Dritte Fortsetzung

Die Gründe für beide Tatsachen seien beleuchtet.

Zunächst die Bodengestaltung: die südrussische Steppe ist ein Hochplateau mit steil zum Meer abfallenden Bändern. Die Flüsse, die zum Schwarzen Meer streben, mussten sich durch dies Plateau durchnagen und haben tiefe Täler gegraben. Sie geben das Niveau des Grundwasserstandes an, der somit für die Ebene selbst so tief liegt, dass das Gebiet ohne künstliche Bewässerungsanlagen zur Besiedelung ungeeignet ist. Die aus dem damaligen „Russj“, Rotrussland, heutigem Wolhynien und Podolien, gegen Süden vordringenden Kolonisatoren waren daher auf die schmalen, tiefen Flusstäler angewiesen. Die hochgelegene Steppe war von Nomadenstämmen bevölkert, die jene Siedelungen ständig bedrohten. Gegen Korden und Osten war das Land dagegen offen und ebenso fruchtbar wie im Süden. So ist es zu erklären, dass die Slawen, die von den Vorkarpaten durch die Ebene nach Nordosten vordrangen, Kijew und Tschernigow zu ihren politischen Stützpunkten machten. Von einem Handel nach dem Süden wird in den Chroniken nur im Zusammenhang mit vom Süden kommenden Händlern gesprochen. Der Handel im Korden der heutigen Ukraine hob sich in dem Masse, wie auch die Besiedelung des Nordwestens der russischen Ebene Fortschritte machte. Dorthin waren andere slawische Stämme nördlich des Polessje, des Waldgebiets, durch das heutige Litauen vorgedrungen. Dort war aber das Russentum auch mit den aus dem Korden über Nowgorod her eingedrungenen Warägern zusammengetroffen und hatte von ihm eine stärkere staatliche Organisation entlehnt, der der schwache Kijewer Staat sich nicht als gewachsen erwies.


Das scheint mir der zweite wichtige Grund für die heutige Unselbständigkeit der Ukraine zu sein. In derselben Richtung wirkte dann das Erstarken des litauischen Staates, der sich bald gegen Kijew hin auszudehnen begann, bis er 1569 in der Vereinigung mit Polen durch die Union von Lublin seine größte Ausdehnung gewann. Die westlichen Ukrainer kamen unter die Herrschaft der polnischen Magnaten, die östlichen hatten sich stets russischen Eindringens zu erwehren.

Das Erscheinen der Polen in der Ukraine hatte nun für die weitere Entwicklung der westlichen Ukraine tief einschneidende Folgen. Die polnisch-litauische Regierung gab das Land den Magnaten unter allerhand wirtschaftlichen Privilegien. Die Magnaten beriefen Wanderarbeiter zur Landbestellung, erbauten Städte und Flecken nach polnischer Art, ähnlich wie in der Provinz Posen mit Magdeburger Recht; sie schufen jüdische Niederlassungen, zogen deutsche Handwerker heran, waren mit einem Wort um die möglichst intensive Ausbeutung ihrer Latifundien in privatwirtschaftlichem Interesse besorgt. Das gab zwar dem Binnenhandel neuen mächtigen Impuls, Jahrmärkte blühten auf, aber weder von einem rechten Aufblühen des Landes und einer Entwicklung des Handels zum Meer hin konnte die Rede sein, noch von der Erstarkung staaterhaltender Organismen, da die breite Masse nicht zur Vermehrung und Verbesserung der Gütererzeugung erzogen wurde. Das Hauptabsatzgebiet blieb der Nordosten, Kijew verlor seine Bedeutung als Stapelplatz für den Norden nicht — Charkow konnte als solcher für den Osten auf blühen.

Aber einen wichtigen gesellschaftsbildenden Faktor hat die Polenherrschaft den Ukrainern, wenn auch ungewollt, doch gebracht: die Organisation der Kosakenheere. Im Kampfe gegen die Tataren, türkische Nomaden, nord- russische Räuber sowie gegen den polnischen Großgrundbesitz, der die einheimische Bevölkerung durch die Juden exploitierte, war das Kosakentum entstanden — jene einzigartige militärische Organisation der Landbevölkerung, die sich im Zeitraum von zwei bis drei Jahrhunderten einen Adel mit großem Landbesitz und eine primitive, volkstümliche Bürokratie geschaffen hatte, die durch und durch demokratisch, wohl tüchtige Truppenführer und Gebietsverwalter (Hetman), aber keine Monarchie hervorzubringen vermochte.

Die Schwäche des polnisch-litauischen Staates, die die sozialen Kämpfe, wie sie in den Haidamakenaufständen ihren Ausdruck fanden, nicht vertragen konnte, liefert dann den letzten wesentlichen Grund dafür, dass die Ukraine nicht mehr zur Selbständigkeit gekommen ist: die ukrainische Bevölkerung konnte ihren sozialen Aufbau nicht beenden; zu früh trat an die Stelle der Herrschaft der polnischen Magnaten die der zielbewussten Petersburger Bürokratie. Sie hat, nachdem sie die Kosakenaufstände genutzt hatte, den polnischen Staat zu zerstören, nicht ganz hundertfünfzig Jahre dazu gebraucht, um die Kosaken ihrer Bedeutung als eines sozialen Rückgrats der Ukraine zu berauben, indem sie sie in eine reguläre Truppe verwandelte. Die Kosaken, die gegenwärtig gegen unsere braven Truppen kämpfen, sind jetzt nichts Anderes wie Kavalleristen, aus allen Teilen des europäischen und asiatischen Russlands zusammengewürfelt, deren Regimenter die alten Kosakentraditionen mit Einschluss des verwegenen Haarschopfs, der schief sitzenden Mütze, der Nagaika und den Bezeichnungen Hetman und Essaul übernommen haben. Im sozialen Aufbau der Kleinrussen sind die alten Hetman und Essaul ersetzt durch die meist aus dem Petersburger Beamtenadel hervorgegangenen Adelsmarschälle und die Systemverwaltung, zu der sich die Söhne der Ukraine drängen.

Auch in wirtschaftlicher Beziehung hat sich seit der Polenherrschaft, seit den Haidamakenaufständen und seit der Angliederung der Ukraine an Russland manches in der Welt geändert. Mit der Entwicklung der Hausgewerbe zur Industrie, mit dem Bau von Eisenbahnen und dem Übergang der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft bei gleichzeitiger Verdrängung türkischer Stämme aus Südrussland, wo doch die nahegelegene Küste des Schwarzen Meeres eine besondere Anziehungskraft auf die an den südlich strömenden Flüssen wohnenden Produzenten ausüben musste, bekamen nur die sogenannten Stapelplätze im Norden umso größere Bedeutung: das Steppengebiet blieb aber auch nach der Besiedlung durch Deutsche trotz seiner wirtschaftspolitischen Bedeutung für Russland ohne Einfluss auf die nationale Regeneration der Ukraine. Die Stromschnellen des Dnjepr hinderten scheinbar alle Entwicklung zu Tal, aber nicht zu Berg! Das Gebiet hat eine durchaus neue Anregung erst durch den Anschluss Russlands an den Westen Europas, durch die Entwicklung aller Zweige der Technik bekommen: die Tieflage des Grundwassers ist heute, nachdem Tausende von deutschen Kolonisten das Land erschlossen haben, kein ausschlaggebender Grund mehr gegen eine Besiedelung des südlichen Steppengebiets durch indigene Bauern, die Steilheit der Küste kein unüberwindliches Hindernis für Hafenbauten; die Industrialisierung Westeuropas mit ihrem ungeheuren Bedarf an Brotgetreide hat es den Bewohnern der südlichen Ukraine ermöglicht, diese zu einer der bedeutendsten Kornkammern der Erde zu machen, wodurch sie wiederum befähigt wird, einen sehr bedeutenden Teil der Industrieerzeugnisse aus dem Donezbecken und von Kriwojrog selbst zu verbrauchen; sie würde sogar imstande sein, in dieser Hinsicht vom Absatzmarkt des moskowitischen Russland unabhängig zu werden und Moskowien die Preise zu diktieren, weil dieses sonst keine nennenswert erschlossenen Erz- und Kohlengruben besitzt. Freigestellt müsste der Ukraine nur werden, die natürlichen und künstlichen Ausfuhrwege zum Schwarzen Meer zu verbessern und auszubauen. Das aber verhindert die russische Regierung systematisch: sie will, dass der Handel der Ukraine in Abhängigkeit von Moskau bleibe und dass seine Richtung die nordöstliche Tendenz beibehalte. Darum ist die heutige Ukraine der alten gleich: wie zu allen Zeiten geht die Tendenz des Handels nach Horden, respektive Nordosten. Die Transportziffern der Eisenbahnen und die Berichte der Banken weisen in dieselbe Richtung. Die westöstlich gerichtete Linie Kijew-Charkow weist über Moskau nach Nishni-Nowgorod und weiter nach Sibirien. Moskau ist das Handelszentrum von Russland geworden, sein Zentralstapelplatz und Umschlagsmarkt für Asien und Europa. Ein russisches Hamburg gibt es nicht, obwohl Odessa durch die Reichtümer seines Hinterlandes und die Nähe von Eisen und Kohle einer der größten Ausfuhrhäfen der Welt sein könnte. Odessa hat, sieht man vom Getreideexport ab, als Durchgangsplatz, der wegen Abwesenheit einer nennenswerten Verarbeitungsindustrie keinen direkten Einfluss auf die umliegenden Gebiete ausübt, vor allen Dingen als Anlegeplatz für den Kabotagehandel auf dem Schwarzen Meer Bedeutung. Am Export sind die Häfen der Ukraine zwar rund mit einem Drittel beteiligt — am Import aber nur mit einem Neuntel! Das asiatische Hinterland zieht auch viele Erzeugnisse der Ukraine, vor allem Zucker, Tabak, Wein, Textilwaren an sich; Russland und Asien nimmt die gesamte Kohden- und Eisenproduktion der Ukraina für sich in Anspruch. Die Bergbauprodukte gehen nach Brjansk, Tula, Moskau, Tambow, während es unter den Toren Kijews noch Dörfer gibt, die Schornsteine aus Holz haben und wo die Bauernwagen nicht ein einziges Eisenteilchen, keinen eisernen Radreifen, keinen eisernen Splint aufweisen! Über See wird eigentlich nur das Getreide ausgeführt. Warum?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Problem der Ukraine