Fünfte Fortsetzung

Ist nun nach Gesagtem eine selbständige Ukraine denkbar? Fest steht, dass die Ukraina mit und ohne Galizien und die ungarischen Komitate ein für sich abgeschlossenes Wirtschaftsgebiet bildet, das seine Bewohner zu den reichsten Völkern des Erdballs machen könnte, sofern sie nur die von ihnen erarbeiteten Reichtümer für sich und ihr Land verwenden könnten und nicht genötigt würden, das meiste an die Moskowiter abzugeben; gewisse Schwierigkeiten sind bei dem heutigen Stand der Technik mit Leichtigkeit zu überwinden. — Ebenso steht fest, dass das gesamte, von den Ukrainophilen für das ukrainische Volk in Anspruch genommene Gebiet zwischen Karpaten, Kaukasus, Pripetsümpfen und Schwarzem Meer von rund 34 Millionen Kleinrussen (Ukrainern) bewohnt wird. Sie stellen das Gros der bäuerlichen und ländlichen Arbeiterbevölkerung dar. Die ländliche Oberschicht ist dagegen verhältnismäßig geschlossen ukrainisch eigentlich nur im Gouvernement Tschernigow*). Dort sind sogar großrussische Adelige ins ukrainische Lager übergegangen. In allen anderen Teilen des Gebiets sind ukrainische Großgrundbesitzer nur vereinzelt anzutreffen. Im Karpatengebiet herrschen die Ungarn (30 Prozent), in Ostgalizien die Polen (35 bis 40 Prozent), in Wolhynien, Podolien und Kijew gleichfalls die Polen (6 bis 14 Prozent) sowie schon Moskowiter, Deutsche und Juden; im ganzen übrigen Gebiet Russen (Moskowiter) und russifizierte Deutsche, die sich im Besitz der landwirtschaftlichen Riesenbetriebe befinden. Im Übrigen sind die ukrainischen Großgrundbesitzer, das ist der Kosakenadel, als soziale Schicht in dem Masse von ihrer Bedeutung zurückgekommen, als sie sich auf der einen Seite im Militärdienst bei den Kosakenheeren wirtschaftlich ruiniert haben und auf der anderen Seite die neu ein gedrungenen großrussischen Elemente, gestützt auf das staatliche und private (meist ausländische) Großkapital, neben der Verwaltung des Landes auch die intensive Bewirtschaftung der landwirtschaftlichen Riesenbetriebe übernahmen. In den Städten westlich des Dnjepr herrschen die Juden, die daselbst in manchen Flecken 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen, den gesamten Zwischenhandel und die Organisation der Hausindustrie mit einem raffiniert ausgebildeten Zwischenmeister- und Trucksystem in der Hand haben — der wirtschaftliche Stimulus für zahlreiche der vielen Judenhetzen gerade in Südwestrussland. Im Industriebezirk ist die christliche Arbeiterbevölkerung stark durchsetzt mit Zugewanderten aus allen Teilen Russlands; dasselbe gilt von den großen Städten Charkow und Odessa. Die Oberschicht in den Städten ist kosmopolitisch.

*) Dasselbe müssen wir auch vom Gouvernement Kijew und Poltawa sagen, deren ländliche Oberschicht bisher hauptsächlich der ukrainischen Bewegung ihre hervorragendsten Anführer gegeben hat. Überhaupt besteht die ländliche sowie die städtische Oberschicht in der Ukraine in hohem Maße aus national unbewussten, halbrussifizierten und polonisierten Ukrainern, die, wie es oft der Fall war, unter der Wirkung der ukrainischen Bewegung leicht zur Nationalität ihrer Ahnen zurückkehren. (Vergleiche die interessante Bewegung der letzten Jahre unter den polnischen Adelsfamilien in der Ukraine.) Anm. der Herausgeber.


Die für die Zukunft der Ukraine wuchtige Frage ist nun, ob sich zwischen den gewerblichen Schichten auch noch eine Anzahl von Ideologen erhalten hat, die das Fünkchen Nationalbewusstsein hüten und zur Flamme entfachen wird, aus der allein schließlich eine national eigenartige staatliche und soziale Organisation hervorgehen kann.

In den Städten gibt es auch eine ukrainische Intelligenz, arg bedrängt durch die russische Regierung und anderseits durch die jüdische Konkurrenz, die sich infolge der Überfüllung in allen Handelszweigen zur Anwaltschaft und zum Arztberuf drängt, dadurch gewisse russische Staatsbürgerrechte erwirbt und großen geistigen Einfluss auf die sehr ungebildeten indigenen Schichten gewinnt. In Charkow und besonders in Kijew sind an den Universitäten starke Herde der ukrainischen Ideen, beschickt von vorwärtsstrebenden Popen- und Bauerssöhnen; in Odessa, mit seiner in allen sozialen Schichten durchaus kosmopolitisch zusammengesetzten Bevölkerung, interessiert man sich mehr für soziale Probleme; in den Industriebezirken herrscht radikaler Sozialismus vor, der freilich der Autonomie der Nationalitäten, also auch der Ukrainer grundsätzlich wohlgesinnt ist. Die am weitesten verbreiteten Tageszeitungen, wie „Jushny Kraj“ in Charkow und „Kijewskaja Mysl“ in Kijew, stehen der Bewegung sympathisch gegenüber, während der im Ausland bekanntere „Kijewljanin“ durchaus den moskowitischen Standpunkt vertritt.

Doch es sind heute nicht mehr die revolutionär-sozialistischen und literarischen Organisationen allein, die den Wiederaufbau einer ukrainischen Nation betreiben. Seit einigen Jahren hat auch die westliche Ukraine eine gegen früher erheblich selbständigere Sjemstwo (Selbstverwaltung der Provinz). Um den Einfluss des polnischen Großgrundbesitzes in den Gouvernements Wolhynien, Podolien und Kijew nach Möglichkeit zurückzudrängen, hat man dort die sogenannte kleine Sjemstwo, das ist neben Gouvernements- und Kreis-Sjemstwo auch noch eine solche für die Wolost, gewissermaßen ein Verband bäuerlicher Gemeinden, eingeführt. Durch diese Einrichtung wird es tatsächlich möglich sein, das polnische Element bis zu einem gewissen Grad zurückzuhalten. Aber es ist nicht anzunehmen, dass der ukrainische, aus der indigenen Bevölkerung hervorgegangene und an den Hochschulen von Kijew, Charkow und Odessa herangebildete Sjemstwobeamte eine andere Stellung gegen den Staat einnimmt, wie der russische in den Siebzigerjahren. Damals waren die Sjemstwobeamten Träger des Volksgängertums, das Material für die revolutionären Parteien der Narodniki und Sozialrevolutionäre. In der Ukraine rechnet man bestimmt damit, dass die Beamten der Sjemstwo Träger der nationalen ukrainischen Bewegung sein werden, wie es vor dreißig Jahren Dragomanow war — das heißt ukrainisch-sozialistisch und autonomisch. Nock haben zwar diese Kreise die Führung nicht, weil die Sjemstwo erst vor drei oder vier Jahren eingeführt wurde, aber es kann nicht lange dauern, so wird der Sjemstwobeamte das Rückgrat der national-staatlichen Organisation der Ukraine bilden.

Aus dieser Skizze der Wirtschaftsgeschichte und der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der Ukraine wird es dem weiterblickenden Politiker ohne Weiteres verständlich, welche Bedeutung die einzelnen sozialen Schichten durch ihre nationale und kulturelle Verschiedenheit für die politische Behandlung der ganzen Frage gewinnen. Fassen wir das Gesagte zusammen, so darf als feststehend angenommen werden, dass gegenwärtig keine im modernen Sinn führende Schicht, also weder ein führender Landadel noch hervorragende städtische kapitalistische Unternehmer, in der Ukraine vorhanden sind. Was führt, ist in Abhängigkeit von Petrograd. Deutsche, Juden, Griechen, mehr oder minder moskowisiert und vielfach Hörige des französischen und belgischen Geldmarktes, daneben polnische Magnaten mit sehr verwässertem Nationalbewusstsein, das sind, ergänzt durch nicht eben viele eingewanderte Moskowiter, diejenigen, die scheinbar die Führung der ukrainischen Wirtschaft in der Hand halten. Eine einheitliche geistige Führung besteht gegenwärtig auch nicht. Die Regierungspolitik versagt vollständig. Sobald sie irgendwo positiv wirken will, sei es durch die Kirche, wie etwa durch die Brüderschaften der Gräfin Bludowa, sei es durch die Schule oder durch nationale Vereine, so muss sie sich der kleinrussischen Sprache bedienen, um überhaupt an das Volk heranzukommen. Dasselbe gilt von den Sjemstwoinstitutionen. Wo sich die Regierung ans Volk direkt wendet, muss sie aufhören, sich moskowitisch zu gebärden. Und das ist der schwache Punkt in ihrer gegenwärtigen Lage: sie verrichtet einen Teil der Arbeit jener Ideologen, die dem Volke Bildung bringen wollen — das sicherste Mittel zum Kampf gegen die Ausbeutung der moskowitischen Usurpatoren. Gewiss, die gegenwärtigen Führer der Ukraine sind Ideologen, romantische Theoretiker, Gelehrte, Schriftsteller und Dichter, woraus wieder die Moskowiter glauben, ihr Recht zur Behauptung herleiten zu dürfen, dass die Ukrainer Bewegung eine literarische ist; aber diese Ideologen sind selbstlose Freunde des kleinrussischen Volkstums, die jene Wolostintelligenz erziehen und die seit Jahren vor allen Dingen für das kämpfen, was dem Volke am meisten fehlt und was die Vorbedingung für jede politische Entwicklung ist, für die nationale ukrainische Volksschule. Wer heute der ukrainischen Intelligenz diese zuzusichern vermöchte, gleichgültig ob er Deutscher, Österreicher oder Rumäne hieße, der würde die politische Freundschaft der Ukraine erwerben*). Weil die Moskowiter, weil die Petrograder Regierung den Ukrainern gerade die nationale Schule glaubt vorenthalten zu müssen, weil die ganze Politik der Moskowiter schon seit zweihundert Jahren darauf gerichtet ist, die sich vertrauensvoll ihnen anschließenden Völker erst zu demoralisieren, ihnen das soziale Rückgrat zu brechen, sie wirtschaftlich auszuplündern, um sie dann auch zu entnationalisieren, eben darum bilden die Ukrainer ein staatsfeindliches Element für das heutige Russland. Darum fordern sie für sich mehr als kulturelle Autonomie, nämlich die Unabhängigkeit von Russland.

*) Vergleiche unsere Ausführungen in der Vorrede. Anm. der Herausgeber.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Problem der Ukraine