Die Leibeigenschaft als Hintergrund von Tolstois Kinderzeit.

Tolstois Kindheit ist eine so überaus glückliche gewesen, wie das wohl nur möglich war im Kreise einer russischen Gutsbesitzerfamilie während der letzten Jahrzehnte der Leibeigenschaft. Da freilich war das wohl die Regel überall da, wo den Leibeigenen einigermaßen menschliche Behandlung zuteil ward: das grundsätzliche Unrecht, auf dem sich jedes Sklaventum aufbaut, bleibt dem kindlichen Geist verschlossen. Und auch das mit Händen zu greifende Elend, das nun einmal unvermeidlich ist überall da, wo der Mensch des Menschen Höriger ist, kann in Russland selbst dem scharfsichtigen Kinderblick entgehen, denn bei der natürlichen Güte des einfachen russischen Volkes hatte jeder nicht geradezu bösartig grausame Seelenbesitzer — vorausgesetzt nur, dass seine Sklaven einigermaßen satt zu essen hatten, — kindlich dankbare und grenzenlos ergebene Diener um sich. Und die richteten ihre ganze Zärtlichkeit, die dem Russen kein noch so trauriges Schicksal je zu rauben vermag, auf die Kinder ihrer Herrschaft, gleich, als ob sie bedauerten und ihnen Abbitte tun wollten, um der Sünde ihrer Eltern wegen, in die sie, die Kinder, unschuldig hineingeboren waren, und der sie sich gar nicht zu entziehen vermocht hätten. Vielleicht auch, dass die Leibeigenen in jener religiösen Gewissenhaftigkeit, die dem einfachen Russen eigen ist, sich vor sich selber fürchteten, sie möchten, ohne es zu wollen, die Kinder entgelten lassen für das, was der Kinder Eltern ihnen taten. Das sind wenigstens alles durchaus mögliche Annahmen für den, der einen auch nur oberflächlichen Einblick tat in den tief religiösen Sinn des russischen Volkes. Vielleicht auch, dass die Leibeigenen die Kinder ihrer Herren darum so verwöhnten, weil sie ahnten, dass die die einzig glücklichen Menschen waren auf dem Gutshofe des russischen Seelenbesitzers. Freilich ist der einfache Russe an sich schon mit natürlicher Liebe und mit angeborenem Verständnis begabt für die ihm so verwandte Kinderseele: noch heute lebt die ideale Kinderfrau in Russland. (Und wenn die traurige soziale Lage des russischen Lehrerstandes sich auch nur bis zur Erträglichkeit wird gehoben haben, wird Russland zweifellos eine mustergültige Volkslehrerschaft sein eigen nennen.) Wie dem auch immer sei: zahllose Zeugnisse aus der Zeit der Leibeigenschaft geben Kunde davon, dass den Hofleibeigenen fast stets die erste Liebe der Herrschaftskinder galt, und dass für viele von ihnen einzelne Leibeigene zeitlebens sittliche Vorbilder gewesen sind. Denn wenn auch diese armen Hörigen die Kinder ihrer Herren verwöhnten, so war das doch die Verwöhnung des Armen. Die aber macht nicht zum Leben untauglich wie jede andere Verwöhnung. Denn viel zu sehr kennt der Arme des Lebens Notwendigkeiten. Weil er aber des Lebens Nöte kennt und doch mit Liebe verwöhnt, so erweckt die Verwöhnung durch ihn in der erwachenden Kinderseele die Erkenntnis von einer unendlichen Güte, deren der Mensch fähig ist, von der Macht seiner Selbstlosigkeit und der Unüberwindlichkeit seiner Liebe. (Unschwer ließe es sich nachweisen, dass solche Eindrücke, wenn sie genialen Dichtern wurden, und die sie dann hineintrugen in die Seelen der Masse, mehr als alles andere zur Befreiung der Leibeigenen beitrugen.) Jedenfalls kann sich keine auch nur einigermaßen empfängliche Kinderseele solchen Eindrücken entziehen. Bei einem so genial empfindenden Herzen, wie es Tolstoi von frühester Kindheit an eigen war, mussten diese Eindrücke mit zu den bestimmendsten werden. Bestimmend für Tolstois ganzes späteres Leben ward auch das Erlebnis eines allen Menschen möglichen, unschuldigen, restlosen Erdenglückes, wie es ihm selber in frühester Kindheit zuteil ward, und wie er es vor allem der warmen Zärtlichkeit der armen Leibeigenen verdankte. Mit diesem einmal erlebten Erdenglück verglich dann Tolstoi unwillkürlich alles Menschenschicksal, das ihm weiterhin vor Augen trat, und da er der Menschen allgemeines Los so unähnlich fand dem Erdenglück, das er einmal als menschenmöglich erlebt hatte — damals, als er, ein hilfloses Kind, angewiesen war auf anderer Liebe und Sorgfalt — darum wich nie mehr von seiner Seele der peinliche Gedanke an alles das Erdenglück, das menschenmöglich wäre und verloren geht unwiederbringlich, weil Not und Sorge der Menschen Seele belagern, und so selten nur die Liebe den Weg findet bis zu ihr. Niemals mehr, seit Tolstois Geist erwachte, erlöschte in ihm jene heilige Unruhe, die immer und überall eine unerfüllte Aufgabe vor sich weiß, eine Aufgabe, die über alles andere wichtig ist. Dass diese Aufgabe dabei restlos nie zu bewältigen ist, will dieser Feuerkopf sein Leben lang nicht wahr haben deshalb, weil ja dem Einzelmenschen gegenüber kein Hindernis besteht, ihn glücklich zu machen durch liebende Teilnahme. Tolstois Feuergeist wollte aber nicht wahr haben, dass wir Sterbliche gebunden sind in den Raum und an die Zeit, und somit im gleichen Augenblicke niemals mehr als einem Unglücklichen die Hände zu reichen vermögen. Nie, solange er atmete, verließ Tolstoi die Qual um dieser einen Aufgabe Erfüllung. Niemals wusste er so recht, wo er zu beginnen, noch wo er aufzuhören habe mit ihr. Und er hat dieser Qual Ausdruck verheben in Worten, die bleiben werden, damals schon, als er die Kinder seiner ehemaligen Hörigen zu unterrichten begann. Und segnen müssten wir Tolstois Gedächtnis, wenn er auch nichts weiter verkündet hätte als jenes Grausen, das einen jeden von uns befallen muss, wenn wir mit Kindern des schwer arbeitenden Volkes in Berührung kommen, und es uns da plötzlich aufgeht, welche wundervollen, nie wiederkehrenden Möglichkeiten hier vorliegen, greifbar, fast mit den Händen zu fassen. Und doch wissen wir, dass sie ungenutzt bleiben werden, die Möglichkeiten zu Lebensglück und Liebesgeben. Wir wissen, dass die banale Sorge um des Lebens nackte Notwendigkeiten misshandeln wird der Kinder noch himmelsoffene Seelen, und dass sie endlich verstummend, sich vor sich selber verbergen werden. In frühester Kindheit Tagen kam Tolstoi die Erkenntnis dessen, dass der Mensch eigentlich das ist, woraus alles Höchste sich gestalten ließe, und der dabei fast immer überlassen wird der Missgestaltung durch des Lebens Nöte und Sorge, weil niemandem genug daran gelegen ist, dass dem nicht so sei. (Außer den Müttern, die aber sind meist ruhelos über niedere Arbeit gebeugt froh, wenn sie ihre Kinder vor Hunger bewahren können. Für ihrer Kinder Seelen haben sie meist nichts als ihr Beispiel und ihr Gebet.)

Die weiche, warme Atmosphäre der immer wachen Liebe und nie schlafenden Aufmerksamkeit, mit der alles, was auf dem Gutshofe lebte, das Kind Tolstoi umgab, hat indessen doch nicht zu hindern vermocht, dass schon dem kleinen Knaben einige Ahnungen aufgingen von dem eigentlichen Schicksal seiner geliebten Leibeigenen, und damit von der letzten unseligen Grundlage seines Kinderglückes. Der kaum siebenjährige Tolstoi begegnete einst einem von ihm besonders geliebten Kutscher, wie der mit niedergeschlagener Miene in Begleitung zweier Aufseher dahinschritt. Nach der Ursache seiner Betrübnis befragt, erzählte der Kutscher, er gehe eben der Prügelstrafe entgegen. Das ist dem kleinen Knaben natürlich sehr nahe gegangen, und sein Schmerz war völlig ohne Tröstung, als seine Tante, der er den Fall erzählte, ihn frug, weshalb er denn nicht diese brutale Bestrafung verhindert habe. (Freilich eine seltsame Frage einem siebenjährigen Knaben gegenüber.) Und nun begriff der Knabe, dass er ein Unrecht hätte verhüten können und das nicht tat. (Freilich, wie hätte er auch auf diesen Gedanken kommen sollen?) Von diesem Vorfall her datiert Tolstoi selber jene, seine eigentümliche Angst davor, mögliche Guttaten könnten ungeschehen bleiben, eine Angst, die ihn niemals völlig verlassen habe. Nicht lange nach diesem Begebnis wurde der Büfettdiener, den alle Kinder besonders liebten, und der sie auf dem Teebrett herumzutragen pflegte, auf den Wunsch von Tolstois Vater einem anderen Gutsbesitzer überlassen (auf deutsch verkauft oder verschenkt). Der Knabe Tolstoi sah in diesem Ereignis — wohl weil sein geliebter Vater der Urheber war — vor allem Menschenschicksal: ,,Als Wassily — so hieß der Büfettdiener — mit seinem lieben schiefen Lächeln uns zum Abschied die Schultern küsste, da erlebte ich zum ersten Male Schrecken und Entsetzen vor der Unbeständigkeit des Schicksals, zugleich mit meinem Mitleid und meiner Liebe für den armen Wassily!“


Aber noch ein drittes Mal trat das Leibeigenenschicksal vor die empfängliche Seele des Knaben, und diesmal weckte es Zweifel in ihm, die nie wieder völlig verstummen sollten: ein Gutsnachbar, ein gutmütiger Mensch, den die Kinder alle liebten, erzählte einmal so obenhin, er habe seinen Kutscher unter die Soldaten gesteckt, weil der es sich habe einfallen lassen, in der Fastenzeit Fleisch zu essen! Hier stand der Knabe Tolstoi bereits dem Rätsel gegenüber, das zum geistigen Verhängnis seines ganzen späteren Lebens ward, und an dem sein mächtiger Verstand schließlich seine Grenzen finden sollte: Tolstoi erlebte, dass Menschen, die er liebte und achtete, anderen Menschen ganz offenbares und schweres Unrecht tun konnten, ohne überhaupt zu begreifen, dass sie das taten. Hier war wohl der erste Anstoß für den außergewöhnlich selbständigen Geist Tolstois (dessen natürlicher Scharfblick für des Lebens Zusammenhänge durch ein untrügliches moralisches Urteil bis zum Hellsehertum gesteigert werden konnte) dazu, dass er noch sehr jung, mit kaum zwanzig Jahren, — er selber erzählt das im „Morgen eines Gutsbesitzers“ — das ganze namenlos Ungerechte und tief Unsittliche in der Einrichtung der Leibeigenschaft begreifen sollte, das heißt in der Grundlage, auf der sich die Lebensführung aufbaute, in die er selber hineingeboren und hineinerzogen worden war, und die alle die führten, die er liebte und achtete, und deren Liebe er nicht zu entbehren vermochte. Die drohende Gewissens frage für den jungen Tolstoi war denn sehr bald schon die: ,,Sind wirklich alle diejenigen, die ich liebe und achte, brutale Sklavenhalter, oder irre ich mich? Muss ich alle verachten, die ich liebe, oder nur mich selber?“ Und die Lösung dieser Frage war viel zu schwer für ein so junges Menschenkind, zumal das Leben noch vor ihm lag, und es den Künstler in ihm lockte mit unausdenkbaren Möglichkeiten zu dichterisch deutendem Nachgestalten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi