Tolstois Mutter

Seiner Mutter vermochte sich Tolstoi nicht zu entsinnen, war er doch bei ihrem Tode erst anderthalb Jahre alt. Auch hat sich seltsamerweise kein Porträt von ihr erhalten (bis auf die Silhouette, die wir bringen). Tolstois Mutter soll nicht eigentlich hübsch gewesen sein, wohl aber sehr gebildet für ihre Zeit. Abgesehen davon, dass sie — was damals eine große Seltenheit war — in ihrer Muttersprache fehlerlos schrieb, sprach sie Französisch, Deutsch, Englisch und Italienisch, spielte sie vorzüglich Klavier, und soll sie eine unerschöpfliche Märchenerzählerin gewesen sein. Von Hause aus überaus heftigen Charakters, übte sie große Selbstbeherrschung. „Sie ward ganz rot,“ so erzählte dem Knaben Tolstoi noch viele Jahre nach ihrem Tode eines ihrer Mädchen, „Tränen standen ihr in den Augen, sie sagte aber kein grobes Wort!“ ,,Sie wusste auch keines!“ fügte der Sohn hinzu. Aus einigen Briefen der verstorbenen Mutter, sowie aus den Tagebüchern, die sie über die Entwicklung und die Fortschritte ihres ältesten Knaben Nikolai führte (der sechs Jahre alt war, als die Mutter starb), glaubt Tolstoi die gleichen Charaktereigenschaften zu erkennen, die er eben bei diesem seinem ältesten Bruder Nikolai so liebte: völlige Gleichgültigkeit dem Urteile der Welt gegenüber, gepaart mit einer Bescheidenheit, die sie ängstlich darauf bedacht sein ließ, die eigenen Vorzüge zu verbergen, gleich als ob sie sich ihrer schämte. Auch glaubt Tolstoi nach dem Urteil aller, die seine Mutter gekannt haben, schliessen zu dürfen, dass sie ebenso wie Nikolai niemals etwas Schlechtes sprach von irgendeinem Menschen. Was Tolstoi dann noch besonders auffällt, — und das hat die Mutter wohl dem großen Sohne vererbt — ist die Geradheit und Einfachheit des Ausdruckes in ihren Briefen, die dabei zu einer Zeit geschrieben sind (etwa um 1820 herum), als bekanntlich Überschwang der Schreibweise zum guten Ton gehörte. Tolstois Mutter nennt ihren Mann immer nur „mein guter Freund“ und sagt an einer Stelle wörtlich: „Die Zeit scheint mir lange ohne dich, obgleich, offen gesagt, wir nicht allzu viel von deiner Gesellschaft haben, wenn du da bist.“ Unterschrieben sind die Briefe mit „Deine ergebene Marie“. Tolstoi meint, die Liebe zu dem früh verstorbenen Bräutigam sei wohl der Mutter eigentliche, poetische Liebe gewesen, während ihre Ehe mit seinem Vater von den Verwandten gemacht worden sei: Tolstois Mutter war reich, nicht mehr jung und Waisenkind, während Tolstois Vater ein heiterer, glänzender junger Mann war, mit klangvollem Namen und vorzüglichen Verbindungen, aber mit von seinem verschwenderischen Vater her derartig zerrütteten Vermögensverhältnissen, dass er sich sogar von der väterlichen Erbschaft lossagte. Tolstoi meint, seine Mutter habe in seinem Vater vor allem den Vater ihrer Kinder geliebt, ihn aber, Tolstoi selber, habe die Mutter ganz besonders lieb gehabt und ihn ihren, „kleinen Benjamin“ genannt. „Meine Mutter“, so schließt Tolstoi seine Erinnerungen an sie, ,,erschien mir stets als ein so hohes, reines, geistiges Wesen, dass oft in der mittleren Periode meines Lebens, wenn ich zu kämpfen hatte mit übermächtigen Versuchungen, ich zu ihrer Seele betete und sie bat, mir zu helfen, und dieses Gebet ist nie vergeblich gewesen!“

Das nur neunjährige Eheleben von Tolstois Mutter ist, wie es scheint, ein äußerst glückliches gewesen. Es verlief fast ohne alle gesellschaftliche Zerstreuungen und war völlig ausgefüllt durch die Sorge um die fünf Kinder, verschönt durch die Liebe aller zu ihr und durch ihre Liebe zu allen, die mit ihr lebten, und erheitert durch die unverwüstlich gute Laune des Gatten. Es verdient vielleicht erwähnt zu werden, dass der Lieblingsschriftsteller von Tolstois Mutter, die übrigens ihrer ganzen Umgebung, den Gatten eingeschlossen, geistig bedeutend überlegen gewesen sein soll, kein anderer war als das ewige Vorbild ihres großen Sohnes: Jean Jacques Rousseau. Aus einem Tagebuche der Mutter Tolstois aus dem Jahre 1810 über eine mit ihrem Vater unternommene Reise von Moskau nach St. Petersburg erkennen wir den aufs Praktische gerichteten Sinn der kaum sechzehnjährigen Fürstin, den sie wohl vor allem den Anleitungen ihres Vaters verdankte, sowie ihre aufrichtige Freude an der Natur. Alles in allem erhalten wir den Eindruck eines klugen, nicht oberflächlichen, tüchtigen aber keineswegs unpoetischen Naturells.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi