Das Wesen des Erkennens

Indessen erhebt sich vor uns die Frage, welche Zwecke und Interessen dieses Selbstes durch die Wissenschaft erfüllt und befriedigt werden? Es kann uns nicht genügen zu? wissen, dass das theoretische Verhalten in uns einen Träger findet, ein Bezogenes, für welches dasselbe wahrscheinlich von der höchsten Wichtigkeit sein wird, ohne den Versuch zu wagen, die inhaltlichen Zwecke des innewohnenden Schöpfers erratend und schließend zu vermuten. Wenn die Wissenschaften mit Einschluss der Philosophie die in den Dingen sich beziehenden Erscheinungsformen zur Entwicklung gelangen lassen, so beruht ihr tiefster Wert in der Bewusstwerdung eines Vorganges, der vorher dem Menschen als erkennenden unbewusst geblieben war. Für jedes besonderte, individuelle menschliche Selbst beruht demnach der Wert des theoretischen Verhaltens in der Bewusstwerdung der Beziehungsweisen und des Wesens anderer Selbste, wenn wir ein solches konstituierendes Prinzip in der ganzen kosmischen Allheit als deren Welt-Seele voraussetzen und behaupten. Da aber das erkennende Subjekt vom erkannten Objekte, das im Menschen nach Erkenntnis dürstende Selbst nicht essentiell verschieden ist von dem durch ihn erkannten Wesen der Dinge, so können wir den Vorgang des wissenschaftlichen Verhaltens als den einer Selbst-Bewusstwerdung des alleinen Subjektes bestimmen; Und da dieses all-eine, sich selbst gleiche Subjekt des Erkennens der metaphysische Wesensgrund der Welt ist, das in die individuelle, „selbstische“ Vielheit zerschlagene Eine Unbewusste, so ist die Wissenschaft letzten Endes die Selbstbewusstwerdung des Unbewussten. Das Selbst, im Menschen partikuliert, so leidenschaftlich und heftig nach dem Erkennen anderer Wesenheiten verlangend, muss mit dem Zweck erfüllt und durch ihn bestimmt sein, sich seiner in der Erkenntnis der Anderen bewusst zu werden („tât tvam âsi“). Alles Erkennen ist der fortschreitende Bewusstwerdungs-Verlauf des all-einen Subjektes des Erkennens, wenn wir uns von dem beschränkten Standpunkte der Individualität lossagen und die trennenden Schranken zwischen dem erkennenden Subjekte und dem erkannten Objekte als keine prinzipiellen und wesenhaften verstehen wollen. So finden wir aber im Subjekt des theoretischen Verhaltens denselben unbewussten Trieb wieder, welchen wir schon in der Zivilisation als das bewegende Prinzip aller Naturemanzipation begreifen durften: den Willen zur Freiheit. War diese dort als eine Befreiung von dem unmittelbaren Zwange der Naturkausalität gedeutet worden, hatte sich später der Mensch aus demselben Anlass auch von der Zivilisation und ihrer Bedingtheit losgewunden, so offenbart sich hier im theoretischen Verhalten eine neue Kundgebung des sehnsüchtigen Willens nach Freiheit: es ist diejenige der Unbewusstheit, welche in das Licht des erkennenden

Bewusstseins zu treten begehrt. Rückwärts schauend werden wir dieses Willens im ästhetischen Verhalten gewahr, uns auf die Gegenwart besinnend, drückt er seine letzte Absicht aus in der Bewusstwerdung des unbewussten Selbstes — in der Selbsterkenntnis des all-einen Wesens vom all-einen Wesen. Denn: „zuletzt ist alles eins, und das Erkennen dieser Einheit bildet Ziel und Grenze aller Philosophie und aller Naturbetrachtung“, wie Giordano Bruno sagt. Was du in den Dingen erkennst und findest, ist Dasselbe, was in dir diese Dinge erkennen will. Der letzte Zweck des Subjektes des Erkennens ist somit das Bewusstsein, genauer: das Selbstbewusstsein des weltimmanenten Selbstes, des Âtman *). Wenn die Wissenschaft ganz frühe davon ausgegangen ist, in den Objekten ihrer Erkenntnis das Wesen des Menschen instinktiv vorauszusetzen, wenn sich der Mensch zu Beginn seiner Geschichte die Dinge nur nahe zu bringen vermochte, indem er sich in die Dinge hineinsah, so lehrt ihn heute eine höchst entwickelte Wissenschaft die metaphysische Berechtigung dieses Vorganges. Eine Jahrhunderte hindurch sich entwickelnde Theorie der Erkenntnis hat dem Philosophen die Gewissheit gegeben, die schon Pythagoras in seiner Erkenntnislehre deutlich empfunden hatte: dass Alles, was an den Dingen erkannt werden könne, logisch, kategorial bestimmtes Sein wäre, dass mithin das Erkennen des Menschen ein Schauen des bewusstlosen Trägers der Kategorien in die Gesamtheit aller übrigen kategorialen Funktionen bedeute: eine Selbsterkenntnis im tiefsten metaphysischen Sinne, ein entzücktes Ansehen der nunmehr verstandenen Wesenseinheit: — „Das bist du“.


*) Diese unsere Behauptung ist nicht zu verwechseln mit irgend einer Art von intellektueller Anschauung. Das Selbst der Dinge, welches in das Bewusstsein des menschlichen Selbstes eingeht, ist eben damit Bewusstseinsinhalt eines Selbstes, aber nicht mehr reales Selbst.

Wenn wir noch einmal den vollendeten Weg des Willens zur Freiheit mit den Blicken verfolgen, so sind es drei Abschnitte, die wir unterscheiden können. Der Wille trat auf als Stachel des sich von der Natur befreienden Menschen, als die Ursache, dass der Mensch die Zivilisation überwand und zuletzt als Grund für das ästhetische und theoretische Verhalten. Wir sehen diesen Willen seinen Inhalt wechseln je nach dem Druck, unter welchem er zu leiden hat, aber wir können nicht umhin, in diesem zurückgelegten Weg schon den Anfang als bedingt durch den endlichen Zweck des Selbst-Bewusstseins bestimmt zu denken. Im menschlichen Intellekt habe sich der Wille eine Fackel angezündet, sagt Arthur Schopenhauer. Wir müssen hinzufügen, dass der metaphysische Wille dieses Ziel seiner Selbstbefreiung im Bewusstsein als zweckvolle Bestimmung von Anfang in sich trug und wir verstehen erst hiermit den Verlauf des irdischen Geschehens. Der menschliche Wille zur Erkenntnis ist jener selbe Erdgeist, der „als ein Maulwurf“ die Oberflächen dieses Planeten aufwühlte, schon lange ehe er zum menschlichen „Selbst“-Bewusstsein entwickelt war, er war schon vor allem Bewusstsein auf die Wege bedacht, die er einstmals zu gehen haben würde, und der Wille zur Wahrheit ist nur ein anderer und tieferer Ausdruck für den überall und zu allen Zeiten wirkenden Willen zur Freiheit.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Kultur