Das „Wissen“

Aber die Zivilisation benötigt außer dem Staate noch eines anderen wichtigen Mittels, um sich selbst zu verwirklichen. Die zivilisatorische Entwicklung mit ihrer zunehmenden Fülle an einer schier unübersehbaren Mannigfaltigkeit von ineinander greifenden Mitteln, Zwecken und Beziehungen, mit ihrer unendlichen Entfaltungsmöglichkeit, welche die Nutzbarmachung aller Dinge zum Ziele hat — dieser Prozess erheischt es als Notwendigkeit, sich ein geordnetes Schema über die Erscheinungsformen der Dinge und über sie selbst zu beschaffen. Die methodische Anfertigung dieses zurechtweisenden Schemas ist das Wissen, welches wir besonders von der Wissenschaft zu unterscheiden haben werden. Das Wissen als bloß methodisch geordnete und systematisierte Kunde oder Beschreibung ist ein notwendiges praktisches Mittel für die Zivilisation und darf auf eine höhere Bedeutung in den menschlichen Entäußerungsformen durchaus keinen Anspruch erheben. Hierin kann uns die wissenschaftliche, d.h. rein theoretische Form, welche sich das Wissen zu geben wusste, nicht beirren. Denn alles beschreibende Aufzählen natürlicher Tatsachen und Geschehnisse, alle Sichtung und Schematisierung der erscheinenden Lebensformen nach mehr oder minder willkürlichen Normen und Gesichtspunkten besitzt in sich gar keinen Wert. Entweder ist das Wissen lediglich eine Vorstufe für die eigentliche Wissenschaft, etwa wie die Naturkunde zur Biologie, Physiologie u. a. oder es erfüllt seinen Zweck erst in einer unmittelbaren Beziehung zur Praxis, wie die beschreibende Erdkunde in ihrer Anwendung für die geographische Forschung. Beide Male beruht der Wert des Wissens in seinem Korrelat, auf welches es bezogen ist, und nicht in ihm selbst. Beide Male erweist es sich als ein Mittel, welches in sich wertlos ist und eine gewisse Bedeutung erst durch einen außer ihm liegenden Zweck erhält.

Das Wissen ist eine ebenso quantitative Unendlichkeit, eine schlechte Unendlichkeit, wie Hegel sagt, wie die Naturgesamtheit auch: es ist kein in sich abgeschlossener Organismus, sondern ein Mechanismus, der immer nur zufällig, durch äußere Verhältnisse bestimmt, abgeschlossen erscheint. Wenn das Wissen zunächst den Vorteil zu gewähren scheint, dass sich der Mensch in der berückender! Mannigfaltigkeit der Dinge zurechtfinde, so ist es letzten Endes doch nur wieder ein Mittel für ihn, sich von neuem in die gestaltlose Vielheit zu verlieren. Auch das Wissen treibt den Menschen wie die Natur rastlos von einer Erscheinung zur andern fort und bekundet damit am ehesten, dass es in sich keine wesentliche Erkenntnis zu bieten hat, dass es schlechthin ohne unmittelbare Beziehung zum menschlichen Erkennen ist. Alles Wissen sagt dem Menschen nur, wie ihm die Dinge erscheinen — aber selbst in seiner Ungeheuern Gesamtheit gibt es noch nicht den geringsten Aufschluss darüber, was die Dinge sind. Mit den Erscheinungen gibt sich aber nur der die praktischen Beziehungen organisierende Menschengeist zufrieden — niemals der erkennende, nach Erkennen verlangende. Eine Menschheit, die beim Wissen stehen bleibt, wie der Chinese und so oft der Deutsche, beweist, dass ihr nicht um Erkenntnis, sondern um schlaue Verwertung erlisteter Tatsachen zu tun ist.


Zu dieser ausschließlich zivilisatorischen Bedeutung sinkt auch die Wissenschaft da wieder herab, wo sie zur angewandten wird, d. h. zur Technik.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur