Tolstois Vater

Sein Vater, Graf Nikolai Iljitsch Tolstoi, den Tolstoi bereits als neunjähriger Knabe verlor, hatte, solange er lebte, im Herzen des Sohnes unbestritten den ersten Platz inne, wenn er auch längst nicht den bestimmendsten Einfluss auf ihn ausübte. Tolstois Vater hatte als Siebzehnjähriger ungeachtet aller Abmahnungen der besorgten Eltern den Krieg von 1812 mitgemacht als Adjutant eines entfernten Onkels, des Generals Fürsten Andrej Iwanowitsch Gortschakoff. Auch in den Feldzügen von 1813 und 1814 nahm Nikolai Iljitsch Tolstoi Anteil und geriet 1814 bei einem Adjutantenritt in Frankreich in Gefangenschaft, aus der ihn erst der Friedensschluss von 1815 befreite. (Sein mitgefangener leibeigener Bursche hatte dabei alle Wertsachen seines Herrn in einem seiner Stiefel verborgen, und zog denselben trotz heftigster Schmerzen und trotz der Wunde, die er sich rieb, während der ganzen Zeit der Gefangenschaft nicht vom Fuße, was dann seinem Herrn, nach dessen Befreiung, ein sorgloses Leben in Paris ermöglichte.) Als Tolstois Vater sechzehn Jahre alt war, ward ihm nach damaliger Sitte „seiner Gesundheit wegen“ von den Eltern eine junge Leibeigene zugeführt, die ihm einen Sohn, Mischa, gebar, der später Briefträger wurde. Tolstoi entsinnt sich eines seltsamen Gefühles, das jedesmal über ihn gekommen sei, wenn dieser, sein später in Armut verfallener Halbbruder, der dem Vater ähnlicher sah als irgendeiner seiner Brüder, ihn mehrmals um Unterstützung bat und sehr dankbar war, wenn er zehn oder fünfzehn Rubel erhielt.

Nach dem französischen Feldzug nahm Tolstois Vater, des Kriegsdienstes überdrüssig, seinen Abschied und zog zu seinem Vater nach Kasan. Als der dann starb, und dem Sohne außer der Sorge für die verwöhnte Mutter und die unversorgten Schwestern nichts hinterließ als Schulden, ward dann von Verwandten die Heirat mit der reichen Fürstin Wolkonsky zustandegebracht. Tolstois Vater siedelte darauf nach Jasnaja Poljana über, wo er nach neunjähriger glücklicher Ehe verwitwete.


Tolstoi schildert seinen Vater als von stattlicher Statur, gut gebaut, lebhaften sanguinischen Temperamentes, von angenehmen Gesichtszügen und mit immer schwermütigen Augen. Sein Leben verbrachte der Vater in Beschäftigung mit der Landwirtschaft, worin er nach der Meinung seines Sohnes kaum ein großer Kenner war, indes als Gutsherr eine für die damalige Zeit sehr bemerkenswerte Eigenschaft besaß: er war nicht nur nicht grausam zu seinen Leibeigenen, vielmehr eher zu schwach. Tolstoi hat zu seines Vaters Lebzeiten niemals etwas gehört von körperlichen Züchtigungen der Leibeigenen. „Wahrscheinlich“, so meint Tolstoi, „kamen solche doch vor. In dieser Zeit konnte man sich schwerlich vorstellen, dass ein Gut verwaltet werden könnte, ohne Anwendung körperlicher Züchtigungen. Sie waren aber wohl sehr selten, und mein Vater nahm so wenig Teil an ihnen, dass uns Kindern niemals etwas davon zu Ohren kam. Erst nach dem Tode des Vaters erfuhr ich zum ersten Male, dass solche Strafen bei uns vorkamen.“

Außer der Landwirtschaft beschäftigten Tolstois Vater endlose Prozesse, die er vor allem in Sachen der väterlichen Hinterlassenschaft zu führen hatte, und die ihn zu häufigen Reisen veranlassten. Er verließ aber auch so oft Haus und Hof mit Jagdflinte und Jagdhund, eine Leidenschaft, die sich auf seinen großen Sohn vererbte.

Tolstoi meint, seinem Vater seien wohl kaum wissenschaftliche Neigungen eigen gewesen, wohl aber habe er auf der Höhe der Bildung seiner Zeit gestanden, auch viel gelesen und eine umfangreiche, meist aus französischen Klassikern und Naturforschern bestehende Bibliothek sich angelegt, wobei er es sich zur Regel machte, nie ein neues Buch zu kaufen, bevor er nicht das früher gekaufte ausgelesen hatte. Auch sei sein Vater, wie übrigens die Mehrzahl der jungen Leute aus der Alexanderschen Epoche, und wie vor allem die Teilnehmer an den Feldzügen von 1813—14 zwar nicht das gewesen, was man jetzt einen Liberalen nennt, wohl aber habe sein Vater einfach aus dem Gefühle seiner persönlichen Würde es nicht für möglich gehalten, dem Staate zu dienen während der Regierungszeit Alexanders I. und Nikolaus I. Auch alle Freunde von Tolstois Vater seien unabhängige Leute gewesen, die niemals dienten und ein wenig frondierten gegen die Regierung von Nikolaus I. Tolstoi berichtet zudem, seine Familie habe während seiner Kindheit keinerlei nähere Beziehungen zu irgendeiner Beamtenfamilie unterhalten. Das habe er zwar zu Lebzeiten seines Vaters nicht begriffen, wohl aber habe er verstanden, dass sein Vater sich niemals vor irgend jemandem erniedrigte, und niemals seinen lebhaften, heiteren und oft spöttischen Ton änderte.

„Und dies Gefühl der persönlichen Würde, das ich an meinem Vater wahrnahm, erhöhte meine Liebe zu ihm, meine Begeisterung für ihn.“

Tolstois Vater war dabei ein lustiger Vater, der mit seinen Kindern spielte, ihnen Bilder aufzeichnete, sie liebkoste, verwöhnte und bei Tisch durch heitere Scherze die ganze Familie lachen machte. Als einen besonders sympathischen Zug seines Vaters erwähnt Tolstoi dessen große Verehrung für seine Mutter (Tolstois Großmutter), und dann vor allem seine nie versagende Nachsicht und Freundlichkeit den Leibeigenen gegenüber.

„Ich habe meinen Vater sehr geliebt,“ so schließt Tolstoi seine Erinnerungen an ihn, ,,aber ich wusste gar nicht, wie stark meine Liebe zu ihm war, bis zu der Zeit, als er starb.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi