Der Staat und die Zivilisation

Die objektiv gewordene Zivilisation, gleichsam in einem Augenblick ihres Entstehungsprozesses erstarrt, ist der Staat. Er ist zunächst, so wie wir ihn vor uns sehen, nur das bewusst organisierte System von Mitteln, die möglichst gesteigerte Glücklichkeit und Lebensfähigkeit einer möglichst großen Anzahl von Menschen zu verwirklichen. Alles staatliche Leben gründet sich auf einen unbewussten Gesellschaftsvertrag, d. h. auf einer gemeinsam erschaffenen Möglichkeit, ein erträgliches Gleichgewicht zwischen einer allgemeinen Eudämonie und der dadurch bedingten Einschränkung und Entsagung des Einzelnen zu erzeugen. Diese praktisch-nützliche Natur des Staates zu leugnen und seine sittliche Natur als eine ursprüngliche behaupten zu wollen, ist ebenso töricht, als vom Staate zu verlangen, er solle Kultur-Staat *) sein.

*) Ich muss hier einem erst später zu erklärenden Sinn des „Kultur“-Begriffes vorgreifen, um die Stellung des Staates hinreichend zu beleuchten. Es genügt aber, dass unter Kultur hier eine höhere Beziehungsgesamtheit verstanden wird, als unter der Zivilisation. Ich kann mich um so eher auf die Berechtigung dieser jetzt noch nicht begründeten Unterscheidung berufen, als Chamberlain in seinen „Grundlagen“ weitere Kreise mit derselben vertraut gemacht hat — allerdings in etwas anderem Sinne, als wir dies zu tun gedenken. Die erste Unterscheidung zwischen Zivilisation und Kultur stammt übrigens wahrscheinlich von W. v. Humboldt, wie uns Gobineau mitgeteilt hat („Versuch über die Ungleichheit u. s. w.“ S. XXXVII. I). Es sei schließlich noch des Umstandes Erwähnung getan, dass die Kaiserin Elisabeth von Österreich, die an rein menschlicher Bedeutung die europäischen Fürstinnen ebenso überragte wie Marc Aurel die römischen Cäsaren — einen ganz ähnlichen Gedanken äußerte. Ihre Gedanken über diesen Gegenstand offenbaren eine tiefe Einsicht in die notwendige Trennung von Kultur und Zivilisation und ein wunderbares Gefühl für das entscheidende Merkmal der Kultur.
Vgl. die „Tagebuchblätter“ des Constantin Christomanos S. 81/82. 44


Das Wesen des Staates ist zunächst ausschließlich zivilisatorisch, d. h. praktisch eudämonistischer Natur, eine Tatsache, welche der in gewissem Sinne vollkommenste Staat mit bewunderungswürdiger Offenheit zugestanden hat: in der römischen Republik war die salus publica die oberste Göttin der gemeinsamen Volkheit. Wir können keine Rechtfertigung finden für die, welche dem Staat unermüdlich einen Vorwurf daraus machen, dass er nur das ist, was er folgerichtigerweise sein kann: die vollständig verwirklichte Zivilisation, die durch ausschließlich praktische Beziehungen geregelte Gesellschaftsordnung, zum Zwecke der gemeinsamen Wohlfahrt. Alles, was über diese praktischen Beziehungen hinausweist, kann niemals Sache des Staates sein, er ist nicht „nach dem Urbild der Ideenwelt geformt“ (wie Schilling meinte), weil alle ideell-geistigen Objektivationen auch den praktischen Beziehungen, wie wir noch sehen werden, entrückt sind.

Das Urteil unserer Gegenwart über den Staat ist in zweierlei Hinsicht getrübt: einesteils sieht man in dem Staat das letzte Ziel der menschheitlichen Entwicklung, eine Notwendigkeit, die alles zum Dasein zu bringen hätte, was der menschliche Geist aus sich hervortriebe — andernteils kann man sich an Geringschätzung des Staates niemals genug tun, eben weil er hinter diesen ihm einmal aufgezwungenen Pflichten soweit zurückbleibt. Die einen gehen ohne Rest im Staate auf, die anderen finden in ihm ein vielleicht nicht einmal notwendiges Übel. Aber beide sind sich darin gleich, dass sie eine wesentlich falsche Auffassung vom Staate besitzen. Alle Überschätzung und alle Verurteilung des Staates entspringt einem falschen Begriffe von ihm, als sei er zur Verwirklichung aller sittlichen und geistigen Funktionen berufen, auch aller derjenigen, welche sich nicht auf die praktischen Beziehungen der gemeinsamen Wohlfahrt erstrecken. Kein Wunder, wenn wir einen großen Teil der gegenwärtigen Menschheit in ihren Beziehungen zum Staate ihr ganzes Menschentum erschöpfen sehen, wenn sie im kindischen Glauben an seine umfassende Totalität ihr ganzes Dasein dem Staate widmen, ohne ihr Wissen, langsam und mechanisch, alle Lebensäußerungen einer wahrhaften Menschlichkeit einbüßen und verarmt an jedem seelischen Wissen und an jedem geistigen Vermögen ihr Leben in vollständiger Erschlaffung verschenken. Aber auch kein Wunder, wenn deren an innerlichen Triebkräften reichere Gegner in schrankenloser Staatsverachtung verharren und in ihm den geradezu prädestinierten Erbfeind aller rein menschlichen Entfaltung, alles dessen, was den Menschen zur Menschlichkeit berufen hat, erblicken zu müssen glauben.

Diese beiden Folgeerscheinungen einer irrtümlichen Staatsauffassung sind gleich verderblich: die erste verkümmert den unendlichen Reichtum außerpraktischer Beziehungen und tötet die Seele, die andere untergräbt das achtungsvolle Ansehen einer notwendigen Ordnung, die als zivilisatorische Schöpfung eine unumgängliche Bedingung aller höheren Möglichkeiten dar stellt. Während der folgerichtige Staatsgedanke in den Staats -Sozialismus mündet, wie schon dessen Abstammung aus der Hegelschen Philosophie beweist (wenigstens was die deutsche Sozialdemokratie anlangt), muss jene zweite extreme Beurteilung einen gewissen Ästhetizismus erzeugen, der sich von der bestehenden Wirklichkeit in weltmüder und verdrossener Lässigkeit abwendet. Sobald der Staat dagegen als zivilisatorisches Mittel erkannt wird, kann er weder unterschätzt noch in überschwenglicher Weise verherrlicht werden. Das erstere nicht, weil er als der vernunftvoll geordnete Organismus angesehen wird, der die Summe aller praktischen Beziehungen in sich zur Entwicklung gelangen lässt, um so die reale Stütze für alle späteren außerpraktischen Betätigungsweisen zu sein — das andere nicht, weil er nicht selbst zur Entfaltung dieser übergeordneten geistigen Möglichkeiten berufen ist, sondern sich seiner lediglich mittelbaren Bedeutung als der unerlässlichen Bedingung für ein Höheres bewusst bleiben muss. Jetzt erst wird es deutlich, dass der Staat keinen Anspruch auf die ungeteilte Hingabe seiner Bürger haben kann, dass er an sich gar nicht ausersehen sein darf, andere als rein praktische Beziehungen zu verwirklichen. Wenn ihm erst die Rechtfertigung für seine übertriebenen Ansprüche fehlt, wird er auch der Geringschätzung entgehen, indem der menschliche Geist erkennt, dass er seine höchsten geistigen Möglichkeiten irgend wo anders auseinandersetzen und entwickeln muss als im staatlichen Leben, wenn er nicht von vornherein auf dieselben verzichten will. Der Staat wird dem Menschengeist erst dann gefährlich, wo er in seine Rechte einzugreifen droht, d. h. da, wo er auch dessen außerpraktische Interessen unter den Zwang seiner Autorität beugen will — aber er kann dies nur, wenn ihm dieser Geist eine Stellung einräumt, die ihn hierzu befähigt. Wundere man sich daher nicht, wenn heute der Staat die geistige Freiheit und Autonomie antastet: er vollbringt dies nicht aus sich, sondern aus der Machtvollkommenheit des falschen Geistes, der in ihm die ausnahmslose Gestaltwerdung aller humanen Möglichkeiten sieht. Unser Staatsleben frisst die Kraft unserer Rasse vollständig auf, weil der Geist unseres Volkes den Geist des Staates missverstanden hat. Von jeher hat der Deutsche geschwankt zwischen einer alles hingebenden Leidenschaft zum Staat und einer grenzenlosen Geringschätzung desselben. Wenn er sich nicht überwindet zu einer maßvollen und gerechten Beurteilung, so wird er sich an seiner Staatsgestaltung ebenso verbluten wie der Hellene — „gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“. Der Staat ist seinem Wesen nach Zivilisation, verwirklichtes und Dasein gewordenes praktisches Verhalten — wollt ihr Staat sein, ausschließlich, so seid ihr Zivilisierte, oder, um mit Schiller zu reden: Barbaren, aber keine sich selbst verwirklichende Manschen, — wollt ihr dieses sein, so nehmt den Staat in euch auf, ohne euch in ihm aufzugeben! Eine Rasse, die ihre ganze Pflege des geistigen Lebens dem Staate übergeben hat, ist keiner geistigen Entfaltung wert, denn solange ist sie ausschließlich bestimmt durch die Rücksicht auf die salus publica, auf die gemeinsame Wohlfahrt. Soll aber der Staat jemals auf eine andere Grundlage gestellt werden, als die einer praktischen Eudämonie — was früher oder später einmal zur Notwendigkeit werden wird — , so ist dies nur möglich, wenn der befreite menschliche Geist ihn seiner höheren Erkenntnis nachzieht — aber nicht, indem er diese jenem von Anfang an unterordnet. Dem Staat gehört nichts zu als die ordnende Gewalt der praktisch-zivilisatorischen Beziehungen — alles andere ist Sache der gemeinsamen Menschheit, der Nation (im Sinne P. de Lagardes), einer Vereinigung, die aller praktischen Obliegenheiten enthoben sein muss *).

*) Erinnern wir uns auch hier der Schillerschen „Briefe über die ästh. Erz. etc.“, deren unvergleichlich erzieherischen Wert ich immer wieder betonen, ja, einem Jeden ans Herz legen möchte: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Auch für Schiller beginnt die Erfüllung der Menschlichkeit mithin erst da, wo die praktischen Beziehungen ihre Rechte eingebüsst haben, d. h. erst da, wo der Staat den Menschen nicht mehr gefangen nimmt. Der Staat, der den Menschen naturgemäss vom Spiel entfernt halten muss, erweist sich daher auch hier in dem Masse schädlich, als er dem Menschen die Rechte der freien Auseinanderfaltung seines Geistes im Spiele verkümmert, als er mehr sein will, wie die praktische Voraussetzung zu dieser Freiheit. Übrigens äußert eine ganz ähnliche Auffassung der Staats-Bedeutung Paul de Lagarde, der den Staat ganz entschieden unter die Nation gestellt wissen will, zu deren geistigem Leben er eine mittelbare Bedingung sein soll.
Vgl. „Deutsche Schriften“ S. 326.


Erst im Hinblick auf dieses überstaatliche Ziel kann die ursprüngliche Auffassung der staatlichen Grundlagen und der staatlichen Zwecke gereinigt werden von allen Zielen bürgerlicher Wohlfahrt und gemeinsamen Behagens, erst dann mag die praktische Mittelbarkeit des Staates ihre höhere Rechtfertigung finden durch die Behauptung eines sittlichen Zweckes, dem sich auch der Staat notwendig unterzuordnen habe. Ein Bedürfnis, das staatliche Leben mit seinem politischen Mechanismus der Selbsterhaltung auf tiefere Grundlagen zu stellen, scheint jetzt eben wach zu werden in dem überall erkennbaren Wunsch, die Sittlichkeit mit den Zwecken der salus publica zu versöhnen. Es ist Tatsache, dass wir heute die Ungerechtigkeit einer staatlichen Handlung, einer politischen Notwendigkeit bitter empfinden und uns vor uns selbst nach einer Rechtfertigung Umsehen. Vielleicht liegt hier ein Grund vor zu glauben, dass unser Denken über Politik und Staat sich zu regenerieren beginnt, wozu allerdings weitere und bedeutendere sittliche Begriffe notwendig sein werden, als sie uns die Moral irgend einer historischen Religion überliefert.

Vor allen Dingen muss aber der Staat selbst auf hören, Selbstzweck für seine Bewohner sein zu wollen, denn solange seine durchaus reale praktische Bedeutung als ein solcher verstanden wird, kann von einer sittlichen Rechtfertigung schlechterdings keine Rede sein, deren höchste Wahrheit eben darin beruht, dass sie ihren absoluten Zweck immer weiter von dem Dasein des Menschen entfernt und nicht in ihm sucht.

Die sittliche Wiedergeburt wird demnach hier wie überall beginnen müssen mit der Einsicht in eine bloße Mittelbarkeit, wo ein früheres Denken noch absolute Selbstzweck vermuten konnte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur