Wissenschaft und Philosophie

Aber das Wesen der Wissenschaft erschöpft sich nicht in jenen beiden Fragen nach dem „warum“ und dem „wie“, aus deren Beschaffenheit folgerichtig ihre Zersplitterung in Einzelwissenschaften hervorgeht. Wenn sich der Mensch bei seinem Fragen nach dem „warum“ nicht in dem unendlichen regressus der in die Ewigkeit fortgleitenden Kausalitätskette verirren will, so muss er notwendig bis zu einer Ursache aufsteigen, die selbst keine Wirkung mehr ist, bei welcher die kausale Kategorie ihre Gültigkeit verliert: d. h. er muss einen Grund postulieren, ein Unbedingtes, welches alle Bedingtheit in sich aufhebt *).

*) Ich brauche wohl Niemanden darauf hinzuweisen, dass die hieraus sich ergebende „Antinomie“ mit einem behaupteten unendlichen Regress der Kausalität ebensowenig eine solche ist wie die vier Antinomien Kants, und dass sie auf eben dieselbe Weise gelöst werden muss: dadurch, dass Thesis und Antithesis für zwei verschiedene erkenntnistheoretische Sphären gültig sind, in diesem Falle die Thesis für die objektive Realität, die Antithesis für die subjektive Idealität.


Ebenso gelangt die begriffliche Aneignung der logischen Gesetze und Inhalte, die Erkundung des „wie“ dazu, einmal die stillschweigende Voraussetzung all ihrer Induktionen selbst zum Gegenstand ihrer Untersuchung zu erheben und, statt nach den Gesetzen, nach der Gesetzmäßigkeit, statt der logischen Beziehungen nach dem sich Beziehenden, dem logischen Sein zu forschen. Die Wissenschaft, welche die Natur dieses sich in allen Dingen Beziehenden immer nur voraussetzt, kann nicht umhi, ihre letzten Voraussetzungen selbst zu untersuchen. Nun ist aber die Sämtlichkeit aller immanenten logischen Beziehungen das Kategorialsystem. Die Grundvoraussetzungen der Wissenschaften sind mithin die Kategorien. Sobald diese Kategorien zum Objekte der wissenschaftlichen Untersuchung gemacht werden, wird die Wissenschaft zur Kategorienlehre, d. h. aber zur Philosophie. Keine der Wissenschaften hatte die Veranlassung empfunden, nach dem Dasein der Kategorien selbst zu fragen, jede hatte eine Anzahl derselben als selbstverständliche Voraussetzung für sich beansprucht, wie die Geometrie den Raum, die Naturwissenschaften die Kausalität, den Stoff, die Qualität, die Intensität, die Energie usw. Erst die Philosophie bringt sich das Dasein der Kategorien zum Bewusstsein, erst sie ist aber hiermit, Wissenschaft im höchsten Sinne — denn nur sie bezieht sich, wie der Mensch im ästhetischen Schein halb unbewusst, auf das Wesen der Dinge, allerdings jetzt mit dem vollen Bewusstsein ihrer Bestimmung *).

*) Die Entdeckung der Kategorien ist die größte wissenschaftliche Tat, welche sich in der Geschichte des Menschen zugetragen hat. Auf sie gründet sich die überragende Bedeutung und die prometheisch-unermessliche Erfinderkraft Platons, was ich gegenüber solchen betonen möchte, die mit Fr. A. Lange in Platons Philosophie nur eine schöne Dichtung, aber keine oder doch nur ungültige „Wissenschaft“ finden wollen. Dass Platon die Kategorien mit den Begriffen noch naiv verwechselt, fällt gering ins Gewicht, wenn man bedenkt, dass zweiundzwanzig Jahrhunderte später Kant noch genau dieselbe Verwechselung beging. — Zwischen Fr. A. Langes manchmal an Schwachsinn grenzender Unfähigkeit, die Bedeutung der idealistischen Philosophie zu begreifen, und der Überschwenglichkeit von Emersons Essay über Platon scheint mir das Buch Windelbands die richtige Mitte einzuhalten.

Aber in diesem Augenblick, wo die Philosophie die Frage nach dem Wesen des der Welttotalität innewohnenden Beziehungsgewebes aufwirft, steht sie einer anderen gegenüber, die wir vielleicht als die Frage des Menschen schlechthin bezeichnen dürfen. Denn auch die Kategorien können nichts Letztes sein, auch sie dürfen nicht beziehungslos zwischen dem Nichts und dem Dasein schweben, auch sie müssen an einem ruhenden in sich seienden Subjekte haften. Aus der Erkenntnis des Kategorialsystems als des innewohnenden Weltgesetzes ergibt sich die Frage nach dem Träger der Kategorien. Wer denkt die Kategorien, nicht nur, wer denkt durch sie oder mit ihnen, sondern wer denkt sie selbst, wer setzt sie?

Von hier trennen sich die Wege der Philosophie, und diese spaltet sich in zwei Hälften. Denn offenbar sind nur zwei Antworten möglich, nur zwei Träger, welche die Kategorien hervorbringen und denken: entweder ist es das Ich, d. h. die im menschlichen Bewusstsein die individuelle Einheit bedeutende Vorstellung, welche das Subjekt aller kategorialen Funktionen ist: dann ist auch die Gesamtheit der Dinge durch das Ich mit den Kategorien durchwirkt und nur in ihm als dessen subjektive Erscheinung. Oder es ist das dem Ich und den Dingen in gleicher Weise übergeordnete Wesen, der absolute Geist, der gleichmässig im Menschen und in der Natur seine eigenen Gesetze denkt. Diese beiden Fragen enden zuletzt in der Einen: kann das Ich Träger der Kategorien sein oder ist dies unmöglich? Wenn Ich es nicht bin, so kann es nur noch der unbewusste Geist sein. In diesem Sinne ist die Frage nach der Realität des Ich allerdings das Grundproblem aller Metaphysik. Die inhaltlichen Erörterungen über dieses Problem dürfen uns naturgemäß hier nicht beschäftigen, dagegen ist es von großer Wichtigkeit, die Bedeutung dieser Frage für das menschliche Dasein darzulegen, denn an ihr allein können wir eine endgültige Entscheidung über die rein menschliche Bedeutung der Philosophie treffen.

Indem die Philosophie nach den verborgenen Ursprüngen der Kategorien sucht, drängt sie im Gegensätze zu der Gesamtheit aller übrigen Wissenschaften nach der wesenhaften Einheit, welche die Natur durchzieht. Wir sehen, wie sich die Wissenschaften nach und nach verloren haben in der unendlichen Fülle der logischen Beziehungsmodalitäten, und wir finden uns hier plötzlich vor die letzte und einfachste Ureinheit selbst gestellt, von welcher alle nur möglichen Beziehungsformen höchstens Erscheinungsweisen sind, die sich zum System der Kategorien verhalten, wie die Erscheinung zum Wesen, wie die Vielheit zum Einen, wie die Welt zum Gott. Wenn alle Wissenschaften Naturwissenschaften sind im weitesten Sinn, insofern sie alle die naturimmanenten Beziehungen zum alleinigen Objekte, ihrer Untersuchungen erheben, wenn wir sie mithin bestimmen können als die Heraussetzung und Entfaltung aller dinglichen Erscheinungsweisen — so ist die Philosophie in Wahrheit die Wissenschaft des Geistes, denn das Subjekt oder der ,,Ort“ der Kategorien kann nur Geist sein. Die Philosophie ist Wissenschaft vom Geiste und sie kann gar keine andere sein. Wenn sich in unseren Tagen eine Strömung des Tages und des wissenschaftlichen Zeitgeistes, wie der Materialismus, eingebildet hat, eine Philosophie zu besitzen, so ist dem gegenüber zu behaupten , dass sie gar keine solche haben kann. Alle Philosophie beginnt und endigt mit der Frage nach dem Subjekte der Kategorien, und eine Weltanschauung, welche diese Fragestellung a priori verneint, wie der Materialismus *), muss notwendig ohne Philosophie sein.

*) Denn die einzig von diesem Standpunkt aus mögliche Antwort müsste hier lauten, dass die stofflichen Atome oder Moleküle die Subjekte der Kategorien seien, welche sonderbare Beantwortung natürlich niemand ernst nehmen könnte.

Indessen kann, wie wir vorhin angedeutet fanden, die Philosophie die Frage nach dem Subjekt der Kategorien auf verschiedene Weise beantworten. Sie kann zunächst im Ich den Träger und Hervorbringer der Kategorien erblicken, sie muss dieses sogar, weil ihr im Ich die einzige Geistigkeit entgegenstrahlt, die sie erstmals erfahren kann. Die Frage nach dem Wesen des Geistes muss einmal im Verlaufe unseres Daseins zusammenfallen mit der Frage nach dem Ich, denn hier und nirgends anders findet der Mensch zunächst den Geist selbst. Aber sobald das menschliche Bewusstsein zum Träger der Kategorien erklärt ist, muss diese Behauptung wieder in sich selbst zurückfallen, weil sie der Erfahrung widerspricht. Unser Bewusstsein erschafft keine Kategorien, sondern es findet dieselben in sich vor als fertiges Produkt, ohne Zutun und Anstrengung seiner selbst. Das Ich denkt vermittels der Kategorien, oder es wird durch sie gedacht, aber die Ursprünge derselben müssen irgendwo anders als in ihm selbst gesucht werden. Und jetzt ist die Philosophie genötigt, die tiefste und letzte Frage aller Erkenntnis aufzuwerfen, nämlich die nach dem Ursprünge des menschlichen Bewusstseins. Alle Wissenschaften haben das Bewusstsein, das Letzte, in sich Beruhende, als die Himmelsachse, um die sich unsere Welt zu drehen habe, unangetastet bestehen lassen — die Philosophie, durch die eigene Folgerichtigkeit ihrer Fragestellung getrieben, muss immer tiefer in die Finsternis des menschlichen Selbstes eindringen, um endlich auch an der hervorbringenden Realität des Bewusstseins zu verzweifeln. So ist die Philosophie die mystische Wissenschaft. Die Frage nach dem Wesen des produzierenden Geistes wirft den Menschen zum ersten Mal in sich selbst zurück. Seit er aus der Natur getreten War mit dem überhebenden Bewusstsein seiner berechtigten Ansprüche auf eine übernatürliche Eudämonie, seit er immer tiefer in den Bann seiner Umgebung geraten war, um endlich im ästhetischen Schein von ihrer peinigenden Abhängigkeit befreit zu werden, seit seiner Menschwerdung empfindet er schließlich die Nötigung, zu sich selbst zu kommen. Wenn alle Wissenschaften zentrifugal sind, indem sie den Menschen immer weiter von Erscheinung zu Erscheinung hetzen, so ist die Philosophie zentripetal, denn sie weist den Menschen wieder in sich zurück und lehrt, dass die tiefsten und letzten Geheimnisse in ihm selbst entschieden werden müssen:

                        „Und lass dir raten, habe
      Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne;
      Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab !“

Und jetzt begründet sich auch der dunkle Anspruch auf die eigene Übernatürlichkeit, welchen der Mensch so viel früher erhoben hatte, als seine Vernunft ihn zu fassen und zu begründen vermochte: es ist die Einsicht, dass das Ich näher dem bewusstlos hervorbringenden Geiste ist als die Natur in ihrer ausnahmelosen Gesamtheit, denn: „in dir selber liegt die Wahrheit. Niemand findet sie, der sie in äußeren Dingen sucht“, bezeugt uns Meister Eckhart.

So sehen wir die Frage nach dem Subjekte der Kategorien durch die Erfahrung selbst entschieden. Nicht das Ich kann der Träger sein, sondern ein hinter und außer dem Ich seiender schöpferischer Geist, der das menschliche Bewusstsein erst kategorial durchzieht, der mit anderen Worten unbewusst sein muss. Nicht im Ich kann die Philosophie den Träger der Kategorien suchen, sondern im überichlichen, unbewussten Geiste. Damit hat die Metaphysik ihr eigenstes Objekt gefunden, jenes Wesen, welches die übrigen Wissenschaften vergeblich suchen mussten. „Denn auch die Philosophie hat keinen anderen Gegenstand als Gott, und ist so wesentlich rationelle Theologie, und als im Dienste der Wahrheit fortdauernder Gottesdienst.“

So bestimmt die Einsicht Hegels das Wesen der Philosophie, und wir werden uns hüten, der Zeit zu gleichen, welche diesen Mann nicht mehr versteht, und über seine Worte zu lächeln.

Das Betrachten des substanziellen Weltgeistes, des unbewussten Trägers aller Kategorien und Schöpfers des kategorial durchwirkten Bewusstseins, ist im eigentlichen Sinne des Wortes Theologie, die Lehre von Gott, die freilich von allen dogmatischen Voraussetzungen und apologetischen Absichten befreit sein muss, um zu dem wahren Wesen zu gelangen. Aber ehe wir der Philosophie bis dahin nachfolgen, wo sie zu der Überwindung ihrer selbst durch andere menschliche Beziehungen veranlasst wird, bleibt uns eine Frage zu erörtern, die heute in verschiedenem Sinne beantwortet wird. Die moderne Wissenschaft unter der absoluten Vorherrschaft der Naturwissenschaften hat geglaubt, durch ihr eigenes Dasein das Dasein der Philosophie zu einem überflüssigen erklären zu dürfen, und sie hat im Bewusstsein des Menschen zuletzt jene Stelle eingenommen, die früher allein der Philosophie Vorbehalten war: la serva padrona. Man hat in unseren Tagen diese Geringschätzung der Philosophie vielfach beklagt und die Ursache in dem unerwartet königlichen Emporblühen der Naturwissenschaft finden wollen. Wir selbst wollen hier nicht urteilen, ob diese tropische Fruchtbarkeit segensreich war oder ob sie zu jenen hemmenden Überfällen zählt, welche so oft den scheinbar gesetzmäßigen Entwicklungsgang störend unterbrechen und in andere, vielleicht schlechtere Bahnen drängen, — wir wollen nicht einmal fragen, ob die Errungenschaften für den Menschen wirklich so glücklich sind, als man uns stündlich erzählt — obgleich gerade diese überlaute Verkündigung ein vielbedeutender Beweis des Gegenteiles sein könnte! Dass sich die Naturwissenschaft in dieser ausschließenden Weise des gegenwärtigen Menschen bemächtigen konnte, sei uns ein Symptom, von welchem wir auf die Beschaffenheit dieses Menschen selbst zu schließen versuchen wollen, denn der äußerlichste und letzte Niederschlag des menschlichen Wesens ist seine Wissenschaft.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur