Die veränderten Beziehungen zur Natur

Aber nicht nur das Wesen des Menschen ist verwandelt, sondern auch sein Verhältnis zur Natur. Wenn vorher schon deshalb kein Gegensatz zwischen Menschlichem und Natürlichem vorhanden sein konnte, weil der Mensch ausschließlich naturbestimmtes Wesen war, so muss auch diese glückliche Beziehung eine vollständige Änderung erfahren. Mit der ersten bewussten Vorstellung eines Zweckes ist der Mensch genötigt, nach dem Mittel zur Verwirklichung desselben zu suchen. Dieses Mittel ist für ihn die Natur mit Einschluss aller anderen menschlichen Individuen außer dem seinigen. Das Korrelat des Menschen als Selbstzweck ist die Natur als Mittel. Dabei unterscheidet sich der zweckbewusste Mensch wiederum in mehrfacher Beziehung vom instinktgeleiteten Tiere. Wenn auch dieses die Natur als Mittel auszunutzen scheint, so geschieht es doch mit einem unendlich geringen Bruchteil derselben: desjenigen Teiles, der direkt oder indirekt zur Erhaltung des eigenen Daseins notwendig ist. Während das Tier zwar von der Natur und durch die Natur lebt, aber auch nur für die Natur, d. h. für die Idee seiner Gattung, leugnet der Mensch diesen letzten Zweck und setzt an dessen Stelle einen auf ihn selbst bezogenen alles umfassenden Utilitarismus. Zwar soll alles nur Mittel für den Menschen sein, aber dieser weigert sich, das Mittel für etwas außer ihm Seiendes darzustellen.

So verliert die ganze Natur ihre Selbständigkeit und wird der Möglichkeit nach zu einem einzigen menschlichen Wert. Der Boden, der Wald, das Tier, das Wasser, das Feuer, die Naturkräfte werden in fortschreitender Weise nutzbar gemacht. Aber diese Verwerfung der Natur kann nur wieder durch die Natur geschehen. Wenn diese in jedem Augenblick die in ihr vorhandenen Energiesummen verwandelt und ausgleicht, so bemächtigt sich der Mensch der Wirkungsweisen dieser Energien nur dadurch, dass er Energie in anderer Form gegen sie anwendet.


Auf einem Konflikt und Widerstreit ausgleichsuchender Energien beruht der anorganische Naturprozess — aber auf dasselbe Prinzip ist auch die Stellung des Menschen zur Natur in diesem Zustand gegründet. Jede Gewalt und jede Energie, welche dieser der Natur entreißt, kann nur mit Aufwand einer gleich starken Kraftanwendung besiegt werden: der Mensch muss arbeiten, um sich die Natur mittelbar zu machen, und zwar arbeiten in dem streng mechanischen Sinne, welche die Physik diesem Worte unterlegt. Soll die Natur für den Menschen Mittel sein, will er über sie zweckmäßig verfügen, so muss er ihre Kräfte umformen, was aber nur wieder durch Anwendung eigener Kraft möglich ist, deren letzter Anstoß ursprünglich vom Menschen selbst ausgehen muss. Von der primitivsten aller menschlichen Arbeitsleistungen: der Erzeugung des Feuers durch Verwandlung potentieller Energie in Wärme bis zu den Wunderwerken moderner Arbeitsübertragung durch die Elektrizität — das Wesen des Verhältnisses zur Natur ist das gleiche geblieben: es ist das der mechanischen Arbeit. Diese mechanische Arbeit ist das wichtigste Prinzip für den sich als Naturzweck ansehenden Menschen und bald entsteht mit ihrer Hilfe die menschliche Wirtschaft, der Landbau und die Industrie. Hier ist der Schwerpunkt aller Naturbefreiung.

Aber die menschlich-mechanische Arbeit zeigt ein Janusantlitz. Als unerlässliches Mittel zur Naturbefreiung zeigt sie denselben tödlichen Ernst wie die Natur selbst. Sie beruht auf einem realen Widerstreit gegen die Natur, der stetig ist. Wer je durch Industriegegenden gereist ist, wird sich eines lähmenden Grauens nicht haben erwehren können, auch wer das Leben des Bauern wirklich begriffen hat. Aber während dessen Dasein noch ein wenig verklärt wird durch die Unterbrechung des mechanischen Einerlei seiner Arbeit, fließt das Dasein des Industriearbeiters in entsetzenerregender Eintönigkeit dahin, nur dem Mechanismus verfallen. Die menschliche Entartung des modernen Arbeiters und das verborgene Grauen der Gesellschaft vor ihm sind unwillkürlich Beweise genug, dass die rein mechanische Arbeit mit einem geheimen Unsegen verfolgt sein muss, dass sie in ihrer Ausschließlichkeit dem Menschen etwas nicht Gemäßes sei — was im Altertum sehr glücklich dadurch zum Ausdruck kam, dass der Vollbringer der mechanischen Arbeit Sklave war und diese der Freien für unwürdig erachtet wurde: eine Tatsache, die noch heute besteht — denn welcher Freie würde sich mit Willkür in eine Fabrik begeben?

Das instinktive Entsetzen des Menschen vor rein mechanischer Arbeit wird nun in der Tat gerechtfertigt durch die Einsicht, dass sie im Grunde wider die Natur ist. Und zwar hat diese Widernatürlichkeit einen doppelten Sinn. Indem sich der Mensch dem mechanischen Kampfe gegen die objektiv reale Natur hingibt, sinkt er gewissermaßen unter die Stufe des organischen Lebens wieder herab. Zwar ist die mechanische Befreiungsarbeit durch die Motive des Geistes bedingt, aber das Fortschreiten der Naturbefreiung besteht ja gerade in der zunehmenden Trennung der geistigen Zwecke vom mechanischen Mittel, wodurch ein immer größerer Teil der Gesamtheit rein mechanisch ihm gar nicht bewusste Zwecke zu erreichen suchen muss. Solange Mittel und Zweck, die Erfindung des Geistes und die mechanische Ausführung von dem gleichen Menschen gehandhabt wurden, d. h. in frühester Zeit, konnte diese Art des Befreiungsprozesses die Höhe des Menschen nicht erniedrigen, sondern nur sein ganzes Wesen steigern. Sobald aber die Arbeitsteilung die menschliche Gesamtheit in geistige und mechanische Arbeiter schied, bedeutete die Verrichtung der letzteren Art eine gewaltsame Zurückwendung des Menschen unter die Naturstufe der organisierten Materie: eine Verkümmerung des Lebens im wörtlichen Sinne. Der mechanische Arbeiter muss gerade das unterdrücken, was ihn über die mechanische, unorganische Natur erheben sollte — und zwar deshalb, weil, er die Natur überwinden will. Das ist der Grundwiderspruch des neuen Zustandes, der uns überall offenbar wird. Der Kampf wider die Natur muss sein, das erheischt der menschliche Zweck der Naturbefreiung, aber unversehens wird er auch zum Kampfe gegen den Menschen selbst. Das alles ist fast wie eine Vergeltung der Natur. Der Mensch, der sie sich mittelbar machen wollte, muss sich folgerichtig ihrer mechanischen Gesetze bedienen, was im Verlauf der Historie vielfach zu seiner eigenen Mechanisierung geführt hat.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur