Die Rechtfertigung der Zivilisation

Hiermit vermögen wir aber die höhere Notwendigkeit des zivilisatorischen Verhaltens mit seiner täuschenden Motivation einzusehen. Die Zivilisation ist notwendig gewesen, weil ihre Illusion die einzige Möglichkeit bot, den Menschen dem Gängelbande der Natur zu entreißen. Wenn sie den Menschen durch die Illusion seines Selbstzwecks vor die Erkenntnis einer Ungeheuern Täuschung fuhrt, so hat sie lange schon ihre Aufgabe gelöst: von der Natur ist er zu weit entfernt, als dass er bedingungslos zu ihr zurückkehren könnte — und das zivilisatorische Verhalten ist ihm vergällt. Abermals muss er sich umsehen, abermals ist er genötigt, ein neues Verhalten ausfindig zu machen und mit allem Bedingtsein der Illusion ebenso zu brechen wir mit dem ehemaligen Bedingtsein durch die Natur. Nicht die Zivilisation als solche war ein Irrtum, sondern nur der Glaube des Menschen, hierin seinen Zweck zu erfüllen. Es war die bewusste Motivation, die ihn täuschte, nicht aber jener immanente Trieb seines bewusstlosen Willens, den wir auch hier wieder hinter dem Dasein der Täuschungen gewahr werden als die wahre und eigentliche Ursache aller Veränderungen, gegenüber welcher alle Motive des Bewusstseins unwichtig und bedeutungslos erscheinen. Wir finden hinter allen Dingen eine zögernde Rechtfertigung, die manchmal über unser Bemühen zu lächeln scheint, hier zu verurteilen und dort zu entschuldigen. Die menschlichen Zwecke hat die Zivilisation nicht erreicht, aber sie hat dennoch einer höheren Wahrheit gedient, indem sie den Menschen vor die Notwendigkeit einer neuen Selbstbestimmung stellt: zurück zur Natur kann er nicht, weil ihn hier die alte Naturbedingtheit umfinge *), von der ihn die Zivilisation glücklich befreit hat — verharren unter der Motivation der Illusion kann er auch nicht, denn er hat sie in ihrer Unwahrheit durchschaut — — wo wird er sich hinwenden müssen? Das verlorene Glück der bewusstlosen Natürlichkeit ist längst verscherzt, das Bewusstsein treibt weiter und weiter, der Instinkt der Natur hat seine Rechte verloren, in das verlassene Paradies ist nicht nur keine Rückkehr möglich, sondern auch nicht mehr ersehnt — die Gegenwart ist die trostlose Einsicht in die Nichtigkeit der bewussten Motivation , die praktischen Beziehungen heften sich wie ein neues Nessushemd der Unfreiheit an die gebeugten Glieder des Menschen, eine neue Bedingtheit erzeugend und eine neue Freiheit erheischend — wohin streift das verzweifelte Auge des Menschen, um sich Rettung zu entdecken?

*) Es scheint allerdings gewisse Völker zu geben, welche die mühselige Steigerung der zivilisatorischen Arbeit vermeiden zu Gunsten eines dumpfen Naturbehagens, die sich lieber der Naturbedingtheit unterordnen, als gegen dieselbe anzukämpfen. Heinrich Schurtz schreibt die Stagnation der Naturvölker, die jedem Entwicklungsimpuls spottet, einer glücklichen Anpassung zu (S. 75 des oben zitierten Werkes). Aber diese Erklärung scheint nicht ausreichend, wenn man daran denkt, dass wohl jedes Volk und jede Rasse den toten Punkt einer möglichst glücklichen Anpassung erreichen musste, weshalb sich dann die Frage erhebt, warum sich die eine hiermit zufrieden gibt, die andere nicht? Auch klimatische Bedingungen und Einflüsse können das Rätsel nicht lösen, wie schon Chamberlain angegeben hat. Aber vielleicht ist jene Stagnation eine Täuschung unserer Betrachtung, aus dem Überblicken so kurzer Zeitabschnitte folgend. Dass eine Evolution sogar hier statt gehabt haben muss, gibt auch Schurtz zu — wer kann aber beurteilen, ob diese absolut stillsteht? Hierin müssten uns ungleich längere Perioden zum Vergleiche zugänglich sein, als sie die Geschichte uns darbietet.


Aber ehe wir dieser Frage unsere Aufmerksamkeit widmen, müssen wir noch einiger der wichtigsten Hilfsmittel des Zivilisierten Menschen gedenken, dazu dienlich, dem von ihm aufgestellten Zweck zur Verwirklichung zu verhelfen: es sind dies der Staat und das Wissen. Erst hierdurch gewinnt das flüchtige Bild des zivilisierten Menschen einigermaßen an Deutlichkeit, an derjenigen plastischen Bestimmtheit, die zu seiner Wiedererkenntnis im Dasein der Gegenwart einzig befähigen kann.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur