Mensch und Wissenschaft

Wir haben gefunden, dass der schöne Schein der Natur ihre Zweckmäßigkeit zurückgab und dadurch den Menschen von dem Banne der Zivilisation erlöste. Erst in der Abstraktion von der objektiven Realität wurde der Mensch der durch die Dinge schimmernden immanenten Teleologie gewahr, jener Entelechie, welche als logisches Gesetz die Erscheinungsweisen der Dinge bestimmte; erst als er auf seine Selbstzwecklichkeit verzichtete, begann der Selbstzweck der Naturgesamtheit für ihn offenbar zu werden. Aber wenn die menschliche Befreiungstat damit begann, die Dinge in ihre Selbstzwecklichkeit wieder einzusetzen, soll er gerade für sich das entbehren, was er als den erlösenden Triumph über seine Zivilisation der ganzen Natur zurückgegeben hatte? Soll er im theoretischen Verhalten sich selbst verweigern, was er im ästhetischen den Dingen schenkt? Aber andererseits bestand ja sein zivilisatorisches Verhalten in der Behauptung des menschlichen Selbstzweckes, welche die Beziehung aller anderen Zwecke als Mittel für den Menschen einschloss. Damals hatte die Selbstzwecksetzung den Menschen in die fortschreitende Unfreiheit der Zivilisation gestürzt, jetzt scheint sie doch gefordert zu sein, damit der Mensch sich nicht in der leblosen Wissenschaftlichkeit verliere, aus lauterer Gerechtigkeit, die dem Menschen nicht dasjenige vorenthalten darf, was er freiwillig den Naturdingen zuerkennt. Der Mensch, der einmal dazu gelangt ist, den immanenten Zweck der Organismen zu begreifen, kann unmöglich für sich die gleiche Zweckmäßigkeit leugnen. Wie ist aber dieser Widerspruch zu lösen? Stellt sich der Mensch als Selbstzweck auf, so verliert er sich in der Zivilisation, betrachtet er sich als Mittel, wie in der Wissenschaft, so verliert er sich erst recht — wie vermag er diesem Dilemma zu entgehen?

Offenbar ist eine Lösung des Widerstreits nur möglich, wenn der „Zweck“ beide Male eine verschiedene Bedeutung hat, d. h. wenn das Subjekt oder der Träger des Zweckes in beiden Fällen ein anderer ist. Dies bedarf einer näheren Ausführung.


Das Wesen, welches der Mensch der Zivilisation vorfindet, um es als den absoluten Zweck seines Daseins zu erkennen, ist sein Ich, die empirische Realität seines Bewusstseins. Dieses Ich ist besondert und in sich beschlossen, eine dunkel geahnte Einheit, das Letzte, worauf alle Dinge bezogen wer. den konnten. Der Mensch besitzt kein anderes Mittel zur Selbsterkenntnis als seine Wünsche, die er hegt: solange er alles auf sich bezieht, kennt er nur dieses empirische Ich — und wiederum: er darf nur dieses kennen, solange er keine anderen Wünsche besitzt als die nach eigener Eudämonie. Indessen, der Mensch ist sogar schon im Anfänge seines Entwicklungsganges eine Einheit mannigfaltigster Triebe. So wie der ausschließlich zivilisierte Mensch eine Abstraktion ist, die keine Wirklichkeit hat und nur von einer relativen Bedeutung für das Erkennen sein kann, so auch der Mensch, der nur dieses Ich und seine Eudämonie gewahr würde. Gerade die gesellschaftlichen Instinkte sind am Anfänge am stärksten ausgeprägt, und schon in ihnen lebt eine geheimnisvolle untergründige Strömung anderer Wünsche, als sie die Oberfläche seines „Ichs“ bewegen und erfüllen.

Fast gleichzeitig mit dem Augenblicke, in welchem der Mensch zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, dämmert ihm auch die Ahnung auf von einer Spaltung, die sein ganzes Wesen durchzieht. Er findet sein Bewusstsein inhaltlich zerrissen in zwei Kreise. In dem ersten bezieht er alles auf sein Ich, er bestimmt das Leben und alles Geschehen nach dem Lustwert, den beides für dieses Ich besitzt. Aber während dieser eine Teil aller Begehrungen und Willensrichtungen strahlenförmig zum Ich hinfließt, scheinen andere zu entstehen, welche das Ich meiden und fliehen. Der Mensch findet in sich die Tatsache einer Verwandlungsfähigkeit, die vielleicht das innerste Grundphänomen seines seelischen Daseins bedeutet. Während er möglicherweise Jahre hindurch gewohnt war, alles Dasein an sein Ich zu knüpfen durch die in ihm erregten Affekte der Lust und der Unlust, genügt ein ungeahnter Augenblick, das Beschränkte und Elende dieses Zustandes zu offenbaren. Was im Verlaufe vieler Generationen als schlechthin natürlich gegolten hat, was vielleicht ganze Reihen von Vorfahren nie unterlassen haben zu vollbringen, erscheint plötzlich verzerrt, wie das menschliche Antlitz beim Mondschein im Spiegel, verändert im Lichte eines neuen Gestirns, dessen vorverkündende Strahlen zum ersten Mal die Dinge getroffen haben. Wir erinnern uns hier an den antiken Kultus der eleusinischen Mysterien des Augenblicks, da der Geweihte das Wunder „des großen Lichtes“ erlebt und die Nachkommenden fern in dem leidenschaftlichen Toben der aufs höchste erregten Erlösungssehnsucht als einen wirren Knäuel ekstatischer Trunkener erblickt — er selbst in dem überirdischen Glanze des weihenden Lichtstrahles ruhig dastehend. Wir stoßen hier wie auf die Symbole des menschlichsten aller menschlichen Vorgänge — auf die Darstellung des neu im Bewusstsein auftauchenden Wissens um Gut und Böse. Der durch das geheimnisvolle Licht Erleuchtete wird seiner umgebenden Welt als einer rasenden Menge sich bekämpfender, um den Vortritt in das Mysterium streitender Individuen gewahr aber nur vermöge der innerlichen Umwandlung, die sich in ihm vollzogen haben muss, und in die er sich verloren hat, „wie wenn Götterräume geöffnet werden“.

Es war dem menschlichen Denken von jeher deutlich, dass das Subjekt dieser innerlichen Offenbarung ein anderes sein musste, als das von ihm stündlich erfahrene empirische „Ich“. Denn es ist ja gerade das Ich, welches von nun an eine durchaus veränderte Bewertung erfährt: — vorher noch das absolute Zentrum, von dem alle Begehrungen radial verliefen, um alle wieder in ihm einzumünden, erscheint es jetzt als der polare Gegensatz zu einem tiefer liegenden Dasein. So wird aus der Tatsache eines im Grunde verschiedenen und zerspaltenen Bewusstseinsinhaltes auf die andere zweier verschiedener Subjekte oder Träger dieser Inhalte geschlossen, der Mensch zum Schauplatze zweier metaphysischer Mächte, welche abermals der Hellene am schönsten versinnlichte durch seine Mythe des Dionysos-Zagreus und der Titanen, die in der orphischen Theogonie als die unsterblichen Überreste des göttlichen Lichtes und der irdischen Finsternis in jedem Einzelnen zu neuen Konflikten entbrennen. Wenn es uns gelänge, die philosophische Deutung der hier im Bilde geschilderten Vorgänge zu geben, so wären wir der Lösung unseres Problems um vieles näher gekommen.

Von der Tatsache eines polaren Gegensatzes im Bewusstsein ausgehend, sind wir indessen nicht berechtigt, hier einen wirklich existierenden metaphysischen Dualismus zweier dem Menschen immanenten Subjekte anzunehmen, wie dies der Mythos tut. Wohl ist das Ich das ursprüngliche Zentrum des Bewusstseins, infolgedessen auch die letzte Norm, an welcher das Leben in seinen Erscheinungsformen gemessen wird, wie wir beim natürlichen und zivilisierten Menschen gesehen haben. Aber aus der erfahrenen Tatsache einer sich vollziehenden Umwertung des vorigen Lebensregulativs, einer Entsagung der auf das Ich bezogenen Handlungsweisen, folgt uns nicht die Zweiheit eines außer dem Ich und ihm neben- oder übergeordneten Subjektes, etwa eines „besseren Bewusstseins“ im Sinne Schopenhauers, sondern wir folgern vielmehr umgekehrt: wenn das Ich als besonderte Realität unfähig ist, die Tatsache der sittlichen Gesinnungsverwandlung, einer von einem wechselnden. Standpunkt ausgehenden Regeneration der Daseinswerte zu erklären, so beweist uns dies das Unwahre und Illusorische dieser eingebildeten Realität, es besagt uns, dass das Ich nur solange für real gehalten werden konnte, als in seinem Inhalt keine Elemente vorgefunden wurden, von denen es augenscheinlich war, dass sie irgendwo anders ihren Ursprung haben mussten als eben in diesem Ich. Ein Inhalt im Ich-Bewusstsein, der plötzlich alle auf dieses bezogene Handlungen verwirft, kann dem Ich nicht mehr entspringen, er kann überhaupt durch kein Ich erzeugt sein, auch durch kein Bewusstsein mehr (da ja eben dessen Produzent, der Schöpfer seiner selbst, gesucht werden soll) — — dieser Inhalt kann nur überliefert werden durch ein ewig unbewusstes, jedes Ich erst aufbauendes Subjekt, welches wir nach dem Vorgänge des Brahmanisrhus und einiger unserer Mystiker das unbewusste Selbst, das Atman, nennen wollen. Die wunderbare Erscheinung des sittlichen Standpunktwechsels kann mithin nur gerechtfertigt werden durch einen immanenten Träger, ein bewusstloses Subjekt, von welchem aus die Tatsache der auf das empirische Ich bezogenen Zwecke ein nichtseinsollender, Überwindung heischender Irrtum bedeutet. Da wir die Tätigkeit dieses Selbst, den Ort der Wiedergeburt, in allen Menschen in gleicher Weise finden, gemäß der objektiven Verbindlichkeit der sittlichen Gesetze, und da wir die Einwürfe des transzendentalen Idealismus hiergegen durch die Erkenntnistheorie Hartmanns, dieses Propheten der unbewussten Seele, alle als längst widerlegt ansehen müssen, so wird aus diesem unbewussten Selbst das überall identische, ewige und unbewusste absolute Subjekt, der Weltgeist.

Das Ich müsste sich demnach gerade so lange als Daseinsträger ansehen, als es nicht zur Erkenntnis dieses Selbstes gelangt wäre; es musste eben so lange sich zum absoluten Zweck erklären, als es von seiner Realität überzeugt war. Aber indem es seinen Inhalt aus einer Quelle genährt sah, die der naivste Realist nicht mehr im Ich suchen konnte, versank langsam der Glaube an seine Realität, und je deutlicher jener Einflüsterer zum Menschen sprach, je schneidender die Offenbarungen dieses „transzendentalen Subjektes“ dem Ich selbst entgegengesetzt waren, desto schneller erhob sich hinter dieser verschwindenden Realität die andere des schöpferischen Unbewussten. Schließlich steht der Mensch nur noch vor der Nötigung, allen Inhalt seines Bewusstseins, in ausnahmeloser Totalität, d. h. das Bewusstsein selbst, als ein Produkt des innewohnenden Unbewussten zu begreifen — wenn anders er nicht abermals dem Dualismus anheim fallen und den einen Teil des Bewusstseinsinhaltes vom Selbst, den anderen vom empirischen Ich entstammt sehen wollte. Aber mit diesem Anspruch auf die schöpferische, d. h. wirkende Realität des Ich muss der Mensch auch die Behauptung des Eigenzweckes desselben aufgeben und statt jenes das ihm innewohnende unbewusste Selbst zum Zwecke seines Daseins erheben. Dieses Selbst ist das große Licht der alten Mysterien, es ist das Subjekt der Verwandlung, welche sich hier und da, oder doch einmal in fast jedem von uns vollzieht, und dessen Durchbruch die christliche Religion als die durch den heiligen Geist sich einsenkende Gnade Gottes bezeichnet. Im Augenblick, wo das Bewusstsein von der Unwirklichkeit des Ichs und der alleinigen Realität des Selbstes gemeinsam und Allen teilhaftig würde, wäre die Welt im Prinzip von dem Bösen und der Schuld erlöst — denn von nun an könnte der Mensch immer nur dann sündigen, wenn er die eigene Einsicht wieder vergäße und ihrer bestimmenden Kraft verlustig ginge. So wird der Ich-Glaube zerstört durch die Gewalt des einströmenden Inhaltes, die bald zu stark ist, als dass sie vom Menschen als das Produkt des empirischen Ichs aufgefasst werden könnte, und das Pfingstwunder der redenden Zungen verkündet die neue Realität des in Allen identischen, absoluten Subjekts, welches in seiner immanenten Besonderung das menschliche Selbst, seine Entelechie und seine „Idee“, aber von nun an auch den Träger seiner Zwecke bedeutet.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur