Vierte Fortsetzung

Das Mittelalter legte den Beweggrund der Fürsorge in den Armenpfleger selbst: Erfüllung religiöser Pflichten war die Fürsorge. So war der Arme ihr unentbehrlich als der, dem gegeben wird. Selbst das Betteln, das Almosenempfangen wird zu einem Beruf, wo der Arme dem Spender ebenso viel schenkt, als der ihm. Darin wird dann jener Zwiespalt der Abhängigkeit des Armen sittlich gelöst in einer Form, die dem wirtschaftlichen wie dem geistigen Aufbau des Mittelalters durchaus entspricht, auf die herabzusehen wir nicht den geringsten Anlass haben.

Jenen Aufbau der Fürsorge auf dem religiösen Verhältnis des Gebers zu Gott, der eine fast unpersönliche „konventionelle“ Haltung des Armenpflegers zum Armen ermöglicht, löst die Neuzeit ganz auf. Stückweise treten andere Erwägungen an die Stelle, ohne grundsätzlich anderes, ihrer Art entsprechendes an die Stelle zu setzen, bis dann einem Malthus jenes Abhängigkeitsverhältnis als durchaus unsittlich und gemeinschädlich erschien; da er es nicht anders zu begründen und zu gestalten wusste, musste er so zu einer völligen Ablehnung der Fürsorge kommen, die man nur der menschlichen Schwäche, dem gefährlichen Triebe des Mitleids unter sorgsamer Beschränkung in etwas nachsehen könne. Dieses Mitleid als Trieb der Fürsorge statt fest umrissener Formen, wie sie das Mittelalter hatte, ist die unterste Stufe, der Tiefpunkt der Entwicklung. So wird Fürsorge zu einem Heilmittel der Ärzte, die „soziale Betätigung“ haltlosen, unglücklichen, schwachen Naturen verordnen, womit der Arme wieder in ein unpersönliches sachliches Verhältnis zur Fürsorge gerät, aber ohne jenen sicheren Halt, den ihm alte Zeiten boten; so wird Fürsorge zu einer interessanten, befriedigenden, edlen Tätigkeit, der wieder der Geber und sein Wohl in erster Linie steht, der zur Verwirklichung seines Mitleids, seines „sozialen“ Geistes zum Armen herabsteigt.


Die neueren Gedanken wachsen dann eben in dem, was schon im Mittelalter die Kirche in der Leitung der Fürsorge ablöst, in einer gesellschaftlichen Form der Fürsorge und in erster Linie in der öffentlichen Armenpflege. Als Organ der Gesellschaft zur Erfüllung ihrer Pflichten berufen erscheint jetzt der Armenpfleger und die Aufgabe der Fürsorge fest umrissen durch ihre wirtschaftlichen Ziele. Die Persönlichkeit, die Selbständigkeit des Armen wird durch seine Beziehungen zum Armenpfleger nur soweit berührt, als jene wirtschaftliche Erziehung, Versorgung, Verwertung es erfordert; ja diese wirtschaftliche Fürsorge soll ihm eben aus den falschen Bindungen wirtschaftlicher Art, die aus der Armut erwachsen, freimachen und so seinem persönlichen Leben die Unabhängigkeit sichern, die der Bettler des Mittelalters in seinem „Beruf“ gewährleistet fand.

Aber während das Mittelalter in der Konvention einer gemeinsamen Weltanschauung diese unbefangen den Armen auferlegte und so das tiefe Problem seines persönlichen Lebens gar nicht empfand, ermöglicht unsere Zeit, die mehr und mehr die Überzeugung des Menschen auf jedem Gebiet achten gelernt hat, durch jene wirtschaftliche Begrenzung und Zielsetzung der Fürsorge ohne Achtung vor seiner Persönlichkeit, eine Schonung seiner Überzeugungen und Gefühle, ohne die wirtschaftlich nötige Beeinflussung und Leitung zu hindern. Und der Armenpfleger, einst gehalten durch seine religiöse Verpflichtung nach oben, dann unsicher tastend hin und hergezerrt von den Gefühlen des Mitleids, findet von neuem eine sichere Stellung in der gesellschaftlichen Aufgabe, die er zu erfüllen hat. Galt einst sein Werk Gott, nicht dem Armen, suchte er dann fälschlich Dank und Anerkennung beim Armen, auf dessen Schwäche sein Mitgefühl sich einstellte, so gewinnt er ein sicheres Verhältnis zum Armen, gleich fern von Weichlichkeit und Härte, von Leichtgläubigkeit und Gewissenszwang, da er nicht persönliche, sondern gesellschaftliche Pflichten gegen die Armen zu erfüllen hat. Da alle Armenpflege, die öffentliche wie die Vereinsfürsorge, ein Stück gesellschaftlichen Auftrages ist, so gilt die Abhängigkeit des Bedürftigen nicht der Person des Pflegers, sondern eben diesem Amt.

In solcher tieferen Auffassung des Wesens der Fürsorge finden wir auch die einzige Begründung dafür, den Unterstützten der gesetzlichen Armenpflege das öffentliche Wahlrecht zu belassen. Es ist richtig, dass gerade in demokratischen Ländern wie den Vereinigten Staaten die Befürchtung sehr lebhaft ist, dass in der Regel die regierenden Parteien die Armenunterstützung zu irgendeiner Art Stimmenkauf benutzen würden. Wie man dort deshalb eine behördliche Hausarmenpflege nicht einzuführen wagt, so sollte man bei uns zu anderem Schluss kommen: Das Wahlrecht dem Unterstützten nehmen, beweist Misstrauen gegen den Armen und gegen die Armenpflege; aus Achtung vor beiden sollte man sich dessen enthalten und dem Unterstützten ruhig seine bürgerlichen Rechte alle lassen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Fürsorgetätigkeit.