Die Methode der Untersuchung

Indessen ist es nicht leicht, die Notwendigkeit der Kultur zu begründen. Wenn wir den historischen Weg einschlügen, so fänden wir die Geschichte gespalten in Völker und Menschengruppen, deren Dasein offensichtlich eine Entwickelung durchmachte, d. h. die sich von Anfang an einer immer bestimmteren Entfaltung ihres Charakters hingaben, um nach einer gewissen Höhe zurückzusinken in die scheinbare Untätigkeit und Unproduktivität jener übrigen, die zu allen Zeiten in einem Zustand entwicklungsmäßiger Lethargie verharrten. Zwar darf man nicht die Behauptung wagen, dass diese zweite Art von Völkern in einem absoluten Stillstand verblieben seien, wie neuerdings vielfach von den Chinesen angenommen wurde, oder wie man bei primitiven Menschenstämmen leicht vermuten könnte — aber ihre Entfaltungsgeschichte ist eine so langsame und fast immer nur dem Druck äußerer ungünstiger Umstände zu verdankende, dass ihnen der innewohnende Trieb, der Wille zur Kultur, doch abzusprechen ist. Diese sich jedem Beobachter aufdrängende Zweiteilung in entwickelungsfähige Kulturvölker und in unfruchtbare Arten des relativen Stillstandes ist immer noch eines der tiefsten Rätsel für den Historiker, ja wir sagen vielleicht nicht zu viel, wenn wir es zu einem Grundproblem der Geschichte — oder vielleicht noch eher: der Geschichtsphilosophie — erklären. Denn mit allen äußerlichen Gründen, mit dem Nachweis der klimatischen Einflüsse oder des Daseinskampfes, einer mehr oder minder glücklichen Anpassung ist nichts ausgemacht über die Frage, warum das eine Volk unter ähnlichen Verhältnissen eine unsterbliche Kultur erzeugt, wo das andere vollständig versagt, warum hier die Kultur „notwendig“ ist und dort nicht. Es wird hier nur zu offenbar, dass die Kulturimpulse zuletzt gar nicht von außen her kommen können und man sieht sich hier, wie bei allen Problemen, auf die innere Beschaffenheit des Menschen zurückgeschlagen, auf eine psychische Tatsache, die einmal zur Heraussetzung vorhandener Möglichkeiten drängt und sie ein andermal für immer im Menschen selbst verschlossen hält.

Gerade dieses psychologische Verfahren ist aber der historischen Methode entrückt. Der Historiker hat genug getan, wenn er die kausalen Zusammenhänge der politischen und staatlichen Geschehnisse entdeckt oder als Geschichtsschreiber der Kultur die äußeren mechanischen Vorgänge bei kulturellen Gestaltungskomplexen darstellt, d. h. wenn er die zureichenden Bedingungen auffindet, ohne doch etwas über den zureichenden Grund ausmachen zu wollen, der gewöhnlich nicht mehr zu den erfahrbaren Tatsachen, sondern zu metaphysischen Wahrscheinlichkeiten zählt. Die letzten Gründe, die im Menschen selbst treibende Dialektik, von aller historischen Zufälligkeit entkleidet, von der Wirklichkeit in gewissem Sinne losgelöst — den Kultur trieb zu untersuchen, ist dagegen die Aufgabe der Philosophie, die auch hier nicht mehr historisch, sondern dialektisch verfahren muss. Freilich kann es nicht die methodologische Aufgabe der Philosophie sein, die gespenstigen Nachtschatten der Hegerschen Dialektik aus der Vergangenheit zu locken, um heute ihre Wiederverlebendigung vorzunehmen. Unsere Dialektik soll nur das Werden der Kultur klarlegen aus einer fortschreitenden Nötigung innerer Triebkräfte, die von Gestaltung zu Gestaltung fortdrängt, bis der Reichtum der menschlichen Beziehungen zu Natur und Welt das werden durfte, was man gemeinhin als Kultur bezeichnet. Es ist also unsere Aufgabe, den Kulturprozess in seinen inneren Stadien zu belauschen, in seinem psychologischen Werden, befreit von aller Besonderheit der Historie. Es gilt, die innere Genesis zu verfolgen, die bei jeder Kulturbildung wesentlich die gleiche sein muss; nicht die notwendigen Bedingungen aufzuzählen, welche ihr Dasein ermöglichen, sondern den Willen zu bestimmen, der ihr Dasein verwirklicht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur