Die unmittelbaren Folgen des Naturverlassens

Wir verstehen jetzt den tiefen Sinn des Sündenfalls. Das Überschreiten und Verlassen des Naturparadieses ist in Wahrheit ein intellektueller Vorgang, ein Erkenntnisakt. Es ist ein Übergreifen in das Wissen Gottes, die Sünde des menschlichen Bewusstseins am absoluten göttlichen Unbewussten, in dessen heiliger und stiller Verborgenheit bisher alle Zwecke aufgehoben waren. Was Gott solange seinen Geschöpfen vorenthalten hatte, wurde ihm selbst entrissen — dieser Vorwurf, der die Entstehung der Menschheit bewacht, kehrt in fast allen Mythen wieder, möge er den Adam des Paradieses oder den Prometheus betreffen, der das Feuer stiehlt.

Das Wesentliche dieses Ungeheuern Geschehnisses wird gleich ahndungsvoll erkannt als ein Eindringen des menschlichen Bewusstseins in das wesenhaft Unbewusste, als ein Erkenntnisreflex des Menschen von einem göttlich gehüteten Geheimnis. Von hier aus hebt der mühselige und steile Weg des Menschen an mit seinem geringen Fortschreiten und seinen großen Verzögerungen, mit dem müden Schweiß eines von Erscheinung zu Erscheinung Gehetzten beträufelt. Dieser erste ins Bewusstsein erhobene Daseinszweck genügt, um den Menschen und die Natur vollkommen zu verwandeln, um von der letzteren das Bild einer ganz veränderten Welt zu erzeugen. Wir werden die unmittelbaren Folgen dieses wichtigsten Ereignisses zu entwickeln haben, um seine ganze Bedeutung zu ermessen, und zwar zunächst in Bezug auf den Menschen selbst, um dann das verwandelte Verhältnis zur Natur zu kennzeichnen.


Solange der Mensch im reinen Naturzustand verharrte, nahm er die Verfügungen der Naturkausalität als eine blinde Notwendigkeit hin, die ihm gemäß sei. Sobald der Mensch sich selbst zum Zweck erklärt, schwindet auch die dumpfe Hingabe und Unterordnung unter die Naturkausalität als der ihm gemessen. Diese Selbstzwecksetzung macht zunächst eine negative Haltung gegen die starre natürliche Gesetzmäßigkeit geltend, d. h. einen auf die Befreiung von deren Wirkungen gerichteten Willen. Die menschliche Selbstzwecksetzung rührt zum ersten Mal die Empfindung auf, dass es dem auf sich gestellten Menschen nicht mehr gemäß sei, in, der Naturbedingtheit zu verharren. Die unmittelbare Folge des Aktes der Menschwerdung ist mithin der Wille zur Freiheit, der unter den mannigfaltigsten Formen von nun an als das eigentliche Kriterium des Menschen zu gelten hat. Die Naturbestimmtheit wird als eine nicht-sein-sollende verneint und damit die Freiheit von den Naturschranken als das nächste Ziel aufgestellt. Alle Zwecksetzung des Individuums schließt die Abneigung ein gegen jede Art von anderer Abhängigkeit als die vom eigenen Willen. Jetzt wird die Natur als Schranke und Hemmnis empfunden, die den Menschen immer wieder zum dienenden Werkzeug ihrer starren Gesetzmäßigkeit zu entwürdigen droht und über die von ihm erklärten

Zwecke schonungslos weiterschreitet. Die Abhängigkeit von der Natur wird als Widerspruch mit dem eigenen Wesen empfunden, der verneint werden muss um jeden Preis.

So lehrt der Bruch mit der Natur den Menschen die Notwendigkeit empfinden, sich selbst als ein freies, von der Naturbedingtheit losgerungenes Wesen zu verwirklichen. Es ist nicht mehr unbestimmt und abstrakt der Mensch schlechthin, der sich zum Zweckseiner Betätigungsweisen ersieht, sondern dieser Zweck ist genauer seine Freiheit von der frühesten Form alles Zwangs: von der Naturkausalität.

Aber die Freiheit allein erschöpft noch nicht den Inhalt der Motive, welche die Energie des Menschen in diesem Zustand zur Selbstäußerung bestimmen.

Ein bloß negatives Ziel kann diesem Menschen nicht genügen. Jenes Ich, zum Zweck des menschlichen Daseins erhoben, macht andere Ansprüche geltend als die auf die Negativität der Freiheit. Vor den Augen des sich selbst wissenden Menschen breitet das Leben zum ersten Mal seine schimmernden Teppiche aus und seine Phantasie ist erfüllt von der Vorahndung kommender Möglichkeiten. Schon weiß er sich ideell den furchtbaren Naturgewalten entrückt, die ihn vorhin noch geängstigt haben: — wie sollte ihm da der Vollgenuss des Lebens selbst nicht als die Rechtfertigung des Daseins erscheinen! Der Mensch findet sich vor mit dem von ihm erhobenen Anspruch auf die eigene Zweckmäßigkeit, er hat sein Schicksal von dem aller übrigen Naturwesen getrennt und sich der Natur gegenübergestellt — wie sollte ihm da nicht auch der Anspruch auf eine höhere Glückseligkeit erwachen, als sie ihm im Schoss der Natürlichkeit zu teil geworden war, wie sollte er seinem Geschick nicht die Erfüllung aller seiner Begehrungen zumuten?

In der Tat, nicht die Natur hat dem Menschen seinen Willen zur Glückseligkeit gegeben, wie so oft gesagt worden ist, sondern der Mensch hat sich selbst damit beschenkt. Die natürlichen Wesen sind zu ausschließlich durch die Natur bestimmt, als dass ihnen die Möglichkeit einer übernatürlichen Glückseligkeit bewusst werden sollte. Aller Glaube an das Glück ist schon ein Zeichen der verlassenen Natur und der Wille zu ihm ist nur beim Menschen zu finden. Aber hier wird er auch bald zum machtvollsten Motiv von allen, deren er sich bewusst werden kann. Der Begriff des menschlichen Lebens vermischt sich allgemach mit dem eines hervorzubringenden Glückes und wird zum Zweck seiner selbst erhoben, ohne dass der Mensch sich des hierdurch begangenen Widerspruchs bewusst würde. „Ohne Empfinden von Lust ist kein Schaffen; nur wer Lust empfunden hat, schafft“, sagt frühe dasjenige Volk, welches sich später dem tiefsten Pessimismus zuwandte (Sâmaveda, 22. Khanda. Übersezt von Deussen). Und: „das Brahman ist Wonne. Denn aus Wonne entstehen ja diese Wesen, durch die Wonne, nachdem sie entstanden, leben sie und in die Wonne gehen sie, dahinscheidend, wieder ein“ (Yajurveda). Fürwahr, es kann nichts besser die Stärke , dieses Willens zum Glück beim Menschen kennzeichnen, als das Eine, dass er sogar seine Götter zu ewiger Seligkeit erwählte *).

*) Dieser Wille zum Glück bedient sich der verschiedensten Vorwände beim frühen Menschen, wo er unmittelbar gar nicht Das zu erkennen gibt, um was es ihm in Wahrheit allein zu tun ist. So ist der Gott oder der Götze des primitiven Menschen nur ein Diener seiner Glücklichkeit, der Vollstrecker menschlichen Eigenwillens, weshalb Ludwig Feuerbach die Götter sehr glücklich als Wunschwesen bezeichnet hat. Diese Auffassung des göttlichen Daseins und seiner menschlichen Zwecke ist heute durchaus noch nicht überwunden, wie der Gebrauch des Betens im Christentum hinlänglich beweist. Gegen diese dem menschlichen Glückstriebe dienende religiöse Gepflogenheit wandte sich schon nachdrücklich die Mystik, wie viele Verse des Angelus Silesius bezeugen. Demselben für Religion und Frömmigkeit ausgegebenen Egoismus ist auch die christliche Sittlichkeit verwandt, woraus vielleicht zu erklären ist, warum sie so unausrottbar tief im Menschen haftet: sie wendet sich unbewusst an alte Instinkte, welche das Bewusstsein des Menschen empört verwerfen würde, könnte er seiner Seele bis dahin folgen, wo solche Dinge des Glaubens entschieden werden: „Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnet werden!“ (Matth. 5, 12.)

Das Leben als Verwirklichung der auf sich bezogenen Ichheit wird vom Menschen als das stetige Ausströmen der innewohnenden Energie, d. h. des Willens selbst gedeutet. Indem das Leben zum ersten Mal mit der vollen Bewusstheit seiner selbst ergriffen wird, muss es zum Selbstgenuss des in sich reflektierten, d. h. bewussten Willens werden.

Alle Bewusstwerdung ist zwar ihrer formalen Natur nach, wie Hartmann nachgewiesen hat, eine Hemmung, das Produkt einer Einschränkung durch eine fremde Willensintensität und insofern unlustbringend, aber diese formale Unlusterscheinung, die obendrein unter der Schwelle des wachen Bewusstseins verharrt, wird weit überboten durch die eudämonologisch verstandene inhaltliche Bestimmtheit des eben entstandenen menschlichen Bewusstseins: durch die der eigenen Ichheit, die gerade jetzt als das letzte Gesetz angesehen wird, dem der Mensch von nun an zu dienen habe. Dieses Ich als die zentrale Einheit, auf die alle erfahrenen Momente bezogen werden, gewinnt die Bedeutung eines rastlos quellenden Willens, dem selbst gemäß zu sein die notwendigste Aufgabe des Lebens sein muss. Leben, überschäumender, sich ewig selbst gemäßer Entäußerungswille und die naive, sinnliche Glückseligkeit des bewussten Selbstgenusses werden zu einer ununterschiedlichen Einerleiheit, die zu unterhalten das Schicksal den Menschen berufen hätte. Leben und glücklich sein werden Synonyma, und in ihnen sucht das Ich seinen letzten, rechtfertigenden Zweck. Wenn wir daher begreifen wollen, wie diesem eben erwachten Menschen das Leben in einem solch überschwänglichen Glücke gedeihen konnte, so brauchen wir uns nur des Gegensatzes zu entsinnen, der durch die bewusste Selbstzwecksetzung erzeugt wird: der Mensch, vorher noch ein bewusstloses Glied der natürlichen Kausalität, gelangt zu dem Sich-Selbst-Genießen seiner sich objektivierenden Lebensenergie. Solange der Mensch in dem Glauben befangen ist, als sei das Leben die Verwirklichung seines Ichs, d. h. die

bedingungslose Durchsetzung seines individuellen Lebensinstinktes, solange muss er auch Leben und Eudämonie einander gleichsetzen. Dieser Mensch hat noch nicht den tiefsten aller Schmerzen gekostet: die Erkenntnis der Illusion und sein Bewusstsein ist noch durchaus frohsinnlich. Wir sehen deswegen auch überall, wo die Bestimmung des Menschen als die ungehemmte Verwirklichung seines Ichs aufgefasst wird, den Glauben an die metaphysische Lust des Daseins erwachen und die Lust zur Rechtfertigung des Lebens dienen: zuletzt und am nachdrücklichsten bei Friedrich Nietzsche:

            — — „doch alle Lust will Ewigkeit —
            — will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ *)

So führt die bewusste Zwecksetzung den Menschen zunächst zu der Idee der Naturbefreiung, dann aber zu der Vorstellung der menschlichen Glückseligkeit, die von nun an das mächtigste Motiv, der eigentliche Zweck aller Betätigung werden soll. Wir sehen, wie tief dieser Hunger nach Glück im Menschen gegründet ist: er reicht genau so weit wie die Vorstellung seiner Ichheit, d. h. bis in die scheinbaren Wurzeln seines Wesens: „das Brahman ist Wonne“.

*) In der Geschichte kann man ebenfalls deutlich verfolgen, wie eine gesteigerte Ichsucht eine übertriebene und unnatürliche Wollust zur Folge hat. Die rätselhafte Widernatürlichkeit der geschlechtlichen Genusssucht des XVIII. Jahrhunderts, des Zeitalters des Marquis de Sade, ist nur die durchaus notwendige Folge eines mangelnden Lebenszweckes, der über das Ich erhaben wäre. Wir werden auf den letzten Grund für die Verworfenheit der Aufklärung noch zu sprechen kommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur