Vierte Fortsetzung

Man erinnere sich, dass das große Gebiet, von dem wir sprechen, gegenwärtig in nordsüdlicher Richtung nur von sechs, überdies vorwiegend eingeleisigen Eisenbahnlinien mit denkbar schlechter Zugverbindung durchzogen ist und dass neue Projekte stets auf die größten Schwierigkeiten bei der Regierung stießen. Die natürlichen Verbindungswege, die auf das Meer und nach Süden weisen, sind nicht ausgebaut, die Stromschnellen, des Dnjepr nicht überwunden, die Häfen mit Einschluss von Odessa und Nikolajew in schlechtem Zustand. Die Rückständigkeit der Ukraine in verkehrstechnischer Beziehung ist eine absichtliche, die Wege ihres Handels sind unnatürlich wie die Tatsache der Unkultur des Gros der Bevölkerung.

Die offensichtlich gewollte Vernachlässigung der Ukraine zugunsten Moskowiens darf man umso mehr auf die zentralistische Tendenz des moskowitisch-russischen Staatsgedankens zurückführen, wenn man weiß, was alles geschehen ist, um das Moskauer Becken in Handel und Industrie auszugestalten, wie auch die Kultivierung Turkestans in erster Linie auf das Moskauer Bedürfnis zugeschnitten ist; wenn man schließlich ins Auge fasst, was aus der Ukraine hätte werden können, wenn man sich der Wirtschaftsenergien der deutschen Kolonisten sowie jüdischen und griechischen Industriellen bedient hätte, die die Ukraine hervorgebracht hat.


Noch deutlicher tritt die Absicht der russischen Regierung, die Ukraine dem Moskowitertum zu unterjochen, in der Behandlung der Bevölkerung selbst und in der Unterdrückung ihrer kulturellen Bedürfnisse zutage.

Der Moskowiterstaat in seiner Retrograder Verzerrung mutet an wie ein Wucherer, der selbst keine neuen Werte hervorbringt und mit fremdem Gelde alle jene ausbeutet, die in seinen Wirkungsbereich kommen. Französisches und belgisches Gold (früher waren es Hofämter und hohe Stellen in der Armee) macht es den Herren in Petersburg möglich, die Grenzländer (dazu gehört in diesem Zusammenhang ebensowohl die Ukraine wie Polen und das Baltikum) an sich zu fesseln, wie die Fäden der Kreuzspinne deren Opfer festhalten. Französische und belgische Aufsichtsräte, die in Lüttich, Brüssel und Paris ein angenehmes Leben führen, teilen sich mit dem Petrograder Fiskus in die Gewinne, die die Gruben und Hütten, Zuckerraffinerien, Eisenbahnen und Elevatoren abwerfen. An die Hebung des ukrainischen Volkes zu denken ist gewiss nicht Aufgabe jener fränkischen Bankiers, der russische Staat aber gibt nichts dafür ah, weil seine Machthaber, die Emporkömmlinge aus dem Beamtenadel die die einheimischen Führer verdrängt haben, nur ihren eigenen Interessen leben, nicht aber dem so dreist mit dem altslawischen Kamen verbrämten Ideal.

Das reiche Land der Ukraine ernährt mit seinem Getreide und seiner Industrie den ganzen russischen Staat und eine ganze Reihe französischer und belgischer Geldleute dazu. Das ukrainische Volk, das doch zur Nutzbarmachung aller dieser Reichtümer sein ganzes Können einsetzt, muss an Leib und Seele darben.

Ich habe weder in der sehr umfangreichen ukrainischen, polnischen und russischen Literatur zur ukrainischen Frage noch auch in der sozialdemokratischen einen Hinweis darauf gefunden, aus dem gefolgert werden könnte, dass sich die Führer der ukrainischen Bewegung dessen bewusst geworden sind, welche Bedeutung die Entwicklung von Industrie und Technik in Südrussland für das nationale Problem gewonnen hat*).

*) In der ukrainischen Literatur wurde dieses Problem erörtert. Es sei hier die Broschüre von M. Porsch („Von der Autonomie der Ukraine“, Kijew 1908) und das Buch von M. S t a s j u k („Die Autonomie und die Entwicklung der produktiven Kräfte in der Ukraine“, Petersburg 1908) erwähnt sowie eine Reihe von Artikeln (hauptsächlich aus der Feder der letztgenannten Autoren) in den „Berichten der Ukrainischen Wissenschaftlichen Gesellschaft in Kijew“ und in anderen ukrainischen Journalen. Anm. der Herausgeber.

Die Sozialisten aller Schattierungen und durch sie die unter ihrem Einfluss stehenden ukrainischen Nationalisten in den Städten sehen in der industriellen Entwicklung zunächst lediglich eine Äußerung der Wirksamkeit des Kapitalismus, deren drückende Seiten sie einseitig ohne Berücksichtigung des nationalen Moments bekämpfen. Im Übrigen ist die wirtschaftliche Seite der ukrainischen Frage fast ausschließlich agrarisch orientiert, was ohne weiteres einen starken Gegensatz gegen die Polen zur Folge hat. Diesen Gegensatz aber suchte die russische Regierung in Wolhynien, Podolien und Kijew, in Ostgalizien und Ungarn durch die Agenten des heiligen Synod und des Allrussischen Verbandes zu vertiefen.

Durch das Zusammenfallen der sozialistischen und moskowitischen Propaganda sowie durch die starke wirtschaftliche Beschäftigung, die die Bewohner der Ukraine bei unzureichender Entwicklung der Volksschule in den letzten fünfundzwanzig Jahren gefunden haben, ist erreicht worden, dass in Russland die nationale Seite der ukrainischen Frage zu derselben Zeit hinter der sozialen zurücktreten konnte, als in Galizien gerade die nationale im Vordergrund stand. Die Agrarunruhen von 1902 und 1903 sowie auch die revolutionären Ausschreitungen des Jahres 1905/06 entbehren der nationalen Unterlage auch dort, wo sie sich gegen polnische und russische Großgrundbesitzer richteten; erst die Gegenrevolution von 1906/07 ließ das nationale Element in den Vordergrund treten, jedoch im Dienste des Moskowitertums. So widersinnig es klingen mag: die großrussische Propaganda des „Allrussischen Verbandes“, die sich der kleinrussischen Sprache und der Sozialrevolutionären Methoden für enge Parteizwecke bedienen musste, um überhaupt an die ukrainische Bevölkerung heranzukommen, hat besonders in den drei Gouvernements Wolhynien, Podolien und Kijew so etwas wie ein „ukrainisches“ Nationalbewusstsein bei den Bauern geweckt*).

*) Demgegenüber müssen wir feststellen, dass der nationalpolitische Charakter der ukrainischen Bewegung, wenigstens vom Jahre 1900, immer deutlicher in den Vordergrund tritt. Die obenerwähnten Agrarunruhen von 1902 und 1903 sowie der hervorragende Anteil der Ukrainer an der Revolution wurden von der „Ukrainischen Revolutionären Partei“ (R. U. P.) geleitet, welche in ihrer ersten Publikation (LOGO) „Die unabhängige Ukraine“ („Ssamostijna Ukraina“) ein direkt separatistisches Programm aufstellte. Dass seit der Zeit der Revolution die ukrainische Bewegung zu einer nationalen Massenbewegung wurde und dass dies nicht bloß eine unwillkürliche Folge der Propaganda des „Allrussischen Verbandes“, sondern eine unvermeidliche Folge des natürlichen Aufschwunges des ukrainischen nationalen Lebens war, beweisen solche charakteristische Erscheinungen, wie zum Beispiel das Bestehen und Wirken einer Reihe politischer Organisationen und Parteien, starke Vertretungen in der ersten und zweiten Reichsduma, politische Presse, kulturelle Organisationen (unter anderen die stark verbreiteten und in der letzten Zeit besonders heftig verfolgten Bildungsvereine „Proswita“), die rege Bewegung für die ukrainischen Volksschulen, die starke genossenschaftliche Organisation und dergleichen mehr. Die vom Verfasser erwähnte Propaganda des „Allrussischen Verbandes“ am rechten Ufer des Dniepr erschien nur als ein Antidotum gegen die viel früher eingeleitete ukrainische Bewegung, die hier zuerst das nationale Bewusstsein der Bevölkerung aufweckte und sogar zur Ukrainisierung öffentlicher Institutionen, wie zum Beispiel zur Einführung der ukrainischen Vortragssprache im theologischen Seminar und im Gymnasium in Kamenetz podilskyj führte. Anm. der Herausg.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Problem der Ukraine