 4prozentigen Goldwerte aus dem Lande und verkaufte sie ins Ausland. Die innere Schuld wurde zu 5/6 in 4prozentige Staatsrente verwandelt. Das freigewordene Kapital wandte sich industriellen Unternehmungen zu, die bessere Verzinsung verhelfen, und daneben auch dem Börsenspiel, das sich der Vermehrung industrieller Aktiengesellschaften parallel entfaltete. Der Minister erreichte, was er wollte: er trieb das im Lande vorhandene Geld mit Gewalt in die Industrie und strich dabei noch einen Gewinn für den Fiskus ein.

Mit freigebiger Hand wurde das Geld des Staates der Industrie zugeführt. Zahlreiche Banken wurden gegründet und staatlich unterstützt; durch sie floss das Geld den Gründungen zu, die überall erstanden. Technische und Handelsschulen wurden vom Staat errichtet oder mit Geld unterstützt. Das ausländische Kapital folgte dem ausbrechenden Gründungsfieber eifrig nach, das nun auch durch die stillen russischen Ebenen flog, nachdem es kurz vorher durch Mitteleuropa geflogen war. Von 1894 bis 1899 wurden 927 Aktiengesellschaften mit einem angegebenen Kapital*) von 1.420 ½ Millionen Rubel konzessioniert, von denen 151 Gesellschaften ausländische waren. Allen voran schritt die Regierung selbst mit dem Bau neuer Eisenbahnen, mit dem Bau von Kriegsschiffen, mit der Unterstützung von Schifffahrtsgesellschaften, wodurch die Eisenproduktion und die Eisenindustrie schnell erstarkten und in ihrem Gefolge eine Menge von gewerblichen Betrieben und Fabriken ins Leben riefen.

Trug die Verwaltung WYSCHNEGRADSKIs einen merkantilistischen Charakter, so verwaltete Herr WITTE monopolistisch. Die Eisenbahnen wurden zum großen Teil verstaatlicht. In den 10 Jahren von 1892—1902 verwandte Herr Witte zur Erweiterung des staatlichen Bahnnetzes 2.251,9 Millionen Rubel**); im ganzen waren schon 1897 in privaten und staatlichen Eisenbahnen fast 4 Milliarden Rubel festgelegt, die meist fremdes Geld waren.***) Für diese Zwecke hatte der Minister die Staatsschuld schon im Jahre 1900 um über eine Milliarde vermehrt, den Goldtribut an das Ausland um rund 40 Millionen jährlich. Am 1. Januar 1902 erreichte nach dem Budgetbericht für 1902 das gesamte Bahnnetz 60.000 Werst oder 64.200 km, das Netz der Staatsbahnen eine Länge von 40.000 km, im Privatbetrieb standen demnach 24.200 km. Der Staat war schon 1897 an dem gesamten staatlichen und privaten Bahnbau mit 94,9 Prozent des Anlagekapitals beteiligt****) und diese Beteiligung ist seitdem durch die großen asiatischen Staatsbauten und die Verstaatlichung der Moskau-Archangel-Bahn noch bedeutend gestiegen, so dass der Staat als der Unternehmer für das gesamte Bahnnetz angesehen werden kann. Die Kosten des Bahnbaues waren nicht zu hoch, auch wenn man die im europäischen Russland besonders günstig liegenden Verhältnisse berücksichtigt. Wenn man das Netz der Staatsbahnen allein ins Auge fast, das 40.000 km beträgt, und seinen Wert nach dem Budgetbericht für 1902 mit 3551,6 Millionen Rubel als Bauwert annimmt, so kostete der Kilometer durchschnittlich 88.790 Rubel. Das Finanzministerium ******) gibt als Baukosten 81.125 Rubel pro Werst oder 86.798 Rubel pro Kilometer an.

*) SCHWANEBACH schätzt das wirklich verwandte Kapital auf 560 bis 600 Mill.
**) Bericht zum Budget für 1902.
***) Statistischer Überblick über das Eisenbahnwesen in Russland, herausgegeben vom Verkehrsministerium, für das Jahr 1900.
****) Bulletin Russe de statisique financière, 1901, A. p. 7.
*****) KOWALEWSKI, La Russie à la fin du 19 siècle, Paris, 1900, p. 875.


Das Verkehrsministerium *) berechnet für das Gesamtnetz die Anlagekosten sogar auf 109.500 Rubel pro Werst oder 117.165 Rubel pro Kilometer. Auch das wäre nicht viel im Verhältnis zu anderen Ländern und in Berücksichtigung des wegen der größeren Spurweite schwereren Bahnkörpers und Rollmaterials. Die gesamten Bauaufwendungen pro Kilometer betrugen in Preußen im Jahre 1899: 252.139 Mark, im Jahre 1900: 253.854 Mark. *) Hier sind aber, wie ich annehme, nicht nur die ersten Anlagekosten, wie bei den russischen Angaben, sondern auch die späteren Bauten eingerechnet. Immerhin ist ein Unterschied in den Baukosten zu Gunsten Russlands wahrscheinlich vorhanden. Demgegenüber stehen die Einnahmen so: für 1902 sind budgetmäßig veranschlagt aus dem Staatsbahnnetz und Billetstempel rund 400 Millionen Rubel, was bei 40.000 km Bahnlänge auf den Kilometer 10.000 Rubel macht. In Preußen betrugen für 1900 auf den Staatsbahnen die Bruttoeinnahmen pro Kilometer 45.532 Mark, also mehr als das Doppelte der russischen Einnahmen; der Betriebsüberschuss pro Kilometer betrug in Preußen 18.451 Mark, die Betriebskosten also 27.081 Mark, d. h. mehr als die ganzen Bruttoeinnahmen in Russland, die nur 23.200 Mark betragen. Wenn dabei dennoch eine Verrentung, sogar ein, wenn auch „kleiner Gewinn“ vom Minister erzielt wird, so ist man bisher an eine so sparsame, so erstaunlich nutzbringende Verwaltung in Russland nicht gewöhnt gewesen. Allein das Verkehrsministerium rechnet — freilich nur für die europäisch-russischen Bahnen — eine Verzinsung des Anlagekapitals mit 4 ½ — 5 ½ Prozent aus, und das Finanzministerium ***) gar für die Jahre 1897—1899 einen durchschnittlichen „Reingewinn“ von 400 Millionen Franken („produit net“) Das stimmt also wieder nicht. Die Sache wird auch nicht klarer, wenn man die ordentlichen budgetmäßigen Ausgaben mit 297,5 Millionen Rubel, d. i. 7437,5 Rubel pro Kilometer dagegen hält. Sollte man in Russland um so viel billiger arbeiten als in Preußen? Oder sollten die Nachrichten, ob nun ganz oder halb offiziell gegeben, nicht vertrauenswürdig sein? Man muss an der Haltbarkeit dieser Aufstellungen zweifeln, wenn man auch nur das wirkliche Ergebnis der Bahnwirtschaft des vorhergehenden Jahres in Augenschein nimmt.

*) Statistischer Überblick über das Eisenbahnwesen in Russland, herausgegeben vom Verkehrsministerium, für das Jahr 1900.
**) „Statistik der Eisenbahnen Deutschlands" für 1899 und 1900.
***) Bulletin, p. 9.


Der Minister sagt in seinem Budgetbericht für 1902: ,,Im Jahre 1900 stellte sich als das Endergebnis der Beteiligung des Fiskus an dem Wirtschaftsbetriebe des gesamten Bahnnnetzes, mit Einschluss des Unterschusses für die sibirischen Bahnlinien, ein kleiner Reingewinn heraus.“ Auch dieser „kleine Reingewinn“ ist sehr unwahrscheinlich. Nach den Abrechnungen der Reichskontrolle betrugen im Jahre 1900 die Einnahmen aus Staats- und Privatbahnen 373,9 Millionen Rubel, die Ausgaben 405,6 Millionen Rubel, so dass der Fiskus ein Defizit von 31,7 Millionen Rubel zu decken hatte. Hiernach verwandelt sich der „kleine Reingewinn" in einen nicht kleinen Vertust. Für das Jahr 1901 wird sich der Verlust ohne allen Zweifel als weit größer herausstellen, schon durch die Erweiterung der sehr verlustreichen sibirischen Bahnstrecken. Nimmt man nun aber das Organ des Ministers, das Bulletin Russe, zur Hand, so zeigt sich folgendes*): Die Bilanz der Staatsbahnen nebst den von den Privatbahnen gezahlten Annuitäten für die 15 Jahre von 1896—1900 ergab für den Staat einen jährlichen Verlust von durchschnittlich 12,9 Millionen Rubel. Es ist nicht verständlich, wie demgegenüber der ministerielle Bericht für 1902 als „Reinertrag der Staatsbahnen und Zahlungen der Privatbahnen" für 1900 die Summe von 139 Millionen Rubel angeben kann, da die Zahlungen der Privatbahnen nach dem Bulletin nur 22 Millionen Franken oder 8,25 Millionen Rubel, freilich „im Minimum", wie das Bulletin sagt, betragen. Vollends illusorisch wird die Rentabilität der russischen Staatsbahnen, wenn man erwägt, dass seit dem Jahre 1900 die sibirisch-mandschurischen Strecken hinzugekommen sind, deren Bruttoeinnahmen sehr gering, deren Betriebskosten aber erhöht werden durch schlechten Bau des Bahnkörpers, schwierige klimatische Verhältnisse und die Notwendigkeit, sie militärisch zu schützen. Und dieses sind die offiziellen Ziffern der Ministerien und der Reichskontrolle, während andere Aufrechnungen zu beträchtlichen jährlichen Verlusten des Fiskus an den Eisenbahnen gelangen.**)

*) Bulletin Russe p. 30, 31.
**) Z. B. ,,Das hungernde Russland", von LEHMANN und PARVUS, Stuttgart, DIETZ, S. 480 ff.


Inzwischen aber werden neue Anleihen aufgenommen und neue Bahnen gebaut, die der Minister an sich für eine „mächtige Produktivkraft“ erklärt. Das Budget von 1902 zeigt an Ausgaben für Eisenbahnen folgende Posten: ordentliche Ausgaben 398.625.050 Rubel; außerordentliche 165.658.493 Rubel; zusammen 564.283.543 Rubel; davon für neue Bahnbauten 170,5 Millionen. Hierzu werden große Summen kommen, die von privaten Gesellschaften für Bahnbauten aufgebracht werden. Alle diese Gelder kann man sicher als mittelbar oder unmittelbar von dem Auslande erborgt ansehen. Sie haben stets ihre mehr oder weniger offene Nährquelle in Anleihen, die gemacht wurden oder gemacht werden. So wird denn auch für 1902 voraussichtlich eine sehr bedeutende neue Anleihe des Staates ans Licht treten. Alles dies zeigt, wie stark der Kredit Russlands und wie unbedenklich der Minister ihn auszunutzen entschlossen ist. Er vertraut eben noch immer der Produktivkraft des Landes, trotz aller Enttäuschungen, die die letzten 10 Jahre gebracht haben, und trotz des immer drückender werdenden Goldtributs ans Ausland. Ja, wenn es sich um Nordamerika handelte! Dort wäre das Land und vor allem das Volk vorhanden, um solche Anlagen vielleicht produktiv und rentabel zu machen, selbst wenn sie durch erborgtes Kapital geschaffen wurden. Aber — Herr WITTE ist eben nicht Minister der Vereinigten Staaten.

Seit 1895 begann Herr WITTE auch den Verkauf des Branntweins zu verstaatlichen. Er erklärte in dem Budgetbericht für 1899, „dass bei der Umgestaltung des Systems der Erhebung der Getränkesteuer durchaus nicht die Absicht vorlag, in dieser Maßnahme eine Quelle zur unmittelbaren Vermehrung der Staatseinnahmen zu finden". Indessen ist die staatliche und die durch indirekte Besteuerung von den Getränken aufgebrachte Summe von 322 Millionen im Jahre 1896 auf die für 1901 veranschlagte Summe von 488 Millionen gestiegen, und hiervon fallen auf das fiskalische Branntweinmonopol rund 169 Millionen. Die Einführung des Branntweinmonopols hat freilich dem Staat 114 Millionen Rubel gekostet, und der für 1901 angenommene Reingewinn aus dem monopolisierten Handel beläuft sich auf nur 38 Millionen Rubel, was aber immer noch hoch gerechnet erscheint. Denn für 1900 belief sich nach Angabe der Reichskontrolle der Gewinn durch das Monopol bloß auf 5,2 Millionen Rubel. Wenn aber der Minister noch 1898 meinte, den Branntweinhandel nur zu dem Zweck in seine Hand genommen zu haben, um „den Missständen im Getränkehandel ein Ende zu machen“, so wird man wenigstens das Glück bewundern müssen, das ihm in fünf Jahren eine Steigerung der Einnahme des Staates aus Steuer und Handel mit Getränken um 166 Millionen Rubel einbrachte. Für 1902 ist die Einnahme aus dem fiskalischen Branntweinverkauf, die Accise eingeschlossen, auf 497,4 Millionen Rubel veranschlagt, eine Summe, die um so gewaltiger ist, als das Jahr 1901, wie der Minister in demselben Budgetbericht sagt, „eine der am wenigsten günstigen Ernten'' gebracht hat. Trotzdem hat der fiskalische Branntweinhandel in den ersten zehn Monaten von 1901 bereits den Voranschlag um 31,5 Millionen Rubel fiberschritten, so dass in diesem Hungerjahre der Staat über 500 Millionen Rubel aus dem Verbrauch an Getränken ziehen wird. Wenn man erwägt, dass es sich fast nur um Branntwein handelt, so kann man sich der Vorstellung nicht verschließen, dass dem Vorteil des Fiskus ein körperlicher und sittlicher Nachteil des Volkes gegenüberstehen muss.

Außer dem Eisenbahnnetz und dem monopolisierten Branntweinhandel werden noch manche andere Einnahmequellen unmittelbar staatlich ausgebeutet, wie Post und Telegraph, Forsten, Bergwerke, Domänengüter u. s. w. Alle diese durch das Finanzministerium, Domänenministerium und Verkehrsministerium verwalteten Staatsgüter und Regalien lieferten zusammen für 1901 40 Prozent der ordentlichen Einnahmen in die Staatskasse (693,3 Millionen Rubel) und für 1902 gar 57 Prozent (1031 Millionen). Sie bilden diejenigen Posten im staatlichen Budget, denen das Anschwellen desselben hauptsächlich zu danken ist Diesen Einnahmen stehen freilich entsprechende Ausgaben gegenüber: die Finanzverwaltung kostet nach dem Anschlage für 1902 etwa 335,2 Millionen, die Verkehrsverwaltung 435,5 Millionen, zusammen 770,7 Millionen Rubel. Der Staatsbesitz aber und die Staatswirtschaft haben Verhältnisse angenommen, die in keinem andern Lande der Welt erreicht worden sind und sich den Idealen des Staatssozialismus nähern.

Hierzu kommt, dass die Reichsbank mit der ihr seit 1897 überlassenen Notenemission und dem in ihr völlig konzentrierten Geldverkehr ganz in der Hand des Finanzministers ist; dass die im ganzen Lande verbreiteten staatlichen Sparkassen mit gegenwärtig mehr als 700 Millionen Rubel Einlage dazu benutzt werden, um vornehmlich 4prozentige Staatsrente in ihnen anzulegen, wodurch diese 700 Millionen als eine Art schwebender innerer Anleihe des Staates erscheinen; dass nach einer Verordnung des Jahres 1901 alle bäuerlichen Gemeindekassen nicht mehr als 50 Rubel bar aufbewahren dürfen, sondern das Mehr an die Staatsrenteien zur Aufbewahrung zu übergeben haben. Nimmt man das alles zusammen, so erkennt man eine in der Hand des Ministers gesammelte finanzielle Gewalt, die ziemlich absolut genannt werden muss. Seine Macht steigt noch durch die Art der Veranschlagungen in den Budgets. Die Einnahmeposten werden so niedrig veranschlagt, dass sich regelmäßig Überschüsse ergeben, die als „freier Barbestand'' für unvorhergesehene Bedürfnisse vom Minister verwandt werden. So standen zu seiner Verfügung am 1. Januar 1895: 352,1 Millionen Rubel, am 1. Januar 1900: 245 Millionen, am 1. Januar 1901: 123 Millionen und am 1. Januar 1902 wieder 240 Millionen. Wie diese Barmittel entstehen, ist nicht immer klar. Für 1902 aber gibt der Minister selbst an, dass etwa 150 Millionen aus neu emittierter 4prozentiger Rente bestehen. Jedenfalls kann man diese nicht zu den „Überschüssen“ zählen. Solche Summen geben einen guten Rückhalt für Jahre der Missernten, selbst für chinesische Kriege und asiatische Bahnbauten. Solche Überschüsse sind leuchtende Farben in dem Bilde des russischen Finanzwesens, für viele blendend genug, um sie als Beweis der großen und wachsenden Steuerkraft des Volkes gelten zu lassen. Ebenso blendend erscheinen die Ziffern des gesamten Staatsbudgets. Nach den Angaben des Ministers betrugen die Ausgaben im Jahre 1889 867,5 Millionen; nach dem Bericht der Reichskontrolle wurden im Jahre 1900 ausgegeben: 1889 Millionen; für 1902 sind veranschlagt: 1.946.572.000 Rubel. In den sechs Jahren von 1895—1900 stiegen die Ausgaben um rund 125 Millionen jährlich. Und diese Ausgaben wurden durch die Einnahmen nicht nur gedeckt, sondern ließen noch erhebliche Überschüsse zurück, freilich ohne verhindern zu können, dass alljährlich wenigstens eine Anleihe im Auslande nötig wurde. So haben wir im Jahre 1901 im Mai eine Anleihe im Betrage von 348 Millionen Mark (435 Millionen Franken) und dann die verdeckte Anleihe durch Verkauf von Eisenbahnprioritäten im Betrage von 80 Millionen Mark erlebt, trotz des am 1. Januar 1901 vorhandenen freien Barbestandes von 123 Millionen Rubel, und trotz der vor weniger als Jahresfrist (Bericht zum Budget 1901) abgegebenen Versicherung des Ministers, dass er einer Anleihe „zur Vollziehung des Staatsbudgets für das künftige Jahr nicht bedürfe". Ob zur Vollziehung des Budgets oder zur Befriedigung anderer Bedürfnisse, auf die wir noch zurückkommen werden: es sind immerhin Anleihen, die die Staatsschuld und den Goldtribut vergrößern und auf den Glanz des Budgets einen Schatten werfen.

Noch ein anderer Umstand ist bedenklich. Seit 1894 wurde die 4prozentige Staatsrente eingeführt, die keine jährliche Tilgung hat und hauptsächlich im Inlande zur Einlösung von Papieren mit höherer Verzinsung und mit Tilgung verwandt wurde. Bis zum Jahre 1900 hatte der Minister bereits für 2,5 Milliarden Rente untergebracht, und zwar im Inlande 1.503 Millionen, wodurch an Amortisation jährlich 19,2 Millionen erspart werden. Die Parallele zu der französischen Rente träfe nicht zu angesichts des Umstandes, dass Frankreich zwar eine ähnliche Schuldenlast wie Russland, aber unähnlich mehr Kapital hat; weil Russland kein Kapital hat, schiene es vorsorglicher, dass an der laufenden Tilgung festgehalten würde, statt dass mit der Rente immer mehr die Zukunft zu Gunsten des Augenblicks belastet wird. Indessen scheint der Minister dieses Papier ganz besonders zu begünstigen. Im Juli 1901 machte die Staatsbank bekannt, dass die Inhaber gewisser Eisenbahnanleihen und anderer 4 ½ prozentiger Staatsobligationen aufgefordert werden, freiwillig diese Papiere gegen Rente einzutauschen. Der Sinn dieser Eröffnung scheint gewesen zu sein, dass der Fiskus selbst als Inhaber eines bedeutenden Postens jener Papiere dadurch freie Hand bekam, sie gegen Rente umzutauschen und dann ins Ausland zu verkaufen. — Es muss eben auf alle Weise die Zahlungsbilanz gehalten und Gold ins Land gezogen werden, um den Abfluss auszugleichen. Diesen Zweck hatte auch die folgende Maßregel. Ein Ukas vom 4./16. Dezember 1900 bestimmte, dass die Rente, soweit sie im Auslande und im Besitz fremder Untertanen ist, von der Kapitalrentensteuer, der sie gleich anderen Wertpapieren in Russland unterworfen ist, befreit sein und außerdem einige Vorteile in den Verkehrsformen genießen solle. Das heißt, die Rente soll dem ausländischen Markt mundgerecht gemacht, dem Rückströmen nach der Heimat vorgebeugt werden. Und alljährlich werden in aller Stille neue Serien dieser Staatsrente auf den Markt gebracht, so dass die Gesamtsumme dieses Papiers sich auf 2.800 Millionen Rubel am Schluss von 1901 belaufen dürfte. Damit verschwindet die Amortisation der Staatsschuld immer mehr.

Zugleich wächst die Staatsschuld fortgesetzt schnell an und ebenso die Verpflichtung privater Bahngesellschaften an das Ausland. GOLOWIN berechnete vor etwa einem Jahre die Summe aller Verpflichtungen, staatlicher und privater, an das Ausland, mit Einbegriff des in der russischen Industrie angelegten fremden Kapitals, auf 8,5 Milliarden Rubel. Lassen wir indessen die privaten Verpflichtungen beiseite und behalten nur die staatlichen im Auge. In dem Budgetberichte für 1902 gibt der Minister die Summe der Staatsschuld zum 1. Januar 1902 an mit 6.497,3 Millionen Rubel. Dieser Summe stellt er die Kapitalanlagen des Fiskus und die sicheren Forderungen mit 4.614,8 Millionen Rubel gegenüber als Aktiva des Staates, woraus sich eine wirkliche Schuld von bloß 1.882,5 Millionen Rubel ergeben würde. Danach hätte sich die Staatsschuld in den letzten 10 Jahren um 1.143,8 Millionen Rubel vermindert. Das ist sehr überraschend. Erstens stimmen diese Ziffern wieder nicht mit denen des offiziellen Organes; in diesem sind verzeichnet 6.469,7 Millionen Schulden und als Schuldrest des Fiskus nach Abzug der Aktiva 1.331 ¼ Millionen, also um 551 ¼ Millionen Rubel weniger als die vom Minister angegebenen Summen. Solche Differenzen machen die Veröffentlichungen fragwürdig. Noch fragwürdiger ist es, als Aktivum den Wert der Staatsbahnen mit 3.551,6 Millionen Rubel aufgeführt zu sehen. Denn ihr Wert kann doch nicht bloß nach den Baukosten abgeschätzt, sondern es muss die Verrentung in Betracht gezogen werden. Wir haben oben gesehen, dass die Verrentung, die 4 Prozent betragen soll, aus den Mitteilungen der Staatsämter nicht ganz klar hervorgeht. Sehen wir zu, wie dieser Kapitalwert von 3.551,6 Millionen berechnet ist Ich führte schon an, dass als Reingewinn der Eisenbahnen 400 Millionen Franken aufgeführt werden. Diese 150 Millionen Rubel zu 4 Prozent kapitalisiert, macht 3.750 Millionen Rubel, also mehr als der Ministerialbericht ansetzt Der Minister sagt aber in demselben Bericht, die Reineinnahmen von den Staatsbahnen seien „klein“, was man getrost in „nicht vorhanden'' übersetzen darf. Die Bahnen haben eben in Wirklichkeit keinen Reingewinn abgeworfen und ihre Verzinsung nur mühsam aufgebracht. Die asiatischen Bahnen verschlimmern diese Lage. Das Aktivum von 3.551,6 Millionen schwebt demnach etwas hoch in der Luft. Ein zweiter Posten sind die Annuitäten der Privatbahnen, die aber nur 22 Millionen Franken oder 8 ½ Millionen Rubel ausmachen. Im dritten Posten sind die bäuerlichen Loskaufscheine (Land Obligationen) mit mindestens 33 ¾ Millionen Rubel oder 90 Millionen Franken aufgeführt. Auch dieser Posten ist bedenklich, wenn man erfährt, dass nach Mitteilungen der Reichsrentei die Rückstände an diesen sogenannten Loskaufzahlungen sich am 2. Januar 1901 auf 250 Millionen Rubel beliefen, während die gesamte für 1900 veranlagte Loskaufsumme nur 77,7 Millionen betrug. Also für 1900 mehr als die dreifache Quote an Rückständen. Ebenso zweifelhaft erscheint die Annahme, dass diese Loskaufzahlungen in Zukunft steigen werden, wenn man die Lage der Bauern erwägt, auf der sie beruht. Der letzte Posten ist der fünfte, welcher 214.561.500 Rubel als Saldo des Fiskus in seinem Verkehr mit der Staatsbank aufweist. Wenn dieser Saldo auch als Aktivum gelten mag, so ist zu bemerken, dass dabei die Hauptrolle der Goldschatz des Staates mit 648 Millionen spielt. Dieser Schatz bildet bekanntlich die Sicherheit für die schwebende Banknotenschuld von 630 Millionen Rubel, und er sowohl wie die gesamten Bankoperationen des Staates sind stetem Wechsel unterworfen, können also nicht einer festen Kapitalsicherheit zur Grundlage dienen. Läge die russische Staatsschuld ganz oder zum größten Teil im Lande, so wäre sie dem Staatskredit und der neuen Goldwährung nicht gefährlich. Allein sie liegt zum größeren Teil im Auslande und muss mit Gold verzinst und getilgt werden. Und sie vermehrt sich alljährlich, im Lande durch neue Emissionen der 4prozentigen Rente, im Auslande durch Anleihen und Verkauf von Bahnobligationen. Im Laufe des Jahres 1901 wurden außer der schon angeführten französischen Anleihe von 435 Millionen Franken auch Obligationen einiger Privatbahnen im Betrage von 80 Millionen Mark in Berlin verkauft, denen weitere Millionen folgen dürften; wenigstens sollten nach dem Voranschlage des Budgets für 1901 nicht nur 80 Millionen Mark, sondern 82 Millionen Rubel solcher Obligationen zur Ausgabe gelangen, die der Minister schwerlich wird im Kasten liegen lassen, nachdem jener Teil von 80 Millionen Rubel leicht Käufer gefunden hat. Seit 1894 waren von solchen Bahnprioritäten nach Berlin schon für 900 Millionen Mark gewandert. Sind es auch private Schuldscheine, so werden sie doch vom Staat garantiert und mehren den Goldtribut an das Ausland; es sind eben nur verdeckte äußere Staatsanleihen. Dem Abfluss des Goldes, soweit er nicht durch die Handelsbilanz gedeckt wird, muss immer wieder auf den drei alten Wegen entgegengetreten werden: Anleihen, Verkauf von Werten, Hereinziehung von Kapital für industrielle Anlagen. Schon ist eine Wendung in dem Goldstande zu bemerken. In seinem Budgetbericht für 1901 gesteht der Minister, dass, nachdem der Goldvorrat des Landes seit Jahren stetig gewachsen, er sich im Jahre 1899 um 24,6 Millionen, 1900 bereits um 74,1 Millionen vermindert habe. Das hätte nun freilich wenig zu sagen gegenüber einem Goldvorrat der Staatsbank, der immer noch über 700 Millionen beträgt. Allein die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, dass der Abfluss weiter zunimmt und damit eine Zahlungsbilanz bewirkt, die die neue Goldwährung erschüttern könnte. Das aber hängt nicht mehr ganz von der wenn auch noch so gewaltigen Kraft eines Mannes, sondern zuletzt von der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse ab. Die Ausfuhr ist seit 1887 bis in die letzten Jahre sich im Wert gleich geblieben und bewegte sich um 700 Millionen Rubel; die Einfuhr bewegte sich zwischen 500 und 600 Millionen. In der Einfuhr nimmt den ersten Platz Metall ein, roh und verarbeitet, und zwar wurde davon im Jahre 1893 nur für 90,2 Millionen eingeführt, mit dem Abschluss der Handelsverträge aber stieg dieser Posten sofort auf 137,2 Millionen im Jahre 1894 und ist 1898 auf 171,8 Millionen angelangt Es wurden Maschinen und anderes Material für industrielle Anlagen eingeführt und daneben landwirtschaftliche Maschinen, d. h. es wurden bedeutende Ausgaben verwandt auf Dinge, deren Nutzen sich erst erweisen muss. Seit dem industriellen Krach von 1898 ist diese Einfuhr gesunken. Die Gesamtausfuhr zeigte infolge der Missjahre von 1897 und 1898 einen Rückschritt, ist aber in den ersten 11 Monaten des Jahres 1901 wieder gestiegen. Nach wie vor spielt die Hauptrolle in der Ausfuhr das Getreide, und das trotz der Missernte dieses Jährte. Indessen sind auch die Angaben über die Handelsbilanz Russlands für die letzten Jahre nicht übereinstimmend.*) Wie dem auch sei, es bleibt Tatsache, dass die Ausfuhr nur durch künstlichen Antrieb auf der nötigen Höhe erhalten werden kann.

*) Die New-Yorker Handelsstatistik weist in ihren Tabellen für das Jahr 1900 in der russischen Handelsbilanz einen Unterschuss von 12 Mill. Dollars auf, welche Angabe indessen gegenüber anderen Ausweisen nicht haltbar zu sein scheint.

Der Budgetbericht für 1902 gibt an, dass im Vergleich zu dem ungünstigen letzten Jahrfünft die Ernte von 1901 einen Ausfall von 236 Millionen Pud ergeben habe. Ist das richtig, so müsste, damit das für die Volksnahrung nötige Korn im Lande bleibt, die Ausfuhr etwa um die Hälfte geringer sein als in den letzten Jahren. Statt dessen ist sie in den elf ersten Monaten von 1901 um rund 100 Millionen Pud oder 34 Millionen Zentner gestiegen. Nach aller Statistik müsste das russische Volk, wenn es so weiter geht, in einigen Jahren einfach aussterben. So ungenau diese Berechnungen sein mögen, so wird man gerade dieser Erklärung des Ministers gewiss glauben dürfen, dass die Ernte von 1901 „eine der am wenigsten günstigen" war. Was das für ein Volk zu bedeuten hat, das seit zehn Jahren zu einem großen Teil am Hungertuche nagt, wird jedermann einsehen. Das Brot wird heute ins Ausland verkauft, und im nächsten Frühling ist es im Lande so teuer, dass der Bauer es nicht kaufen kann. Indessen haben auch diese Missverhältnisse eine Grenze. Die Kornausfuhr wird sich nicht mehr auf der bisherigen Höhe halten lassen und die Handelsbilanz wird ungünstiger werden. Wenn der Minister mit Recht auf seine finanziellen Erfolge mit Stolz hinweisen darf, so wird man ihm doch nur schwer bis zu der Überzeugung folgen können, dass diese Erfolge die „Unerschütterlichkeit des russischen Staatshaushaltes" klar beweisen. Der Staatskredit Russlands ist gut und in sehr fester Hand. Er wird unterstützt durch den in Europa geltenden Glauben an die unerschöpflichen Naturschätze und die Größe des Reiches. Diese Meinung ist gestützt auf einige unbestreitbare Tatsachen. Das Vermögen des russischen Staates ist sehr groß. Außer seinen Eisenbahnen, Domänen, Minen besitzt er in Europa und Asien an Forsten 238 Millionen Dessätinen oder 255.730.000 ha, die im Jahre 1900 einen Ertrag von 41 Millionen Rubel abwarfen; für 1902 ist der Ertrag mit 63 Millionen veranschlagt. Das ist wenig im Vergleich zu anderen Ländern. Die Staatsforsten von Preußen, Bayern, Württemberg, Baden und Hessen umfassen zusammen nur über 4 Millionen Dessätinen oder etwa 4,3 Millionen Hektar, gaben aber einen Reinertrag von 37—40 Millionen Rubel.*)

*) RADZIG, Vortrag im Verein der Ökonomisten in Petersburg 1902.

Immerhin aber haben die Staatsforsten des europäischen Russland einen sehr bedeutenden Wert, der von Jahr zu Jahr steigt — Die Kirche hat in Klöstern und Kirchen große Schätze an Edelmetall und Edelsteinen. Setzt man dieses staatliche und kirchliche Vermögen der Summe der Staatsschuld entgegen, so scheint diese letztere sehr an Bedrohlichkeit zu verlieren. Allein es hat für die Volkswirtschaft wie für die Finanzkraft des Staates doch nur das lebende, das fruchtbringende Vermögen praktischen Wert, und weder die Juwelen der Kirche noch die Wildnisse Sibiriens tragen etwas ein. Der Minister überschätzt daher vielleicht den Kredit des Staates, indem er (Budgetbericht für 1902) erklärt, derselbe „bedürfe keiner speziellen Sicherstellung“. Die Franzosen scheinen gegenwärtig diese Meinung nicht mehr zu teilen; wie man sagt, hat Herr WITTE im Winter 1901 auf 1902 ihre Forderung von Spezialpfändern für eine neue Anleihe abgewiesen und die Anleihe von 181 Millionen Rubel deshalb in Deutschland und Holland untergebracht. Hier aber liegt denn doch ein Spezialpfand zu Grunde in der chinesischen Kriegsschuld, und es wird sich in nicht langer Frist zeigen, ob Herr WITTE an seinem stolzen Standpunkt, für neue Anleihen reiche der allgemeine Staatskredit aus, wird festhalten können. Die beiden Minister WYSCHNEGRADSKI und WITTE haben der Staatswirtschaft eine gewaltige Ausdehnung verliehen, sowohl in direkter Verwaltung als durch den Einfluss, den der Staat auf die private Wirtschaft ausübt. Es fragt sich nur, wie weit sie den wirtschaftlichen Wohlstand vorwärts gebracht haben, auf dem die Staatswirtschaft und die Staatsfinanzen zuletzt doch ruhen. Und hier stehen einander die Meinungen zweier Autoritäten schroff gegenüber. Der Minister Witte erklärte im November 1899 und erklärt immer wieder in seinen öffentlichen Darlegungen die Finanzlage Russlands für fest begründet. Er hält die wirtschaftliche Lage des Volkes für gut, denn, meint er, eine so glänzende finanzielle Lage sei bei darniederliegendem Erwerbsleben nicht möglich. Und der Geheimrat SCHWANEBACH, einer der hervorragendsten Räte und früherer Mitarbeiter desselben Ministers, sagt über die beiden großen Gebiete des wirtschaftlichen Lebens, Industrie und Ackerbau, folgendes: „Bei der gegenwärtigen Sachlage vermag unsere ungenügend entwickelte Industrie schwerlich die feste Stütze der Valuta zu bilden, die sie nach dem Plan der Geldreform sein sollte. Eher darf man die Besorgnis hegen, dass die industriellen Schwierigkeiten die ohnehin nicht leichte Aufgabe, die Valuta endgültig sicher zu stellen, noch komplizieren werden.“

So stehen sich zwei autoritative Stimmen gegenüber. Was Herr WITTE unternommen hat, ist so gewaltig, dass noch kein Staatsmann jemals Ähnliches versucht, geschweige denn durchgeführt hat. Herr WITTE ist ohne Zweifel eine außerordentliche Kraft und besitzt die Macht, seine Kraft in ungewöhnlichem Maße zu entfalten. Aber er leistet, wie wir weiter unten sehen werden, großenteils mehr Danaidenarbeit, als Herkulesarbeit Er ist nicht Diktator, und hat mit anderen Kräften zu rechnen, die sich ihm vielfach hindernd entgegenstellen. WYSCHNEGRADSKl ist unter der Last der Arbeit körperlich zusammengebrochen. Wenn die Kräfte des Herrn Witte versagten, wenn er heute oder morgen sein Amt niederlegen müsste — was dann? Wer vermöchte seine Erbschaft anzutreten? Auch ihm wird es schwerlich gelingen, das russische Volk über Jahrhunderte der langsamen kulturlichen Entwicklung, wie Europa sie gegangen ist, mit einem kühnen Sprunge hinwegsetzen zu lassen. Die scharfen Reizmittel, die er in etwas mechanisch äußerlicher Weise anwendet, steigern die Blutleere, an der das Volk krankt trotz der mit Gold gefüllten Kassen des Staates. Die glänzenden Finanzen können die verhängnisvolle Tatsache nicht verdecken, dass das Reich in Gefahr ist, aus Entkräftung großen Umwälzungen entgegen zu gehen.

Ich werde mich in den folgenden Kapiteln bemühen, den Ursachen dieser Gefahr, die uns schon im vorhergehenden Kapitel im Zusammenhang mit der äußeren Politik entgegentrat, auch in den inneren Verhältnissen nachzuspüren.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900
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