Zweite Fortsetzung

Was für die religiöse Umbiegung der Fürsorge gilt, das gilt auch für jene anderen Nebenzwecke. All das widerstrebt dem Wesen der Fürsorge. Aus der Einstellung auf dies eine Ziel der Armenpflege ergibt sich die wichtigste Forderung an die Persönlichkeit des Armenpflegers; er soll eine selbstlose, wahrhaft menschliche Güte besitzen, die jene wirtschaftliche Unfreiheit des Armen beheben will, ohne ihn für diese oder jene Gesinnung gewinnen zu wollen, nur um in der wirtschaftlichen Hilfe ihm die Grundlage zu freier Gestaltung persönlichen Lebens zu schaffen. Wie sich dies gestaltet zu bestimmen, ist nicht Aufgabe des Armenpflegers.

Von größtem Gewicht ist solche klare Einstellung der Fürsorge bei all den Versuchen, die sich mit einer Verwertung der Kräfte der Unwirtschaftlichen befassen. Die Aufgabe erhält ihr besonderes Gesicht wie alle Fürsorgeformen durch die Unselbständigkeit der Bedürftigen, die aber trotzdem selber zum Teil, manche gänzlich aus eigenen Arbeitsleistungen den Unterhalt zu gewinnen vermögen. Die allgemeine Entwicklung geht dahin, alle, die das können, frei und unabhängig auf eigene Füße zu stellen; das ist bei jenen nicht möglich; um sie überhaupt zur Verwertung ihrer Kräfte zu führen, muss die Fürsorge sie abhängig machen mehr und in anderen Formen als dies im Leben sonst erlaubt ist. So z. B. wird sie in vielen Fällen gezwungen sein, Verfahren anzuwenden, die im Leben sonst geradezu verpönt sind. Sehr oft wird sie ihren Schützlingen statt eines Entgelts in bar Sachleistungen, ja völlige Versorgung gewähren, was vielfach äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Einrichtungen wie dem verrufenen Trucksystem haben kann. Allein dieses diente nicht dem Schutze, sondern der Ausnutzung der Arbeitenden, erfasst aber manchmal genau dieselben Kreise wie die Fürsorge. — Die barmherzige Spinnanstalt, die vielfältige Verwendung der Heimarbeit in der Fürsorge liefern in der Vergangenheit und Gegenwart zahlreiche Beispiele. — Wo eigener Vorteil und Entgelt nach Angebot und Nachfrage die Wirtschaft regeln, wird sich ein Unternehmer mit der lästigen Verwertung solcher Kräfte nur abgeben, wenn ein ganz besonderer Gewinn zu machen ist, der fast stets hierbei auf Kosten der Arbeitenden gehen wird, die in dem einen oder anderen Sinne übervorteilt werden. Bei einem Fürsorgebetrieb wird dieser Vorwurf wegfallen, da kein übermäßiger Gewinn beabsichtigt ist, aber einer hohen Entlohnung der Versorgten wird der Grundsatz der sparsamen Verwaltung wie die Notwendigkeit starker Rücklagen für die größeren Risiken der Unternehmung entgegenstehen. Ein Ausgleich wird in der Verwendung der Erträge zum Nutzen des Ganzen und aller Beteiligten zu finden sein. Sorgsamst aber wird jeder Anschein zu meiden sein, als solle über den wirtschaftlichen Zweck hinaus der Schutzbedürftige beeinflusst werden. Seine Persönlichkeit darf in keiner Weise eingeschränkt werden, die nicht durch jenen Zweck unmittelbar erfordert wird. Dazu muss als erste sittliche Aufgabe der Fürsorge erkannt werden, Unwirtschaftliche wirtschaftlich zu versorgen und zu verwerten, um sie all dem sittlich schädlichen Einfluss wirtschaftlicher Abhängigkeit zu entziehen.


So klar diese Grenzen sind, so gewiss unsere Zeit es nicht mehr erträgt, ein wirtschaftliches Übergewicht als Druck auf die Gesinnung eines anderen auszunutzen, so bleibt doch in der Fürsorge eine weitere sonderliche Schwierigkeit der Scheidung dieser Beziehungen bestehen.

Die wirtschaftliche Unselbständigkeit des Armen ist durch das Zusammenwirken äußerer und innerer Ursachen hervorgerufen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen werden beide sich in jedem Fall nachweisen lassen. Gerade der Krieg, der scheinbar als rein äußerlicher Eingriff so viele Familien hilfsbedürftig machte, lässt bei eingehender Fürsorge sofort erkennen, dass die persönlichen wirtschaftlichen Anlagen der einzelnen Familien von größter Bedeutung sowohl für die Art ihrer Unselbständigkeit wie für die Gestaltung der Fürsorge sind. Persönliche Mängel irgendwelcher Art, ob rein wirtschaftlicher Natur, ob zugleich in Fehlern des Charakters, Willensschwäche, Trägheit und anderen begründet, finden sich so ziemlich bei jedem Armen, wobei immer wieder festzuhalten ist, dass die Frage der Schuld damit gar nichts zu tun hat. Der Versuch, den Menschen wieder richtig einzustellen, setzt oft eine Änderung seines Charakters und mancher seiner Anschauungen und Empfindungen voraus. Die Unfähigkeit, sich wirtschaftlich zum Leben zu stellen, beruht manchmal auf einer Unfähigkeit, sich überhaupt richtig zum Leben zu stellen. Die wirtschaftliche Erziehung wird deshalb gar oft eine weitergehende Einwirkung auf den Bedürftigen notwendig machen, sie wird nicht selten erleichtert, wenn es gelingt, seine seelische Stimmung zu heben, eine starke feste Lebensauffassung in ihm zu wecken. In diesem Zusammenhange kann auch der religiöse Einfluss zu einer Vorarbeit der Fürsorge werden: sie schafft dann eine Unterlage, auf der die wirtschaftliche Erziehung weiter bauen kann. Diese Beziehungen können sich sehr verschieden gestalten; die religiöse Einwirkung braucht weder eine bestimmte noch überhaupt eine wirtschaftliche Erziehung im Gefolge zu haben; sie lässt den bedürftigen Glaubensgenossen in seiner Unselbständigkeit, wie bestimmte Formen fast jeder Religion sich gleichgültig gegen das politische und wirtschaftliche Leben zu stellen pflegen. In anderen Fällen kann aber eine so enge Verbindung eintreten, dass die religiöse Form zum ordnenden Grundsatz der wirtschaftlichen Hilfe wird. Diese Fälle sind nicht gerade häufig; doch sind eben diese Verknüpfungen kaum gründlich erforscht. Wenn die Heilsarmee mit ihrer besonderen religiösen Beeinflussung bestimmte Fürsorgeformen eng verknüpft, so liegt das bereits in der Richtung, dass hier Unwirtschaftliche, die kaum auf andere Weise zu packen wären, auch wirtschaftlich mittels jenes religiösen Einflusses erzogen werden. Wenn die Mormonen mit ihrer religiösen Werbearbeit Tausende aus dem gewöhnlichen Leben in einen mit religiösem Einschlage anders als das Wirtschaftsleben draußen gestalteten Wirtschaftsbetrieb hineinziehen und dort in erfolgreichster Weise wirken lassen, so werden dabei sehr viele Unwirtschaftliche, die draußen nicht selbständig vorankamen, ihren richtigen Platz finden. Allein solche besonderen Erscheinungen bilden, soweit es sich bisher erkennen lässt, nur Ausnahmen. Im Grunde handelt es sich dabei um zwei verschiedene Dinge: um Fürsorge einerseits, um Weltanschauungsarbeit anderseits. Die Frage, wie die Fürsorge in dieser Vorbindung zu beurteilen sei, hängt ganz genau von denselben Erwägungen ab, als wo es sich um reine Fürsorge ohne solche Verwicklung handelt. Ist diese Fürsorge wirklich gut als wirtschaftliche Erziehung, Versorgung und Verwertung, vermeidet sie die Gefahr, Gesinnung durch äußere Mittel zu erzeugen, so lässt sich nichts gegen sie einwenden. Jene Vorbindung sichert ihr einen besseren Erfolg bei jenen, die solcher Weltanschauung nahestehen oder sie unbedingt gebrauchen; freilich wird sie sich dadurch auch den Weg zu vielen anderen verschließen, die diese Weltanschauung nicht annehmen können. Allein genauso wie es falsch ist, die Fürsorge um dieser religiösen Beimischung willen ohne weiteres für gut zu erklären, so ist es falsch, eine andere Fürsorge, bloß weil sie frei davon ist, z. B. religionslos, für gut zu erklären, ohne sie auf ihren inneren Wert zu prüfen. So sicher, wie jene Weltanschauungsarbeit als Vorarbeit wirtschaftlicher Erziehung gute Dienste leistet, wenn sie dem Charakter des Armen entspricht, so hinderlich ist es, wenn die Verfechtung einer Weitanschauung sich der Fürsorge als Hilfsmittel bedient oder eine Hilfe für bestimmte Bedürftige ablehnt, die ihren Anschauungen nicht huldigen. Liegt hier der Fehler in dem Versuch, einen einzelnen Armen durch die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Fürsorge aus in seiner Weltanschauung zu beeinflussen, so liegt ein ebenso großer Missstand darin, wenn man ganze Fürsorgegebiete nicht von dem Gesichtspunkte der Not und ihrer dringenden Abhilfe, sondern von der Verbreitung bestimmter Anschauungen betrachtet, wie die Betrachtung der Trunksucht wesentlich als Schuld lange eine ernsthafte Trinkerfürsorge gehemmt hat, weil man die Trunkenbolde durch die Fürsorge zu belohnen fürchtete, oder wenn die Fürsorge für uneheliche Kinder von vielen als Mittel zur Bekämpfung gewisser Anschauungen behandelt wurde, wobei natürlich nichts herauskommt als der Untergang vieler Hilfloser.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wesen der Fürsorgetätigkeit.