Die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Entwicklung für den Menschen

Wir fanden, dass die Entwicklung der Naturwissenschaften durch eine zunehmende Abstraktion Von der Gesamtheit aller logisch immanenten Beziehungen bestimmt ist. Sie kann als einzelne Disziplin das Wesen des Menschen um so weniger in seiner Totalität befriedigen und beschäftigen, als sie selbst in der Blüte begriffen ist, d. h. als eine immer reichere Fülle von entdeckten Beziehungen zur immer weiteren Spaltung der ursprünglichen Einheit drängt. Nur wenn sich der Mensch zur ausnahmslosen Gesamtheit der Natur verhielte, dürfte er hoffen, eine Idee von dem Wesen der Natur zu besitzen, und auch nur dann würde seine eigene menschliche Gesamtheit befriedigt werden können — wenigstens soweit das rein theoretische Verhalten überhaupt befriedigen kann. Nur solange die Naturwissenschaften in jenem weiteren, umfassenden Wortsinn (als Wissenschaft überhaupt im Gegensätze zur Philosophie) begriffen werden, ist das naturwissenschaftliche Verhalten als ein ausschließendes gerechtfertigt, weil nur dann der menschliche Aneignungstrieb dasjenige erreicht hätte, was er begehrte: ein Verhältnis zur gesamten Natur. Daraus würde folgen, dass die Naturwissenschaften gerade solange die menschliche Wissenschaft schlechthin bedeuten, als sie selbst noch wenig in sich unterschieden sind, als sie am Beginn ihrer Entwicklung stehen. Je weiter und ausgebreiteter der Inhalt des naturwissenschaftlichen Bewusstseins ist, desto ungeeigneter wird die Wissenschaft selbst, die Totalität des menschlichen Geistes zu beschäftigen, desto mehr muss der Mensch von sich selbst abstrahieren und desto verkümmertere Vertreter setzt die ausschließliche oder vorwiegende Beschäftigung mit ihr voraus.

Hüten wir uns daher, die Entwicklung der Wissenschaft in diesem Sinne mit der Entwicklung des Menschen zu verwechseln. Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass die Evolution ein zweischneidiges Schwert ist oder ein heller, glänzender Strahl, der leichter blendet als erleuchtet. Aber nirgends wird dieser Doppelsinn deutlicher offenbar als hier, wo er einen der letzten Trugschlüsse aufdeckt, auf deren Glauben die Menschen der Gegenwart eine Kultur zu errichten versucht haben. Die fortschreitende Wissenschaft bedingt nicht nur keine fortschreitende Menschheit, sondern sie steht sogar im Gegensätze zu dieser Entfaltung des menschlichen Geistes selbst. Und langsam bereitet sich auch hier die Frage vor: Kann uns Das Entwicklung bedeuten, was sich differenziert, was von der Einheit zur vielfach zusammengesetzten Mannigfaltigkeit entartet — oder müssen wir für das Fortschreiten unseres Selbstes nicht ein anderes Maß ersinnen? Oder: ist der Entwicklungsgedanke Darwins und der modernen Naturwissenschaft überhaupt auf die menschliche Totalität anwendbar — müssen wir das Fortschreiten der Menschen nicht mit anderen Gesetzen als der natürlichen Zuchtwahl, der Anpassung und dem Kampfe ums Dasein ersiegen und mit einem anderen Sinne ergründen, als man uns überall gelehrt hat? Indessen werden wir diese Frage noch nicht beantworten, sondern in unserer begonnenen Untersuchung weiterfahren.


Sobald erst der Mensch davon absieht, die Wissenschaft als ein mögliches Mittel zur Erkenntnis des den Dingen innewohnenden Wesens zu betrachten, sobald er Genüge findet an einer reich entwickelten Naturwissenschaft, von der ihm praktisch immer nur einzelne Disziplinen zur Verfügung stehen, beweist er hierdurch, dass er selbst abstrakt ist in jenem höheren Sinne Hegels, d. h. dass er nicht mehr von dem Willen bewegt ist, seine gesamte innere Möglichkeit zur fruchtbarsten Auseinanderfaltung gelangen zu lassen, indem er die ganze Klangfülle seiner Seele auf die totale Harmonie des Universums antworten lässt. Ein Zeitalter, welches eine erstaunlich entwickelte Naturwissenschaft zur alleinigen und höchsten Wissenschaft schlechthin ausruft, legt damit Zeugnis ab, dass seine Menschen auf ihre eigene Einheit verzichtet haben. In dem Chaos von Beziehungen, welche unsere Naturwissenschaften entwickelt haben, ist dem Menschen das Bewusstsein seiner eigenen Einheit und derjenigen der Wissenschaft abhanden gekommen — und als untrügliches Zeichen von diesem Zustand begann er die Philosophie zu verachten. In der Tat, es berührt seltsam, dass eine Zeit auf die Konkretheit ihrer Anschauungen pocht und die Philosophie verachtet und schmäht, weil sie abstrakt sei und dem konkreten Reichtum des Daseins nicht entspräche. Denn gerade das Gegenteil ist wahr. Abstrakt ist der Mensch, der die Wissenschaft um ihrer konkreten Anschaulichkeit der Erfahrung willen betreibt, — denn was er sich auf diesem Wege an eignet, ist niemals eine wesenhafte Erkenntnis; was er erhascht, sind nur ewig wechselnde Erscheinungen und erscheinende Beziehungen *).

*) Man kann sich auch diese. Tatsache an einem Beispiel deutlich machen. Denken wir an eines der tiefsten Probleme überhaupt, an dasjenige des organischen Lebens. Der naive Mensch erklärt es sich durch eine wunderbare Erschaffung Gottes, als den göttlichen Einhauch des Lebensodems oder sonstwie auf symbolische Art. Die moderne Wissenschaft hat nun das Leben zurückverfolgt bis in die ersten Anfänge des Eies, sie hat die Progenie, die erste Keimungsperiode, in der Mutter verlaufend, mit dem Mikroskop schon nahezu in allen Stadien beobachtet, ja, sie ging noch weiter zurück auf die lebendige Ureinheit selbst, auf die Protoplasmazelle. Sie hat schließlich im Protoplasma einen materiellen Komplex von unendlicher Kompliziertheit entdeckt — aber das Rätsel der Organisation dieser Materie ist geblieben; man hat Erscheinungsketten analysiert, aber das Wesen des organischen Lebens ist im Grunde uns allen ebenso wenig nahe gebracht wie dem primitiven Menschen — die Naturwissenschaft muss als solche verzweifeln, auf unsere dringende Frage eine Antwort, und sei sie hypothetisch, zu geben. Und die Naturphilosophie muss in etwas veränderter Form die ... des Aristoteles als „Gestaltungsdominante“ wieder zum Ansehen bringen, um dem Problem auch nur näher zu treten!

Die wahre menschliche Konkretheit, die den Mut besitzt, die Gesamtheit der Welt in sich zu neuer Erscheinung zu bringen, hat auch den Mut der Abstraktion zu eigen — denn die ideelle kosmische Einheit wird nur zum Leben, wenn sie als geistige aufgenommen wird, d. h. wenn von ihrer sinnlichen Konkretheit abstrahiert wird. Durch Schopenhauers Forderung, dass die Philosophie konkret anschaulich sein solle, ist ein großer Irrtum entstanden — nicht eigentlich durch des Denkers Verschuldung. Denn bei ihm besagt diese Behauptung sonst nichts, als dass die Kette unserer Begriffe zuletzt an einer anschaulichen Erfahrung endet — was eigentlich selbstverständlich ist. Schopenhauer war sich aber wohl bewusst, dass die Philosophie die Explikation der Idee durch den Begriff ist, hierin im Gegensatz zur Kunst. Will der Mensch die intellektuelle Anschauung des Absoluten in sich nacherlebend reproduzieren, so kann er dies selbst nicht wieder durch ein anschauliches, sondern nur durch ein abstrahierendes Vermögen, eben weil er die allgemeine Totalität der Kategorien erst wieder von den einzelnen Erscheinungen sondern, trennen und ablösen — abstrahieren muss und sich ihrer nicht simultan im konkret Einzelnen bewusst wird. Will der Mensch nicht abstrakt sein, d. h. will er zur Erkenntnis des gesamten Allgemeinen Vordringen, so muss er das Besonderte, das Ding, und die Kategorie, dessen logisches Gesetz, trennen, d. h. ein Ur-Teil vornehmen, wie Hartmann sagt, allerdings an dem deutlichen Bewusstsein, hierdurch sich von der Realität zu unterscheiden. Die Philosophie, kann man sagen, ist deshalb in der Form abstrakt, weil ihr Inhalt konkret ist, d. h. weil sie sich die ganze Totalität, die „Idee“ der Dinge, zum Bewusstsein bringen will — die Naturwissenschaft ist in der Form konkret und großenteils sinnlich anschaulich, um inhaltlich desto abstrakter zu sein. So verhüllt auch hier das Gewand der sinnlichen Anschaulichkeit die dürftige Nacktheit der besonderten Abstraktion. Der Mensch, der auf empirischem und naturwissenschaftlichem Wege die Welt erkennen möchte, gleicht einem erblindeten Spiegel, der das Licht der Sonne aufzufangen begehrt, denn wer die Weltgesamtheit begreifen will, muss seine innere Möglichkeit zur Reife gelangen lassen *), und nicht a priori von ihr absehen, wie dies die reich gegliederte Naturwissenschaft fordert. So können wir es ruhig aussprechen: die gegenwärtige Blüte der Naturwissenschaften ist als ein Zerfall der menschlichen Totalität zu deuten, als ein Verkennen der Aufgabe des theoretischen Verhaltens.

*) „Wer selbst nicht alles ist, der ist noch zu geringe,
Dass er dich sehen soll, mein Gott und alle Dinge“,
sagt Angelus Silesius sehr tief.


Die Naturwissenschaften in ihrer Gesamtheit haben ihre Entwicklung damit eingelöst, dass sie unfähig wurden, ein Mittel für die menschliche Aneignungslust zu sein. Es war daher ganz folgerichtig, dass sie einen Menschentypus erzeugten, der sich selbst als den demütigen Priester der Wissenschaft betrachten wollte. Nicht genug, dass die sich verwirklichende Zivilisation in ihrem meist adäquaten Ausdruck: dem Staat, die menschliche Autonomie und physische Freiheit naturgemäß immer mehr einschränken musste, nicht genug mit der schrittweisen Vernichtung des Menschen als eines in sich beschlossenen Zweckes — nicht genug mit all dem, hat die Naturwissenschaft sich ein neues Abhängigkeitsverhältnis geschaffen, noch eine neue Mittelbarkeit dem Menschen ersonnen. Indem die Ausdehnung der Wissenschaft so ins Ungeheure wuchs, dass der Einzelne in ohnmächtigem Verzicht sich ihrer als Mittel für seine Erkenntnis entschlagen musste, wurde aus dieser tiefen Not eine Tugend gemacht, die Wissenschaft als ein absoluter Selbstzweck hypostasiert und der Mensch zu ihrem demutsvollen Diener erklärt. Dabei war es allerdings einerlei, ob die Persönlichkeit des Einzelnen noch stark genug war, um sich der Wissenschaft zu bemächtigen, oder so unbedeutend, um von der Wucht und Fülle des wissenschaftlichen Materials erdrückt zu werden. Nur so ist es verständlich, dass die am höchsten entwickelte Wissenschaft der Gegenwart so ganz und gar nicht dazu dienlich war, den Menschen zu befreien — eine Tendenz und ein Ziel, welches ihm doch seit dem Verlassen der Natur immer bewusster vorschwebte. Die Wissenschaft, welche den organischen Zusammenhang mit der einzig befreienden Macht der Philosophie eingebüßt hatte, sank somit langsam zum toten Wissen zurück und teilte die vernichtende Wirkung desselben. War die erste Ursache der menschlichen Zivilisation die, dass sich der Mensch als Selbstzweck ansah und die Natur zu seinen Gunsten verbrauchte, so besteht dieser Rückfall in den Zustand bloßer Zivilisiertheit in dem umgekehrten Verhältnis: der Mensch erklärt sich als Mittel zu einer von ihm selbst erzeugten Beziehungsmodalität seines Wesens. Hatten die Römer die abstrakte Gottheit der salus publica zum herrschenden Götzen erkoren, so darf sich der gegenwärtige Naturforscher als Priester einer noch abstrakteren Göttin, der menschlichen Wissenschaft, fühlen. Aber während den Römer die bestehende Tatsächlichkeit seiner Familie, seines Volkes und seiner Heimat von der hohen menschlichen Bedeutung seines bürgerlichen und zivilisatorischen Fanatismus überzeugen konnte, bietet das abstrakte Ideal der Wissenschaft dem Menschen keine Möglichkeit, sein unermüdliches Dienen, seine eigene Mittelbarmachung zu rechtfertigen. Wir stehen damit vor der schwierigen Erörterung, welches (das Verhältnis der menschlichen Wissenschaft zum Menschen selbst sei.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur