Die Dialektik und ihr Ziel

Wir finden diese Dialektik durch die ganze Geschichte des Menschen ziehend. Die bewusstlose Natur überliefert den Menschen im Verlaufe ihres Entwickelungsprozesses einem Zustand, wo sie ihn mit vollkommener Hilflosigkeit der Notwendigkeit gegenüberstellt, die unbewusste Zweckmäßigkeit ihrer eigenen Gesetze zu verlassen und durch die bewussten Gesetze seiner reflektierenden Kraft zu ersetzen.

Die Arbeit, zu welcher die Natur ihre Geschöpfe fortgesetzt nötigt, die sie ihnen widerstandslos auferlegt, wird noch im Zusammenhang mit ihr nach bewusstlosen Zwecken vollbracht. Die untermenschlichen Geschöpfe lösen die Aufgaben ihrer Natur, ohne die regelnden Zwecke ihrer Arbeit zu kennen. Aber die Natur treibt in immer höheren Organisationsstufen ihre Wesen aus dieser unbewussten Fürsorge heraus, indem sie in einem gewissen Augenblick den sicheren Instinkt bewusstloser Zwecke lähmt und so die bewusste Vernunft veranlasst, nach Zwecken zu suchen, welchen ihre Arbeit dienen könnte. Diese bewussten Zweckgedanken, vom Menschen in äußerster Not erfunden, um sein arbeitendes Dasein zu fristen, werden von ihm bald als die Symbole seiner ihm eigentümlichen Freiheit, als Zeichen seiner Menschlichkeit und Außernatürlichkeit verstanden.


Aber gleichzeitig findet der Mensch, dass fast alle Zwecke, die er aufstellt, wider einander und wider die Natur zum Streite verurteilt seien. Der Zweck der menschlichen Arbeit, ohne welche doch kein Leben gefristet werden kann, ist notwendig den Irrtümern des Bewusstseins überliefert, jenen Irrtümern, deren langsame Richtigstellung eigentlich die menschliche Entwickelung ausmacht. Ob einmal ein als allgemein gültige Norm aufgestellter Zweck falsch sei, kann indessen nicht früher entschieden werden, als bis er den Menschen in eine Notlage geführt hat, wo er mit diesem bisherigen Zweckbegriff nicht mehr zu stände kommt, wo er entweder auf sein menschenwürdiges Dasein verzichten, oder einen neuen Zweck ersinnen muss.

Das Symptom für solche verbrauchte und infolgedessen falsche, zweckwidrige Zwecke ist mithin die Anarchie, welche wir als eine Gesamtheit irrtümlich gewordener Daseinsnormen bezeichnen könnten. Anarchie ist der Zustand des Menschen, sobald er aus seiner bewusstlosen Natürlichkeit heraustritt und sich seiner selbst bewusst wird — Anarchie entsteht beständig im Verlaufe seiner Entwickelung, die sich uns jetzt als eine indirekte Auswahl immer brauchbarerer Daseinszwecke zu erkennen gibt. Es hat seit dem Dasein des Menschen noch keinen Zweck gegeben, der von ihm selbst nicht später als ein Irrtum erkannt werden musste, als ein Irrtum, der freilich die Wahrheit zu anderen, weniger irrtümlichen Zwecken möglichkeitlich in sich barg. So sehen wir auch den auf sich selbst gestellten Menschen noch unter derselben geheimnisvollen dialektischen Führung, welche ihm schon als Naturwesen zu teil ward: eine ihm selbst innewohnende Notwendigkeit entreißt ihm immer in demselben Augenblick die Möglichkeit seiner menschlichen Existenz, in welchem er nachlässt, nach gültigen Regeln und Gesetzen für seine Arbeit zu suchen. Der Weg des Menschen läuft von der notwendigen Arbeit zu einer ebenso notwendigen Erkenntnis der Zwecke, für die gearbeitet werden soll. „Wisse, woran du arbeiten kannst, und arbeite daran wie ein Herkules“, fordert Thomas Carlyle, dem Menschen sinnfällig seine Aufgabe, den Sinn seines Daseins enthüllend. Verweigert der Mensch die Arbeit, so tötet ihn entweder die Ungunst der Natur oder die Gewalt solcher Rassen, die gewillt sind zu arbeiten. Vielleicht ist hier ein geheimer Kausalzusammenhang mit der großen Fruchtbarkeit der Kulturvölker, d. h. solcher, die arbeiten und dadurch genötigt sind, ihre nichtstuenden Brüder, die untätig spielenden Wilden, zu vernichten und auszurotten. Vielleicht ist hier auch die Gerechtigkeit für solche Handlungsweisen, die man schon so oft verdammen sah. Aber dieselbe Dialektik, welche den müßigen Menschen verderben lässt, überantwortet auch den Fleißigen unaufhaltsam der Anarchie, wo seine Arbeit von der Erkenntnis ablässt, oder vielmehr durch die Erkenntnis nicht mehr bestimmt und geregelt wird. Was anderes lässt jenes ungeheure Volk im Osten Asiens so unfruchtbar erscheinen trotz seines bewunderungswürdigen Fleißes, als die mangelnde Einsicht in menschliche Zwecke? Denn Arbeit ohne eine Idee ihres Wertes ist umsonst und vergeblich. Alles Dasein fordert zuerst einen Gedanken, eine Idee oder Richtung seiner einstigen Wirklichkeit, die ihm vorausgeht wie das glühende Spiel der aufgehenden Strahlen dem Erscheinen der Sonne. Jede reale Veränderung in unserem Dasein bedarf einer vorausfolgenden Erkenntnis, eine kleine, kaum wahrnehmbare Verwandlung der Wirklichkeit oft ungeheurer Umstürze in unserem bewussten Denken.

Alle Steigerung des Bewusstseins, in welcher der Inhalt des großen Naturplanes besteht, soviel wir heute schon sehen können, ist somit der fortschreitende Prozess der Erkenntnis menschlicher Daseins-Zwecke. Die tiefste Absicht der Natur scheint darin zu gipfeln, den Menschen mit untrüglicher Notwendigkeit zur Bildung von bewussten Zielen zu veranlassen. Alles bewusste Dasein ist gebunden an den bewussten Zweck — von ihm allein hängt es ab, ob der Mensch in der Anarchie verharre, oder sich „zur Menschheit entschließe“.

Der bewusste Zweck ist das einzige wirkliche Regulativ des menschlichen und außernatürlichen Lebens, wie er als unbewusster das große Schicksal, der wahre Lenker der Naturentwickelung gewesen ist: er ist das Ergebnis jener Dialektik, die zu entwickeln wir uns zur Aufgabe gestellt haben.

Die vornehmste Aufgabe des Menschen besteht endlich darin, mit Bewusstsein die volle Verantwortlichkeit des Daseins zu ertragen, welche vor ihm die bewusstlose Natur übernommen hatte, und diese abzulösen von der Sorge ihrer all weisen Vorsicht. Alle Natur drängt zum Bewusstsein, alles Bewusstsein zur Erkenntnis des Zweckes. Es ist somit die Begründung der menschlichen Selbstverantwortung, der bewussten Daseinsgestaltung, zu welcher die immanente Dialektik hintreibt, es ist die Nötigung: ,,das Werk der Not in ein Werk der freien Wahl umzuschaffen und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu ergeben“ — — es ist die Verwirklichung der Kultur. Denn diese soll uns jetzt nichts anderes bedeuten als die durch bewusste Daseinszwecke gemeinsam gestaltete Wirklichkeit, im Gegensatz zu allem bewusstlos absichtlichen Schaffen der Natur. Es scheint, dass die Kultur in diesem Sinne im Plan der gesamten Entwicklung enthalten gewesen sei, weil diese den Menschen selbst, von Widerspruch zu Widerspruch fortreißend, zu einer immer mehr geläuterten, den Absichten des Weltgeistes immer mehr entsprechenden Fassung des Daseinszweckes zwingt. Das Werden der Kultur ist die Geschichte der Motive, welche das menschliche Bewusstsein ersinnt, um seine Arbeit zu rechtfertigen. Unser Dasein wird dann vollkommen gerechtfertigt sein, wenn wir seinen endgültigen Zweck durchschauen, in dem alle anderen enthalten sind. Dann wird aber auch dem Kulturprozess zu seiner Vollendung verholfen sein. Was jener letzte Zweck von uns heischen wird — wer weiß es?

Für heute erübrigt uns nur, diesen ganzen dialektischen Verlauf mit eingehender Genauigkeit zu verfolgen, um die Notwendigkeit und Bedeutung der Kultur in ihrem vollen Werte zu ermessen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur