Dritte Fortsetzung

Ist selbstlose Güte die wichtigste Eigenschaft eines Armenpflegers, ohne die er kein richtiges Verhältnis zum Bedürftigen finden wird, so ist nicht minder Lebenserfahrung und wirtschaftliches Verständnis unentbehrlich. Er soll Erwachsene wirtschaftlich leiten und erziehen; so muss er vor allem andere Menschen verstehen, mit anderer Leute Kopf denken können und sich für sie im Wirtschaftsleben zurechtfinden können. Natürlich soll er selbst fest in den eigenen Schuhen stehen — von der Torheit, dass, wer selbst im Leben wirtschaftlich gescheitert ist, sonderlich zum Fürsorger für Bedürftige geeignet sei, werden auch die rückständigsten Vereine und Anstalten nach und nach abgekommen sein, — aber damit allein ist es noch nicht getan. Solange die Armenpflege von der älteren Meinung beherrscht war, jeder gesunde Mensch werde sich in der bestehenden Wirtschaftsordnung selbständig durchbringen können, wenn er nur ernstlich wolle, schien diese Voraussetzung auszureichen; freilich auch da war zum mindesten daneben eine sorgsame Kenntnis der wirtschaftlichen Zustände nötig, in denen die Armen leben — seien es ähnliche wie die des Pflegers oder, wie meistens, verschiedene — ein Verständnis für die vielerlei Rechtsansprüche des einzelnen, die immer undurchsichtiger zu werden scheinen, seien es familienrechtliche, vertragliche aus Arbeits- und Geschäftsverhältnissen oder öffentlich-rechtliche, so heute solche aus all den verschiedenen Versicherungsbeziehungen. Die eigentliche feinste Pflicht des Armenpflegers beginnt aber erst bei der Erwägung, ob und wie dieser besondere Mensch irgend an dieser oder einer anderen Stelle einen Platz in unserem Wirtschaftsleben finden könnte; denn von dieser Entscheidung geht die Fürsorge stets aus, um danach ihre Pläne zu fassen und bei ihrer Ausführung erst recht dieses Problem wieder und wieder lösen zu müssen. Liegt es klar, dass es sich nur um einfache Versorgung handelt, so genügt menschliches Mitgefühl und einige Lebenserfahrung, um in einer Anstalt oder außerhalb ihrer diese Versorgung durchzuführen, wenn nur die Kenntnis der Versorgungsmöglichkeiten vorhanden ist. Auf schwierigere Probleme muss sich der Pfleger einstellen, soll und kann der Arme zur wirtschaftlichen Selbständigkeit zurückgebracht werden, denn diese Fürsorge beschränkt sich nur in einem Teil der Fälle darauf, dass der Bedürftige durch persönliche Beeinflussung zu einer besseren Haushaltsführung gebracht oder in der alten wirtschaftlichen Umgebung und Lage gefestigt werden muss. Sehr oft gilt es, ihn in eine ganz andere — selbständige oder unselbständige — Bahn zu bringen oder ihm im Wirtschaftsleben einen neuen Platz, eine neue Umgebung zu suchen, wo seine Anlagen verwendbar sind, seine Schwächen und Unzulänglichkeiten ihm nicht mehr gefährlich werden. Denn mit der einfachen Umsetzung oder Übersiedlung ist meist noch nichts getan. Sandte man, um ein anschauliches Beispiel zu geben, früher manche solcher Art einfach übers Wasser nach Amerika mit mehr oder weniger Zehrung an Geld und guten Ratschlägen, so pflegt man heute, soweit man dasselbe Mittel etwa bei entlassenen Strafgefangenen anwendet, sie erst hier im Lande entsprechend vorzubilden und ihnen draußen, soweit es geht, einen gangbaren Weg zu zeigen.

Für all diese Art genügt noch eine wirtschaftliche Einsicht, die in die Schranken unseres Wirtschaftslebens eingeschlossen ist; darüber aber sollte das Verständnis des Pflegers stets hinausreichen, wenn es gilt, Unwirtschaftliche, die so doch keinen Platz im Leben finden, nicht nur zu versorgen, sondern auch ihre Kräfte zu verwerten. Nicht selten gilt es da Arbeitsformen und Betriebseinrichtungen zu finden, die aus dem Rahmen des herrschenden Wirtschaftssystems heraustreten. Der seltsame Kampf, den man im Namen der freien Konkurrenz — gegen so manche Anstalts- und Vereinsbetriebe — geführt hat, fand bei der Fürsorge meistens nicht die gebührende Zurückweisung, weil auch sie in jenen engen Grenzen ängstlich hängen blieb.


In allen Richtungen muss der Pfleger sich vor Augen halten, dass Beine Einwirkung nur Mittel zum Zweck ist; er wird daher seinen Schützling nur so weit führen und gängeln, als er dessen bedarf, aber ihn, soweit es irgend angeht, selbständig handeln lassen. Diese Rücksicht auf die Selbständigkeit des Armen, soweit eine solche noch da ist, diese Achtung vor der Persönlichkeit des Armen muss das Verhalten des Pflegers überall durchdringen.

Die Fürsorge will den Armen, soweit irgend möglich, wieder selbständig machen. Hilfe zur Selbsthilfe ist eine der ältesten Forderungen der Fürsorge. So muss man alles, was dieser Selbständigkeit dienen kann, am Armen sorgsam schonen und alles vermeiden, was ihn irgendwie herunterdrücken, unselbständiger machen könnte. Vor allem das Ehrgefühl des Armen, sein Wille zur Unabhängigkeit und Selbständigkeit muss, soviel nur irgend davon vorhanden ist, gestärkt werden. Die Erfüllung dieser Forderung begegnet einer ganz besonderen Schwierigkeit.

Der Arme ist wirtschaftlich unselbständig; er hat vielleicht schon lange mit dieser Unselbständigkeit vergeblich gerungen, ehe er zum ersten Mal mit der Fürsorge in Berührung kommt. Es fehlt ihm fast stets das richtige Urteil über seine Lage; gerade soweit er wieder selbständig werden kann, weiß er die richtigen Mittel und Wege dazu nicht. Damit hängt es eng zusammen, dass er seine Lage selbst unrichtig beurteilt; wird es jedem Menschen schwer, sich selbst richtig zu werten, so noch besonders dem, der vergeblich mit den Widrigkeiten des Wirtschaftslebens ringt. So wird der Armenpfleger zunächst sich ein unabhängiges Urteil über die Verhältnisse des Armen, über seine äußere Lage, wie über seine persönlichen Fähigkeiten bilden müssen. Dabei treten ihm nun außer jener unrichtigen Selbstbeurteilung zwei weitere Schwächen des Armen entgegen, die so weit verbreitet sind, weil sie in der eigenartigen Stellung des Armen zum Armenpfleger begründet sind. Der Arme tritt dem Pfleger als Bittender gegenüber; er will etwas von ihm erhalten. Dadurch entsteht in ihm ohne irgendwelche böse Absichten unwillkürlich ein Streben, sich in einem solchen Licht darzustellen, dass er seinen Wunsch erfüllt erhält. Die allgemeine Stimmung lässt sich wohl am ehesten veranschaulichen, wenn man dieses Verhältnis mit dem eines Stellensuchenden vergleicht. Auch dieser wird seine Fähigkeiten und seine ganze Lage möglichst so darzulegen versuchen, dass er die Stellung erlangt. Er braucht dabei noch gar keine Unwahrheiten zu sagen und wird doch manchmal ein falsches Bild von sich entstehen lassen, wird ungünstige Umstände, wenn es irgend geht, verschweigen, andere von der besseren Seite darstellen. Genau so ergeht es dem Armen; das Bild, das er dem Armenpfleger entwirft, wird durch jenes unrichtige eigene Urteil und durch dieses Bestreben, im günstigen Licht zu erscheinen, stark gefärbt. In sehr vielen Fällen wird daraus natürlich Unwahrheit, ja Lüge entstehen. Oft genug wird der Armenpfleger für Lüge halten, was allein aus jenen ersten Gründen ohne bewusste Fälschung sich erklären lässt, aber es geht ein Weg von da zur bewussten Unwahrheit. Eng damit verbunden ist das misstrauische Wesen so vieler Armen, besonders, wenn sie längere Zeit mit der Fürsorge zusammenkommen. Man muss diese Eigenschaften nicht stets mit dem schärfsten Maße messen, wird sie andererseits aber auch nicht beschönigen dürfen und besonders als schwierigen Umstand bei der Erziehung des Armen, zu der eine klare Einsicht in seine Lage bei ihm wie bei dem Pfleger in erster Linie gehört, werten müssen. Ihr Verständnis kann man kaum besser als durch einige Worte Roseggers herbeiführen: „Auf solche Weise werden die Leute ungut und ungeschickt; sie gewöhnen sich das überstürzte Reden an, denn auf eine geduldige Zuhörerschaft haben sie nicht au rechnen. Sie müssen mit kurzen Worten viel zu sagen trachten und reden sich bei der Aufregung manchmal in eine große Dummheit hinein. Entweder sie sind eingeschüchtert, sagen gar nichts und geben also eine Schuld zu, die sie gar nicht haben, oder sie schreien eine schauderhafte Beleidigung heraus, die dem Gegner erst recht das Heft in die Hand gibt. So nehmen sich die armen Leute wirklich zumeist ganz dumm aus und glauben es am Ende selbst, daß sie es sind und glauben — verzagt geworden — noch mehr.“

Diese eigentümliche Lage der Armen und ihre Wirkungen, die bei den wenigsten ausbleiben, erschweren dem Pfleger seine Aufgaben sehr. Er muss die Persönlichkeit des Armen, sein Ehrgefühl schonen, aber er muss auch über seine Verhältnisse ein klares Bild gewinnen, da er ihm den nötigen Rat, die Anleitung geben soll, die er selbst nicht hat. Das beides setzt voraus, dass er es versteht, vor allem das Vertrauen des Bedürftigen zu gewinnen, sich zu ihm in ein persönliches Verhältnis zu setzen, und dass er in weitem Maße vermag, sich in einen anderen, in dessen Seele wie in dessen äußere Verhältnisse hineinzuversetzen, dass er mit anderer Leute Köpfe denken kann. Der Armenpfleger soll der „treueste Freund und Berater des Armen sein; die Armen soll er kennen wie seine eigene Familie ihre Wohnungen, wie sein eigenes Heim“ (Hamburger Armenordnung). Dieses Eindringen in die Verhältnisse des Armen ist nur möglich, wenn der Arme selbst unbedingtes Vertrauen zu dem Pfleger haben darf. Dieses Vertrauen setzt bei dem Pfleger voraus, dass er alles, was er von dem Armen und über den Armen erfährt, als sein Amtsgeheimnis ansehe. Nicht selten liegen der unwirtschaftlichen Lage Handlungen des Armen zugrunde, die vor dem Richter nicht bestehen können, oder solche Handlungen sind durch die unglückliche Lage des Armen veranlasst. In sehr vielen Fällen muss der Arme auch darüber dem Pfleger Mitteilung machen, oder die Umstände bringen es mit sich, dass der Pfleger auf Aufklärung solcher Dinge dringen muss. Er erfährt sie nur zum Zweck der Fürsorge und darf sie nur dazu verwerten. Dazu gehört nicht nur, dass er sie nicht weitererzähle, sondern auch, dass er sie dann für sich bewahre, wenn z. B. die Polizei, der Richter darin eindringen wollen. Für die Pflicht der Verschwiegenheit hat freilich rechtlich der Pfleger eine ungünstige Stellung; hat er bei der Pflegetätigkeit z. B. von einem Verbrechen seines Schützlings erfahren, so kann immerhin der Richter einmal ihn darüber vernehmen wollen. Selbstverständlich würde er das Vertrauen seines Armen missbrauchen, wenn er über solche Mitteilungen aussagen wollte; andererseits schützt ihn das Gesetz nicht. Er würde also wegen Zeugnisverweigerung bestraft werden und müsste diese Strafe sicherlich ruhig hinnehmen, falls nicht ganz besondere Gründe ihn zum Reden zwingen. Er hat dasselbe Verhältnis zum Armen, wie der Seelsorger zu seinem Beichtkind, der Arzt zum Kranken, der Rechtsanwalt zum Klienten. Ob es sich um religiöse, um gesundheitliche, um rechtliche Beratung und Förderung handelt, oder um wirtschaftliche Erziehung, das persönliche Verhältnis bleibt dasselbe. Zweifellos müsste im Gesetz dem Armenpfleger, dem öffentlichen wie dem eines Vereins, dieselbe Stellung wie jenen zugesprochen werden; er müsste das Recht der Zeugnisverweigerung für im Beruf ihm anvertraute Dinge im selben Umfang wie jene haben, wo es natürlich nur gilt, wenn nicht höhere Interessen die Mitteilung erheischen. Dass eine solche Bestimmung fehlt, liegt teils daran, dass solche Fragen selten zur Entscheidung kommen — das ist auch bei den anderen der Fall — , teils aber auch daran, dass die Allgemeinheit die Stellung des Armenpflegers wie die Notwendigkeit jenes unbedingten Vertrauens zwischen Pfleger und Armen bisher nur ungenügend eingesehen hat. Erst wenn dies allgemein erkannt und anerkannt ist, wird die Armenpflege den ihr zukommenden Platz im gesellschaftlichen Gewese einnehmen; darin findet dann auch das Verhältnis des Pflegers zum Armen seine endgültige Gestaltung.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Fürsorgetätigkeit.