Das Wesen der Fürsorgetätigkeit.

Aus: Zeitschrift für das Armenwesen
Autor: Von Chr. J. Klumker*)., Erscheinungsjahr: 1900

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Fürsorge, Arme, Armenunterstützung, Bedürftige, Armenpfleger, Religion, Pflichten, Mittelalter, Konventionen, Persönlichkeit, Überzeugungen, Gefühle, Bettler, Mitleid,
*) Diese Darlegungen bilden einen Teil einer Arbeit, die unter dem Titel „Fürsorgewesen, Einführung in das Verständnis der Armut und der Armenpflege“ im Verlage von Quelle und Meyer in Leipzig erscheint

Fürsorge ist Erziehung Unwirtschaftlicher, Versorgung Unwirtschaftlicher, Verwertung Unwirtschaftlicher. Ihr Ziel ist rein wirtschaftlich bestimmt; darin liegt ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit, darin auch ihre sichere Umgrenzung.

So alt in einzelnen Richtungen diese Auffassung ist — man denke an die Pflicht der Gastfreundschaft gegen Fremde, gegen Feinde, oder in späteren Zeiten an die christliche Forderung der Feindesliebe — so schwer nur ist sie zu allgemeiner Anerkennung gelangt; noch wird im letzten Grunde die Entwicklung der Armenpflege in der Neuzeit durch die klarere Einstellung auf jenes Ziel bestimmt.
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Solange die mittelalterliche Armenpflege unter kirchlicher Leitung stand, war ihre Aufgabe nicht unzutreffend mit dem Satze zu bezeichnen: sie solle durch zeitliche irdische Hilfe unsterbliche Seelen zu Gott führen. Ihr Ziel war außer ihr in der Religion, der Seelsorge gegeben; von ihr war sie nach Wesen und Arbeitsform naturgemäß abhängig. Als dann die Leitung der Armenpflege an Laiengewalten überging, da blieb doch die Seelsorge, die religiöse Versorgung eine Begleiterscheinung der wirtschaftlichen Versorgung. Selten, meist nur in der Berührung mit nicht christlicher Kultur tritt hier schon die Hilfe selbst ohne den Haupt- oder Nebenzweck die Weltanschauung der Unterstützten zu beeinflussen als Ziel der Fürsorge hervor. Am Übergang zur Neuzeit zeigt sich diese Scheidung der Begriffe dann bei den Vorkämpfern weltlicher Armenpflege, so bei einem Vives deutlicher. Die große Bedeutung, die den religiösen Beweggründen als Antrieb zur Fürsorge zukommt, führt immer wieder zur Einmengung solcher Nebenzwecke in die Armenpflege, ja oft genug wieder zu ihrer Unterordnung unter jene. Erst die gewaltige Blüte der Fürsorge im Zeitalter der Aufklärung schafft eine allgemeinere dauernde Empfindung des hohen sittlichen Wertes, den eine scharfe Einstellung auf das wirtschaftliche Ziel für alle Armenpflege hat. Erst von da aus entsteht wieder ein stärkeres Bemühen um einheitliche Gestaltung und Zusammenfassung dieser Fürsorge, die nur dann Erfolg haben kann, wenn man in ihr klare, einheitliche Aufgaben aller Volksgenossen jeder Richtung erkennt.

Allein auch jener Ruck voran, den die Aufklärungszeit gab, gerät ins Stocken. Die klassische Nationalökonomie lehrt die Armut als Schuld des Armen ansehen, und die Armenpflege erhält dadurch neben der religiösen Ablenkung eine andere falsche Richtung, die vor die wirtschaftliche Erziehung die moralische Besserung des Armen setzt. So gut es Arme gibt, die durch eine religiöse Einstellung einen neuen Halt finden, der auch ihrem wirtschaftlichen Leben zugutekommt, so kann selbstverständlich eine Änderung des sittlichen Gehabens auch außerhalb der wirtschaftlichen Beziehungen zu deren Ordnung oft beitragen. — Aber beides ist nicht Sache der Fürsorge, der Armenpflege, und was der Armenpfleger in dieser Richtung selbst unternimmt, statt den Armen dafür an andere zu weisen, ist außerhalb seiner pflegerischen Arbeit und darf mit ihr nicht vermengt werden. Gegen die Gleichstellung von Wirtschaftlichkeit und Sittlichkeit, die unter dem liegt, kämpfte schon ein Carlyle, ein Dickens, ein Ruskin — um aus dem Stammlande solcher Meinungen einige bekannte Beispiele zu nennen; wir leben noch heute in ihren Nachwirkungen.

Trotz ihrer ringt sich bei uns jene Neuordnung der Armenpflege durch, die wir als Elberfelder System in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durchlebten. Sie hat die alte religiöse Beimischung in der öffentlichen Armenpflege überwunden, während diese in der neu entstandenen Vereinsfürsorge noch lange bleibt; sie gewinnt jener moralisierenden Umbiegung der Armenpflege gegenüber ebensowenig eine feste Stellung wie diese. Aber mehr wird ihr Gedeihen gehemmt durch eine weitere ähnliche Ablenkung vom Ziel der Fürsorge, durch das Eindringen politischer Erwägungen. Indem die Armenpflege der Gemeinde von der ganzen Bürgerschaft durchgeführt wird, scheint eine Zusammenfassung aller im Geben und Pflegen gesichert zu sein. Allein das Wort „Bürgerlich“, so sehr es gerade in der Fürsorge eine Zeitlang glückte, alle Bevölkerungskreise unter seiner Flagge zusammenzufassen, gewann mehr und mehr die Bedeutung eines Parteinamens. Eine dauernde Vereinigung aller freien und gesetzlichen Fürsorge in dieser bürgerlichen Armenpflege misslingt zum Teil wegen des Misstrauens gegen diese Entwicklung. Wenn gegen Ende des Jahrhunderts die Zersplitterung der Fürsorgearbeit von neuem stark zunimmt, so trifft das nicht bloß zeitlich mit jener Ausbildung eines Parteibegriffs „Bürgerlich“ zusammen. Der Gegensatz z. B. gegen die Sozialdemokratie, der dieser Armenpflege lange anklebte, erschwerte auch den Eintritt der Arbeiterschaft in die Kreise der öffentlichen Armenpfleger; erst die Umwandlungen, die zum Straßburger System führen, brachen darin eine neue Bahn.

Noch aber sind alle jene Vermischungen der wesentlichen Aufgaben der Fürsorge mit religiösen, moralischen, politischen Nebenzwecken keineswegs überwunden. In der klaren Herausarbeitung des Wesentlichen, in der Einstellung der Arbeit darauf liegt indessen allein die Möglichkeit aus dem herrschenden Wirrwarr der Auffassungen, aus dem Durcheinander und Gegeneinander der praktischen Arbeit herauszugelangen. Mit dem Wunsche nach begrifflicher Klarheit führen so dringliche Bedürfnisse des Lebens dazu, diese Fragen sonderlich zu betonen. Mehr als in Theorie, Geschichte und Rechtsfragen der Armenpflege zeigt sich ihre Bedeutung in der eigentlichen Fürsorgetätigkeit, vor allem in dem persönlichen Verhältnis des Armenpflegers zum Armen.

Die Unwirtschaftlichkeit ist das Kennzeichen jedes Armen. Sie zu beheben, bedarf es fast stets neben der Unterstützung noch eines weiteren Einflusses auf den Unterstützten. Einerlei ob es möglich ist, ihn zur wirtschaftlichen Selbständigkeit zurückzuführen oder ob er bloß dauernd zu versorgen ist, oder noch seine Kräfte wirtschaftlicher Verwertung zugeführt werden müssen, stets bedarf es der richtigen Einstellung des Armen für dieses Ziel, stets mehr oder minder seiner wirtschaftlichen Erziehung. Alle Erziehung fordert persönlichen Einfluss von Mensch zu Mensch. Diese Beeinflussung des Hilfsbedürftigen bildet einen wesentlichen Teil jeder Fürsorge. Dies persönliche Verhältnis des Helfenden zum Bedürftigen, des Armenpflegers zum Armen erscheint als Kern der Armenpflege. Dies Verhältnis baut sich auf einer Tatsache auf, die oft die schärfsten Angriffe auf die Fürsorge veranlasste, auf einer Unselbständigkeit des Hilfsbedürftigen. Aus ihr folgt, dass stets der Arme vom Armenpfleger in gewissem Maße abhängig ist. In solcher Abhängigkeit, in einer Art Herrschaft über den Armen, die daraus für den Armenpfleger entspringt, sah ein Malthus einen Hauptgrund, alle behördliche Armenpflege zu verwerfen, die private möglichst einzuschränken. Das persönliche Verhältnis zwischen Pfleger und Pflegling muss zunächst unter diesem Gesichtswinkel betrachtet werden: Muss der Arme so abhängig sein? Wie weit geht diese Abhängigkeit und wie kann mit ihr jene Achtung vor der Persönlichkeit des Armen verbunden sein, ohne die wahrhaft menschliche Beziehungen zum Pfleger nicht bestehen können?

Fortsetzung

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