Zweites Kapitel. Innere Kämpfe

Das seit 1813 gereizte Volksbewusstsein wurde neu geweckt durch den polnischen Aufstand von 1830, weit stärker aber durch den von 1863. Dem russischen Volke saß nächst Tataren und Türken doch immer noch als Erbfeind der Pole im Kopfe, wenn auch die Furcht vor ihm im Laufe zweier Jahrhunderte geschwunden war. Indessen war dem Volksbewusstsein in letzter Zeit eine treibende, formende Macht erwachsen durch die Verbreitung der Bildung, der Teilnahme an öffentlichen Dingen, vor allem in der Presse. Wenn von dem russischen Volk früherer Zeit als von dem Träger einer Tradition, nationaler Meinungen oder Wünsche gesprochen wird, so ist das nur in sehr bedingtem Sinne zu verstehen. Die große bäuerliche Masse hatte und hat bis heute keine die allgemeinen Angelegenheiten betreffenden Meinungen oder Wünsche. Alle Politik verkörpert sich ihr in Zar und Kirche, und der Führung dieser beiden Gewalten folgt sie blindlings. Die Tradition, wie sie, aus den Kämpfen gegen Tataren, Polen, Türken fließend, in das Dorfleben der Bauern sich ergoss, ging fast völlig auf in der Tradition des Kampfes für Zar und Kirche. Fast völlig, denn daneben macht sich doch schon früh das Verständnis auch des gemeinen Mannes für sein Volkstum bemerkbar. Der Ruf „Man schlägt die Unsern" ist nicht erst heute sicher, den gemeinen Mann in Russland auf die Beine zu bringen; das nationale Band hat sich nicht erst in unserer Zeit so gefestigt, wie es heute sich zeigt. Aber das Bewusstsein dieses Bandes war nie die Quelle eines offensiven, auf Eroberung ausgehenden Dranges, sondern wurde immer nur durch den Angriff von außen geweckt. Es war defensiv, es flammte auf bei dem Ruf: ,,Man schlägt die Unsern“ im übrigen aber war und ist der Volkscharakter nicht kriegerisch, sondern friedliebend. Hätten wir Deutsche auch nur ein Bruchteil von dem nationalen Gesamtgefühl gehabt, das den Russen schon seit hundert und zweihundert Jahren beseelte so hätten wir nicht so lange auf ein geeintes Deutschland warten müssen.

Abgesehen nun von diesen bloßen Stimmungen und Empfindungen der Massen, gab es eine politische Meinung natürlich nur in den oberen Klassen, und diese bestanden, da es sehr wenig Stadtbewohner gab, aus dem Adel. Denn seit Peter so zu sagen den Adel zum Leibeigenen des Staates gemacht hatte, seit jeder Edelmann im Heer oder Amt dienen musste, waren Beamte und Offiziere eben auch Edelleute, und so war der Adel stets die Volksklasse, die allein am politischen Leben teilnahm, von der, mit Ausnahme des PUGATSCHEWschen Aufstandes, alle politischen von der Regierung unabhängigen oder ihr entgegenlaufenden Bewegungen, auch die umstürzenden, ausgingen. Es hat zahllose Bauernunruhen, besonders unter Nikolaus I gegeben; sie waren aber nicht politischer Natur, sondern örtliche Empörungen gegen die Vergewaltigungen durch Adel und Beamte. Politisch hatte nur der Adel Bedeutung. Im 18. Jahrhundert griffen die großen Geschlechter, im 19. auch der niedere Adel in das Staatsleben tätig ein.


Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich aus dem Adel selbst eine Klasse herausgearbeitet, die die alten Traditionen der großen Geschlechter verließ, indem sie europäischer Denkweise sich zuwandte. Die von Peter I gewünschte Annäherung an Europa, das Eindringen von Schulbildung und hunderterlei Elementen der Kultur und Zivilisation waren so weit vorgeschritten, dass sich eine neben der Leitung des Staates einhergehende Meinung bilden konnte, die weder das Volk noch auch nur den Adel umfassend, nur spärlich öffentlich hervortretend, doch den Stock bildete, aus dem eine mehr oder weniger von der Regierung unabhängige, mehr oder weniger öffentliche Meinung emporstrebte — dieses erste Erwachen, diese Kinderjahre des jungen Russland mit ihrem philosophierenden und politisierenden Schaumspritzen, mit ihren Moskauer Studentenkreisen, ihren talentvollen und kritiklustigen jungen Schriftstellern. Das ist alles oft genug auch in deutschen Schriften geschildert worden. Dieses junge Russland hatte noch kaum die Eierschalen abgeworfen, als die liberalen Jahre unter Alexander II die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Reformen in Verwaltung und Justiz brachten. Man jauchzte, man hoffte auf freie Entwicklung, man erstarkte schnell an Zahl und noch mehr an Selbstbewusstsein. Aber zu gleicher Zeit mit den großen freiheitlichen Reformen von 1861 bis 1864 brach der polnische Aufstand aus. Er fand ein durch die Reformen in allen Schichten erregtes Volk vor, eine von liberalen Ideen, aber auch von großem Tatendurst aufgestachelte Masse unter den gebildeten und halbgebildeten Klassen, eine jugendlich selbstbewusste Presse, eine neue Volkskraft ohne Vergangenheit, ohne Erfahrung, ohne realen Boden, ohne feste Ziele, mit viel Wollen und wenig Wissen Das ungestüm des Knaben griff gierig nach den größten Aufgaben, und der polnische Aufstand bot eine solche dar: das Vaterland konnte gerettet, die Nation gerächt werden! Das war mehr als alle Reformen im Innern dieses Vaterlandes, hier konnten die jungen Arme erprobt werden.

Die Presse erfasste den günstigen Augenblick und warf sich in den Kampf mit Wucht und mit der nationalen Fahne in der Hand. Es gelang ihr, neben dem Heer des Staates sich an die Spitze eines großen Teils der oberen Klassen mit einem idealen Gedanken, einem volkstümlichen Empfinden zu stellen. Jetzt trat zum ersten Mal eine von einem maßgebenden Bruchteil des Volkes getragene und zugleich auf reale politische Ziele gerichtete öffentliche Meinung hervor, wie sie sich noch nie, weder zur Zelt der Verschwörungen des 18. Jahrhunderts, noch in den ständischen Versammlungen der Romanows, gezeigt hatte, noch zeigen konnte. Dieser politische Aufstand hat für Polen große und unheilvolle Folgen gehabt, die aber an Stärke, und leider zum Teil auch an unheilvoller Richtung kaum zurückstehen gegen die Wirkung, die er auf das gesamte russische Reich ausgeübt hat Indem die öffentliche Meinung bei ihrem ersten Hervortreten sich einem inneren, nicht wie 1813 einem äußeren Feinde gegenübersah, und indem sie, den Heeren folgend, ihn mit Leichtigkeit und unter Anerkennung von selten der Regierung besiegte, wuchs ihre Kraft und auch der Wunsch, die Kraft weiter wachsen zu lassen. Die gewonnene Stellung führte zur Macht und auch zur Überhebung, die, nach Beendigung des polnischen Aufstandes, nach neuer Betätigung verlangte. Die neuerstandene volkstümliche Macht bedurfte des Kampfes, dürstete nach Kampf, um sich zu fühlen, um sich zu entwickeln, um sich bei der Regierung in Ansehen zu setzen, um sich bei Regierung und Volk als berechtigt, als nötig zu erweisen. Zum Kämpfen aber gehören zwei, es handelte sich also darum, Gegner zu finden und an das Tageslicht der neu aufgehenden russischen Sonne zu ziehen. Und die nötigen Gegner fanden sich.

Die Regierung hatte stets auf die Stimmung sei es der Großen, sei es des Heeres oder der Beamten Rücksicht nehmen müssen. Bei der äußeren Politik besonders, bei manchen Kriegen hatte das Bedürfnis mitgewirkt, durch rühmliche Taten den Glanz der Krone zu mehren, durch kräftige Verbindung wirklicher oder angeblicher russischer Interessen im Auslande die Aufmerksamkeit der Untertanen von den inneren Zuständen abzuziehen. Jetzt machte sich dieses Bedürfnis in verstärktem Maße geltend. Die zarische Selbstherrschaft sah sich unversehens zwischen zwei starken politischen Strömungen hin- und hergeworfen, an deren Spitze KATKOW und HERZEN standen, jener als Vertreter des jungen Nationalismus, dem dieser als Vertreter des noch jüngeren Sozialismus entgegentrat Indem man der Presse und dem Moskauer jungen Russland unmittelbaren Einfluss auf die Lösung der polnischen Fragen einräumte, ließ man die Ansprüche der Presse und ihrer Hintermänner sich über den Kopf wachsen. Bald gingen denn auch die Wogen jener beiden Strömungen gefährlich hoch. Während die Moskauer Nationalisten im Verein mit der Regierung auf die am Boden liegenden Polen mit Gewaltmaßregeln losschlugen, erstarkte die Partei, deren Ziel die Beseitigung der Staatsgewalt war. Ein MURAWJEW wurde Nationalheld hier, ein BAKUNlN, später eine SASSULITSCH dort. Und je bedrohlicher der Nihilismus um sich griff, um so höher stieg das Ansehen und auch das Gewicht der Gegenpartei. Eine Zeitlang regierte ein Journalist fast den ganzen Staat, man horchte mehr nach KATKOW hin als nach irgend einem Minister. Und KATKOW schmiedete das Eisen, solange es warm war.

Sein Streben ging dahin, das Selbstbewusstsein, das nationale Gefühl im Volke zu stacheln und zu stärken, zu welchem Ende er an die alten Traditionen der Moskauer Bojarenmacht anknüpfte, wie sie im 18. Jahrhundert, und zuletzt noch in den Versuchen und Ideen der beiden PANIN um die Wende des 19. Jahrhunderts aufgetaucht waren. Aber wenn man auch sich mit Forschungen in den Archiven über die Notabelnversammlungen der alten Zeit in gewissen Kreisen beschäftigte, so blieb das doch bedeutungslos, solange die Regierung selbst nicht wagen wollte, die Konsequenzen solcher Ideen und Studien praktisch zu ziehen. Ein freieres Feld fanden die Moskauer in dem Kampf, der nun gegen die Grenzprovinzen begann. Hier konnten die nationalen Fäuste versucht, die russischen Muskeln gestärkt werden, und hier legte ihnen die Regierung keinen Zügel an. Hatte bis dahin die Regierung in endlosen Kriegen nach Vermehrung äußerer Größe und Macht gestrebt, so begann nun ein Kampf um Ausdehnung und um Macht, der im Namen der Nation geführt wurde.

In Polen waren im Jahre 1867 die Hauptkämpfe auch auf dem Gebiet der Gesetzgebung und der Verwaltung beendet, die Moskauer Reformatoren aus dem jungrussischen Lager, die TSCHERKASSKI und MILJTlN, hatten dort, wie die MURAWJEW und Kaufmann in Litauen, ihre große Politik getrieben. Eben aber war der Norddeutsche Bund gegründet worden, was der jungen Partei der Verteidiger der russischen Nation eine sehr willkommene Gelegenheit zu neuen Taten, zu einer Wendung ihrer Kolonnen gegen die Deutschen, besonders die in den Ostseeprovinzen gab. Man konnte ihnen zwar nicht das Geringste vorwerfen, was irgend als staatswidrig oder gar staatsgefährlich hätte erscheinen können, aber darum handelte es sich auch gar nicht. Die Nation musste etwas zu tun haben, das russische Selbstgefühl musste geweckt werden, die in Polen entfaltete politische Betätigung von Presse und Partei musste irgendwo und irgendwie fortgesetzt werden, um nicht wieder in den alten politischen Schlaf zurückzusinken oder um nicht wieder der Regierung entbehrlich zu werden. Also mussten diese Deutschen verdächtigt werden, BISMARCK musste böse Absichten auf die alten deutschen Länder haben. Kaiser Alexander II wurde von allen Seiten bearbeitet, links von KATKOW und POBEDONOSZEW, rechts von Leuten wie der hessische Minister Baron VON DALWIGK. Er ließ sich überzeugen, dass hier Gefahr drohe. Aber wie wenig er die Verheerung wollte noch ahnte, die seine im Herbst 1867 in Riga angekündigten Eingriffe in die Rechte der Provinzen nach sich ziehen würden, mag aus seinen eigenen Worten hervorgehen.

Am 12. Oktober 1867 hatten die Vertreter der vier baltischen Ritterschaften eine Audienz beim Kaiser, bei welcher er folgende Worte an sie richtete: „Messieurs, permettez-moi de réduire cette question à ses véritables proportions. L’ukase, qui prescrit l’usage de la langue russe, date de 1850. Il n'a pas été exécuté jusqu'ici par plusieurs raisons, entre autre parcequ'il a présenté de véritables difficultes, mais en partie aussi parceque les gouverneurs généraux ont peut-être eu pour vous trop de condescendance. [ohne Korrektur Seite 15 im Original = Leukase, vous le savez, n'emane pas de mol, mais de feu mon pere et je dois y tenir et j'y tiens ä ce que sa volonte soit ex^cutee. Ce que vous me dites de vos sentiments, je n'en doute nullement et je n'en ai Jamals dout^. Mais aussi, mes amis — je dis ä dessin mes amis — vous n'auriez dfi douter des miens; il sont toujours les mSmes. Par Tex^cution de Tukase on ne touche aucunement ni ä votre droit, ni ä vos Privileges de caste. Jamals on n'exigera de vous Femploi d'une autre langue que la votre, et Ton continuera ä correspondre avec vos ressorts et tribunaux de province en allemand, comme par le pass^. Mais la langue de T^tat etant le russe, cette langue doit etre en usage dans tous les Gouvernements-Verwaltungen comme langue officielle. Cest aussi pourquoi je me suis servi de cette langue toutes les fois que je me suis adresse ä vous publiquement Cependant vous savez, combien j'aime ä vous parier allemand, et si je parle fran^ais en ce moment, c*est que je m'exprime plus facilement. Je comprends parfaitement, que vous soyez bless^s par les menees de la presse. Aussi ai-je toujours blam^, moi, cette presse infame, qui, au Heu de nous unir, tache de nous d^sunir. Je crache sur cette presse, qui voudrait vous mettre sur la mgme ligne avec les Polonais. J*estitne votre nationalit^ et j'en serais fier comme vous. J*ai toujours dit, qu'il ^tait stupide de reprocher ä quelqu*un son extraction. Ainsi, messieurs, calmez-vous et ne craignez rien. II n'est pas question d'un changement du Systeme. Du reste j'ai donn^ carte blanche au gouverneur-g^n^ral. Je ne veux d'ailleurs, ni que la chose se fasse du jour au lendemain, ni que les employes soient forc^s de quitter le service, ni en g^n^ral que rien soit casse. Et maintenant, messieurs, restez persuades que je vous aime et que jamais je n'oublierai que vos peres et grandperes ont servi Tetat et verse le sang pour la Russie. Que Dieu vous guide!"]

Diese Rede schildert vortrefflich die Lage: der Kaiser, widerwillig dazu gedrängt, eine vergessene Verordnung seines Vaters zur Ausführung zu bringen, gedrängt von einer erstarkten öffentlichen Meinung, die ihrerseits erstarkt war durch die Teilnahme unstaatlicher, unoffizieller Mächte an der Politik gegenüber den Polen. Was die diese Mächte leitende und vom Kaiser verachtete, ja gehasste Presse, was demnach jene Mächte selbst wollen, sagt der Monarch offen heraus: ihn, den Zaren, die Regierung mit den deutschen Ständen der Provinzen verfeinden. Es musste Feindschaft geschaffen, Kampf geschaffen werden zur Stärkung der Bedeutung dieser unoffiziellen politischen Mächte. Indem man gegen Polen und Deutsche focht, rang man zugleich um einen die absolute Selbstherrschaft beschränkenden Einfluss und war stolzer darauf, einen KATKOW, einen TSCHERKASSKI aus eigener Kraft in maßgebende Stellungen neben Minister und Gouverneure erhoben zu haben, als auf alle Würden, die der Staat, der Selbstherrscher verleihen konnte.

Kaiser Alexander ward es gewiss nicht leicht, in verbriefte Rechte und gesunde Zustände auch nur in diesem milden Sinne einzugreifen. Aber das junge nationalistische Russland drängte ungestüm in die einmal gelegte Bresche nach und begann sein Zertrümmerungswerk, welches natürlich ein Aufbau genannt wurde. Leider wurden die nationalen Eiferer gerade gegenüber dem Deutschtum auch durch äußere Vorgänge unterstützt. Die Ereignisse von 1870 — 1871 störten die Harmonie zwischen Thron und Gesellschaft; man warf dem Zaren vor, Preußen bei der Einigung Deutschlands geholfen zu haben. Vielleicht fühlte Alexander, dass ein wenig politische Berechtigung in diesem Vorwurf enthalten war, so offenbar auch eine andere Haltung dem treuesten Freunde gegenüber, den Russland unter den Großmächten von jeher gehabt hatte, der Russland noch eben, 1854 und 1864, gute Dienste erwiesen hatte, gegen die Loyalität verstoßen hätte. Genug, man murrte in der Gesellschaft, und Alexanders Arm verlor an Kraft in der Beschützung seiner deutschen Untertanen.

Denselben Effekt hatte der Krieg von 1877 und nachher der Berliner Kongress. Jetzt ruhte die öffentliche Meinung, die noch unter Nikolaus nur die Meinung der Hofgesellschaft war, auf weit breiterer Grundlage. Presse, Geistlichkeit, Offiziere, Beamten, ja Professoren und Studenten hatten an ihr Anteil und wirkten durch die Hofgesellschaft auf die Minister und den Herrscher. Bis dahin hatten Zare und Zarinnen Kriege geführt und Länder erobert im Interesse der zarischen Politik, die sehr oft mit dem Interesse des Volkes keineswegs übereinstimmte. Jetzt wollte das junge Russland den Krieg und setzte seinen Willen durch. Ein Kreuzzug für die von den Ungläubigen geknechteten Slawenbrüder sollte das Nationalgefühl stärken, das Selbstbewusstsein des Volkes, die Bedeutung seiner Vertreter, der TSCHERNAJEW, IGNATJEW, KATKOW, kurz des nach politischer Macht strebenden jungen Russland stärken. Man erzählt, die Kaiserin und der zarische Beichtvater seien es gewesen, die den Kaiser zum Entschluss brachten; aber hinter ihnen stand eine sehr große Schar, von der die Kaiserin und der Beichtvater und was sonst das Ohr des Monarchen hatte, vorwärts getrieben wurde. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass, von dem Kanzler Fürsten GORTSCHAKOW abgesehen, die Neigung der russischen Diplomatie für den Krieg weder allgemein noch stark war. Zu Anfang 1890 kursierte in Petersburg unter einigen Würdenträgern eine dem Ministerium des Auswärtigen eingereichte Denkschrift des ehemaligen Ministerresidenten in Cettinje und späteren Geschäftsträgers in Sofia, Herrn JONIN, über den Krieg von 1877. Darin wies dieser inzwischen als Gesandter in Bern verstorbene Diplomat nach, wie ganz unvorbereitet und wider Willen Russland sich in den Krieg begeben hatte, da man doch mit 4 Armeekorps gar nicht die Absicht haben konnte, einen ernstlichen Krieg zu führen, sondern nur einschüchtern konnte, was auch der 300 km betragende Marsch GURKOS beweise; man habe überhaupt nicht ernstlich an einen Krieg geglaubt, da man weder ein klares Ziel noch einen festen Plan hatte, mit allen Höfen, mit Wien, Berlin, London, verhandelte, ohne feste Abmachungen zu treffen, und endlich in Wien verabredete, Österreich solle, wenn die Zustände auf der Balkanhalbinsel geändert würden, Bosnien und Herzegowina in Besitz nehmen. Einige russische Diplomaten hätten darauf gedrungen, dass wenigstens die Grenzen dieses Gebietes genau festgesetzt würden; aber Fürst GORTSCHAKOW habe durchaus seine Zustimmung nicht geben wollen, weil er völlig freie Hand behalten wollte. „Und doch“, heißt es in der Denkschrift wörtlich, „bedurften wir vor dem Kriege keiner Verabredungen, weder mit Österreich noch mit England — BISMARCK trug uns einfach ein positives Bündnis an." Der Berliner Vertrag habe für Russland nur zwei Übel geschaffen: die Teilung Bulgariens und die Erklärung Batums zum Freihafen. Alles sonst Nachteilige sei in S. Stefano verschuldet, wo ein unausführbarer Vertrag zu Papier gebracht wurde.

Diese interessanten Aufzeichnungen zeigen, dass der Krieg von 1877 von GORTSCHAKOW ebenso unklug begonnen wurde, wie die Verhandlungen in Berlin in völliger Verzagtheit und Enttäuschung von seinen Bevollmächtigten geführt wurden. Sie bestätigen wiederum, dass BISMARCK vor dem Kriege zu helfen bereit war, dass aber GORTSCHAKOW nicht darauf einging; und es ist bekannt, dass BISMARCK trotzdem an seiner Hilfsbereitschaft festhielt, indem er alle Forderungen Russlands unterstützte. Die Eitelkeit GORTSCHAKOWs trug einen großen Teil der Schuld an dem kopflosen Hineintaumeln in diesen Krieg; allein die treibende Kraft war weniger der alte Kanzler, als die Schar jüngerer Streber, welche dieses Krieges zu bedürfen meinten, um im Volk Ansehen und bei der Regierung Einfluss zu gewinnen. Deren Anerkennung zu gewinnen, in Europa seinen ins Schwanken geratenen Ruf wieder herzustellen, also seine unmäßige Eitelkeit zu befriedigen, das waren die sehr starken Motive GORTSCHAKOWS, die sich mit jenen Wünschen der Hofkreise verbanden. Der serbische Aufstand, der den Krieg einleitete, war nicht so sehr von dem offiziellen Russland, als von den Sendboten russischer Anhänger panslawistischer Ideen geschürt worden; es waren dieselben Leute, welche als Freiwillige unter Leitung des russischen Generals TSCHERNAJEW mitgekämpft hatten. Diese Slawenschwärmer rissen die Umgebung des Zaren und endlich ihn selbst fort, und GORTSCHAKOW suchte dann möglichst viel zur Befriedigung seines Bedürfnisses nach Ruhm aus dem Feldzuge herauszuschlagen. Als dann in Berlin die Schlussrechnung etwas dürftig ausfiel, als während des anfangs unglücklichen Ganges der Dinge in dem Heere bedenkliche Zeichen der Missstimmung bemerklich wurden, da suchten diese Slawenbefreier die eigene Schuld auf BISMARCK und Deutschland abzuwälzen. Die Verleumdung und Verhetzung begann und hatte Erfolg sowohl beim Volk, das an die deutsche Treulosigkeit sich zu glauben gewöhnte, als bei Alexander, der den nun verdoppelten Vorwürfen, russische Interessen seiner Vorliebe für Deutschland zu opfern, nicht mehr zu widerstehen vermochte. Dazu mochte das seinen Willen schwächende Bewusstsein kommen, dass er nicht ohne Schuld daran war, dass seine Truppen vor den Toren von Konstantinopel umkehren mussten. GORTSCHAKOW zog an der Alarmglocke emsig mit, und es kam so weit, dass Alexander fast zu einem noch unbesonneneren Kriege als dem türkischen hingerissen wurde. Die Folge war der Abschluss des Dreibundes.

Nun hatte die nationale Aktionspartei wieder das, was sie brauchte, nämlich einen Feind, gegen den sie das russische Volksgefühl hetzen konnte. Dieser Feind war der Deutsche, und da man ihm nicht mit Krieg in Deutschland beikommen konnte, so wurde um so intensiver gegen das Deutschtum im allgemeinen und gegen die deutschen Untertanen Russlands im besonderen gehetzt. Die Zertrümmerung alter, wertvoller Kultur in den Ostseeprovinzen wurde fortgesetzt. Aber auch dieses Übungsfeld genügte noch nicht. Gegen die Kleinrussen, einen Stamm von 7—8 Millionen mit eigener Sprache und Literatur, wurde ein schon früher begonnener nationaler Feldzug wieder aufgenommen; gegen die kaukasischen Fremdvölker ebenfalls; die deutschen Kolonien des Südens wurden bedrängt. Als man endlich unter Alexander III ziemlich nahe an das Ziel gekommen war, als nur noch ein von diesem Herrscher geschütztes Kulturland, Finnland, übrig war, an das man nicht hatte Hand anlegen dürfen, versäumte man keinen Augenblick nach dem Thronwechsel, die Besonderheiten auch dieses Landes für staatsgefährlich zu erklären. Jetzt hämmern die nationalen Fäuste auf Finnland ein, entsprechend dem Programm, nach welchem sie den revolutionären Polen gegenüber zuerst gearbeitet hatten und das sie dann auf höchst unrevolutionäre andere Bewohner des großen Reiches anwandten.

Die Dinge hätten vielleicht einen anderen Gang genommen, wenn die Hoffnung auf eine liberale Änderung der Verfassung, wie sie gegen Ende der Regierung Alexanders II in weiten Kreisen gehegt wurde, sich erfüllt hätte. Der Tatendrang des jungen Russland hätte dann vielleicht nicht nötig gehabt, sich gegen Polen, Türken, Deutsche, Kleinrussen, Kaukasier, Finnländer auszutoben, sondern würde ein besseres, dankbareres, edleres Feld der Betätigung in den weiten, der ordnenden Hand sehr bedürftigen Gefilden des eigenen Landes gefunden haben, zu dessen angeblichem Wohl seit 40 Jahren all jene bösen Feinde so grimmig bekämpft werden. Jene Pläne einer Änderung der Verfassung —denn auch die absolute Monarchie ist eine Verfassung — standen dicht vor der Reife, als Alexander II ermordet ward. Niemals hat sich wohl ein Verbrechen schwerer an dem Verbrecher und leider auch an dem ganzen Volke gerächt, als diese Tat an der Menge derer, aus deren Mitte sich die mörderischen Hände erhoben.

Dem Charakter des neuen Monarchen entsprach ein reaktionäres, durchaus nicht ein liberales System. Erstaunlich nur ist, mit welcher Leichtigkeit die neueste öffentliche Meinung sich diesem Charakter anzupassen vermochte. Binnen kurzem war der Drang nach Freiheit wie weggefegt aus den Räumen des russischen Hauses. Man warf sich auf die Nihilisten, man wurde eifrig kirchlich, man tat, was man konnte, um nicht den Einfluss durch Abweichung von dem Willen des Zaren und POBEDONOSZEWS gänzlich einzubüßen, und kaum waren einige Jahre verflossen, so schwor diese öffentliche Meinung nur noch auf drei Dinge: absolute Selbstherrschaft, absolute kirchliche Orthodoxie, absolute russischnationale Herrschaft. Nichts mehr von Rechten oder Institutionen, die unabhängig von diesen drei Gewalten wären, nichts von Ausbau der Reformen Alexanders II, nichts von Freiheit, von provinziellem Leben, von akademischem Leben, von religiösem Leben. Im Namen dieser drei Gewalten wurden alle Winkel des Reiches nach Feinden und Verdächtigen durchstöbert, und natürlich fand man, was man brauchte. Der Kampf gegen fremde Sprache, Recht, Kultur ging weiter, daneben der gegen Stundisten und Sekten aller Art, gegen Katholiken und Protestanten, endlich auch gegen Schulen und Provinzialstände. Das alte Russland hatte sich dem staatlichen Beamtentum wieder völlig unterworfen, und beim Tode Alexanders III war dieses Beamtentum wieder so allmächtig wie nur jemals früher, ja es ward sehr bald selbstherrschender als die Krone.

Fragt man, was in den hundert Jahren seit dem Tode Pauls I für die Kultur getan worden ist, so wird man im ganzen zu demselben Bekenntnis gelangen, das Alexander I ablegte: zentnerschwer muss diese Frage sich dem auf die Brust legen, der die Verantwortung für die Volkswohlfahrt voll auf sich nimmt Eine ungeheures Beamtenheer ist geschaffen, ungeheure Papiermengen wurden vollgeschrieben, Gesetze und Verordnungen wurden ohne Zahl ersonnen. Hunderte von Kommissionen arbeiteten ohne Rast — aber zieht man die Summe der langen Rechnung, so war es im ganzen eine Arbeit, die der Russe mit dem Bilde kennzeichnen würde: aus dem Hohlen ins Leere umgießen. Man hat Zivilisation zu schaffen gesucht, nicht Kultur; Formen, nicht Inhalt; Schein, nicht Wesen. Man setzt sich an eine Tafel, die von besser gekochten Speisen strotzt, als Paris selbst sie liefert, und fühlt sich erhaben über Paris; man rollt in eleganteren Wagen als in England dahin, und meint England hinter sich gelassen zu haben; man rechnet mit Millionen von Soldaten und Milliarden von Rubeln, und hält Russland für den Führer im Staatsleben der Welt; man schickt seine Befehle bis an den Stillen Ozean und glaubt damit bewiesen zu haben, dass die Regentenpflichten voll erfüllt würden. Und blickt man näher zu? Die Speisen, die Weine, die Wagen sind französisch oder englisch; die schlechten Wege, die elenden Dörfer, die Unordnung, die Rechtlosigkeit, der Unverstand, die Unbildung, kurz der Mangel an wahrer Kultur — der ist durch äußere Verzierungen oft verdeckt, aber nicht überwunden. Die Berechtigung dieser Behauptung sollen die folgenden Kapitel erweisen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900
Zar Peter der Grosse

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Alexander I. Kaiser von Russland

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Alexander I. Zar von Russland

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Alexander III. (1845-1894) Kaiser von Russland

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Anatolische Türken

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Armenisches Büffelgespann

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Tarantaß - Russlands Postkutsche

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Garde Tscherkesse

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Auf der Flucht 1913

Auf der Flucht 1913

Baku

Baku

Baumposten der Kosaken in Ostpreußen

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Gefallener Kosak

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Gasthaus im Kaukasus

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Gefangennahme von Zivilisten 1913

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Kosaken beim Beutemachen 1913

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Grusiner

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Hamal - armenischer Lastträger

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Katharina II (1729-1796) Genannt Katharina die Große, Kaiserin von Russland

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Kaukasier mit Frau

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Kaukasische Garden

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Kaukasische Kinder

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Kosaken und Tscherkessen

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Kuban Kosaken

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Mingerelier

Mingerelier

Mingerelierin

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Ossete

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Ostpreußische Flüchtlinge bei der Rast

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04. Father John of Cronstadt

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05. The Cousins: the Tsar and King George

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01. The Church of the Resurrection of Christ

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