Das Selbst als Zweck der Wissenschaft

Wir können unsere vorhin aufgeworfene Frage befriedigend lösen. Der Träger des menschlichen Zweckes ist das Selbst, — nicht der Mensch, sofern er in sich abgeschlossenes, besondertes und fensterloses Bewusstsein ist, sondern sofern er in seinem unbewussten Selbste den Zusammenhang mit dem absoluten Geiste bewahrt. Jetzt erst verstehen wir das Problem des ästhetischen Scheins: das Objekt des ästhetischen Verhaltens, die den Dingen immanente Entelechie ist wesenhaft dasselbe, was im Menschen betrachtendes und genießendes Subjekt ist. War die Idee in ihrer unbewussten Logizität Träger der in den Dingen existierenden immanenten Zweckmäßigkeit, beruhte auf ihrer Anerkennung und Freiwerdung der Bruch mit der Zivilisation, — so finden wir dasselbe zwecksetzende Prinzip im menschlichen Selbste wieder, auch ihm die Selbstzwecksetzung gewährend. Der zivilisierte Mensch hatte das Ich zum Zweck erhoben, der ästhetische und wissenschaftliche das Selbst, den unbewussten Archon. In diesem Sinne ist auch die Wissenschaft nur ein Mittel für ihn, denn das unbewusste Selbst darf Anspruch auf absolute Gültigkeit erheben, weil es das überall Identische, ja schlechthin All-Eine und Alleine ist. Wir haben jetzt noch etwas näher zu erörtern, wie die Beziehungen der Wissenschaft und der Philosophie zu diesem Selbste zu begreifen seien.

Das menschliche Selbst ist das Subjekt des Erkennens, sofern in ihm der Träger der Zweckmäßigkeit des theoretischen Verhaltens gesucht werden muss. Wenn schon bei der Ästhetik Kants und Schopenhauers das interesselose Wohlgefallen immer weiter um sich greifende Bedenken hervorgerufen hatte, so dass es heute als anerkannt gelten darf, dass beide Denker damit nur eine negative Vorbedingung des ästhetischen Verhaltens, nämlich die Abstraktion von der praktischen Zweckmäßigkeit (der Nützlichkeit) bezeichnet haben wollten, so sehen wir uns auch im theoretischen Verhalten jedes Verständnisses beraubt, wenn wir seine Zweckmäßigkeit in jedem möglichen Sinne für den Menschen leugnen. Wäre der menschliche Instinkt nicht unumstößlich von jeher von einer durch das theoretische Verhalten befriedigten Zweckdienlichkeit überzeugt gewesen, so hätte er wohl längst aufgehört, sich der unsäglich mühevollen und schwierigen Arbeit des Erkennens hinzugeben — und er würde zweifellos wohl daran getan haben. Denn diese Welt wird regiert durch den telos [Ziel oder Endzweck], und es ist nicht einzusehen, warum das menschliche Dasein sich irgendwo aufopfern solle, wo die Zwecke endigen.


Alle Kämpfe gegen das Zweckmäßigkeitsdogma in der Schönheit und in der Wissenschaft wenden sich, wie wir jetzt deutlich begreifen, nicht gegen den Zweck schlechthin, sondern nur gegen ihn als praktisch-nützlichen, dessen Träger noch nicht das erst langsam erstehende Subjekt der Erkenntnis, sondern das erfahrene Ich des Bewusstseins mit den Interessen seiner selbstzwecklichen Eudämonie ist. Dass aber dieses Subjekt des Erkennens, der neue Mensch, wirklich das bewusstlose Selbst als Träger des theoretischen Zweckes ist, wird uns bestätigt durch das ursprünglich Instinktive aller Erkenntnistriebe und durch die Stärke einer unbezwinglichen Leidenschaft, ja, des Enthusiasmus und der Ekstase, zu welcher dieser Trieb in der Seele des Genius emporwächst.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur