Das Verlassen der Natürlichkeit

Der erste Schritt des Menschen über die Natur hinaus ist auch ein solcher gegen sie. Der natürliche Mensch sieht sich in das Ausnahmslose Netz einer universellen Kausalität verstrickt, und der Gedanke kann nicht in ihm aufkommen, dass er etwas anderes sei als ein abhängiges Glied, eine Masche, ein Knoten in diesem Netze, — dass er infolgedessen auch nichts anderes zu beanspruchen habe als alle übrigen Naturwesen: d. h. günstigsten Falles die Fristung des Lebens. Es ist sehr schwierig, ein Motiv ausfindig zu machen, welches den Menschen bewogen haben könnte, seinen Naturzustand zu verlassen. Die Spuren der Historie verlieren sich hier zögernd in der rätselhaften Dämmerung des Unbewussten. Man sagt uns wohl, dass der Bruch mit dem Naturzustand eine Folge des Daseinskampfes wäre.

Aber so wenig wir aus diesem Hinweis das Dasein von Dispositionen erklärt finden, welche den Menschen zu der außernatürlichen, exzentrischen Stellung befähigen, die er tatsächlich im Schöpfungsbereiche einnimmt, so wenig ist einzusehen, warum der Daseinskampf bei dem vormenschlichen Geschöpfe etwas hätte begünstigen sollen, was seine Lebensfähigkeit und Anpassungsmöglichkeit offenbar immer mehr verringern muss: nämlich das immer sich steigernde Bewusstsein dieser Gattung. Das Leben der Vormenschen war sicher ein solches im Instinkt. Nun ist zwar sehr gut einzusehen, dass rein mechanisch durch Daseinskampf gewisse Instinkte eine Abschwächung, andere eine Steigerung erfahren sollen. Aber es ist nicht zu erklären, wie der Daseinskampf den Instinkt überhaupt immer mehr vernichten sollte, um dadurch, gerade dasjenige zu vollbringen, was den Menschen über die Natur erhebt. Die menschliche Gattung sieht sich immer weiter vom Instinkt verdrängt, darin ist die einzig haltbare Unterscheidung von den tierischen Mitgeschöpfen. Ursprünglich ganz dem Instinkt verfallen, ist es jetzt nur noch die Geschlechtsliebe, wo er mit der früheren schrankenlosen Intensität herrscht wie beim Tier. Jener Instinkt war aber für die Natur das sicherste Mittel, ihre Wesen widerstandslos ihren Gesetzen zu unterwerfen, sie sich anzupassen. Wie sollte nun bei irgend einer Gattung der Natur der Kampf ums Dasein den Instinkt brechen, d. h. sich seines wirksamsten Mittels selber berauben, um möglichst widerstandsfähige Geschöpfe zu erzeugen? Geschwächter Instinkt ist sonst überall in der Natur gleichwertig mit geschwächter Widerstandskraft, das Zeichen einer gewissen Entartung, Verkümmerung: der decadence, wie ein Philosoph unserer Tage gesagt hat. Aber wie ist zu denken, dass der Kampf ums Dasein die Erfolge seiner Wirksamkeit selbst vernichte und die Instinkte überhaupt schädige und schwäche?


In der Tat, der goldene Schlüssel des Weltgeheimnisses schließt die ehernen Tore nicht auf, hinter welchen die Mysterien des sich von der Natur befreienden Erstlingsgeschöpfes, des Menschen gespielt haben. Aber auch die Kulturgeschichte lehnt es jetzt ab, den Menschen in seinem Bruch mit der Natur zu charakterisieren durch eine einzelne schöpferische Eingabe oder Erfindung, wie etwa diejenige des Feuers, des ersten Handwerkszeuges, der Sprache. *) Denn günstigenfalls sind dies die ersten Betätigungsweisen des schon daseienden Typus Mensch, ohne dass sie erklären, wie dieser Mensch als unterschiedliches Wesen von tieferer Stufe erstanden sei. Indessen steht der Mensch am Eingang der Geschichte mit unzweideutiger Bestimmtheit, sich von allen andern Gattungen scharf und sichtlich abhebend. Suchen wir diese unterscheidenden Merkmale näher zu bestimmen, so fällt auch viel leicht einiges Licht auf die dunklen Vorgänge seiner ersten Schritte über die Natur hinaus — wenigstens sofern wir diesen Vorgang, unserer erwähnten Aufgabe gemäß, rein innerlich verfolgen, als veränderte Phasen eines natürlichen Wesens.

*) Vergleiche die lehrreiche und angenehm geschriebene „Urgeschichte der Kultur“ von Dr. Heinrich Schurtz. (Leipzig und Wien, 1900.) S. 26 f.

Mögen alle die Vorgänge, die ihn von der Natur losreißen mussten, alle jene Motivationen im Unbewussten verlaufen sein, so bietet sich uns der auf sich gestellte Mensch schon dar mit der Eindeutigkeit eines bewussten und bestimmenden Prinzips, welches ihn von den übrigen Naturindividuen genau absondert. Dieses kann nur ein charakteristischer Wille gewesen zu sein, den wir im Menschen jetzt noch stärker und intensiver als sonst wo ausgesprochen finden, ein Wille, der sich als Selbstzweck beim Menschen ins Bewusstsein erhoben hat, wo er bei den andern Objektivationen in den Grenzen eines Instinktes unter vielen verharren musste. Dieser Wille muss die Stärke des Instinkts gehabt haben, er muss Instinkt gewesen sein, aber ein solcher, der die Möglichkeit einer Auflehnung gegen die Gesetze der Natürlichkeit enthielt, er muss ein Individualinstinkt, d. h. ein auf die Erhaltung und Existenz des Individuums gerichteter im Gegensatz zu den Gattungsinstinkten gewesen sein. Wir finden alle Tiere mit Instinkten ausgerüstet, die wir beinahe gute und böse nennen könnten, mit solchen, die sich in ihrer einstigen bewussten Weiterbildung zu wahrhafter Sittlichkeit fort entfalten — mit andern, welche schon hier das verzögernde Dasein des Ur-Bösen darstellen, um später im Menschen zur Sünde zu werden. Wir sehen aber wesentlich im Zustand der Natürlichkeit die Gattungsinstinkte, d. h. die moralischen, über die egoistischen triumphieren. *) Erst wo der Instinkt des Individuums, der auf den Zweck des Einzeldaseins gerichtete Wille über die Gattungsidee Herr wird, ist der Bruch mit der Natur vollzogen, ist etwas Neues, Übernatürliches — vielleicht Unnatürliches gegeben, was die alte, heilig gewordene Ordnung der Dinge zerreißt: es ist das Individuum, welches sich weigert, den Zwecken der Gattung zu dienen und das seinen Eigenwillen gegen dieselben zu erheben wagt.

*) Welche Opferwilligkeit und grenzenlose Hingabe das Tier im Dienste seines unsichtbaren Gottes, der Gattungsidee, entfaltet, wie gehorsam es die Gesetze seiner Art erfüllt, das bitte ich nachzulesen in dem herrlichen Buche Maeterlincks „das Leben der Bienen“. Es ist sehr zu bedauern, dass erst der naturforschende Dichter diesen Geheimnissen das notwendige Verständnis und die notwendige Liebe entgegenbringt, welche der heutige Naturforscher seinem Mechanismus gegenüber in törichter Blindheit verweigert — ich erinnere außer an Maeterlinck an die botanischen Arbeiten des Dichters A. Strindberg.

Aber wenn wir fragen, was plötzlich dem Instinkt des Individuums dieses ungeheure Übergewicht über denjenigen seiner Gattung verleiht, so ist nur die eine Antwort möglich: es ist die Bewusstwerdung desselben. Der erste Zweck, der im Menschen zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, der hiermit aufhört Inhalt des natürlichen Instinkts zu sein, dessen Wesen ja gerade die Unbewusstheit des befolgten Zweckes ist, er kann nur der auf die eigene Individualität bezogene sein. Alle Motive müssen ursprünglich anschaulich gewesen sein, um auf den natürlichen Charakter der Menschheit zu wirken. Aber die erste Anschauung, d. h. die erste konkrete Tatsache, welche sich der Mensch ins Bewusstsein bringen konnte, war er selbst, nicht die Idee der Gattung, vergangene und zukünftige Generationen einschließend, von welcher sein Bewusstsein erst sehr viel später überzeugt zu werden vermag. Der Mensch verlässt somit zum ersten Mal die Natur, indem er die unbewussten Zwecke seiner Instinkte zu Motiven des Bewusstseins werden lässt — aber von all diesen Instinkten ist nur einem die Möglichkeit gegeben, in das durchaus noch sinnliche Bewusstsein zu gelangen: dem Instinkt der Selbsterhaltung. Der erste bewusste Zweck, den wir gefunden haben, ist demnach der auf uns selbst bezogene, der Bruch mit der Natur ist die Selbstzwecksetzung des Individuums, die Revolution der individuellen Besonderheit gegen die Idee der Gattung. *) „Der Mensch hat das Vermögen, sich den Naturgesetzen nicht zu fügen. Ob es Recht oder Unrecht ist, von diesem Vermögen Gebrauch zu machen, das ist der wichtigste, aber auch der unaufgeklärteste Punkt unserer Moral“, sagt Maurice Maeterlinck.

*) Dass der tierische Instinkt in gewissem Sinne viel moralischer ist als der primitive bewusste Zustand des Menschen, ist schon einem Kritiker bei Darwin aufgefallen: vergl. „die Abstammung des Menschen etc.“ S. 69. (Ausgabe Reclam.)
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur