Schlussbetrachtung

Schlussbetrachtung.

Wer mir auf dem weiten Wege durch die zum Teil noch unerforschten Gebiete des Orients gefolgt ist, und die Sitten und Gebräuche des Altertums und der neueren Zeit betrachtet hat, der wird es wohl gerechtfertigt finden, daß ich den Orient ein Wunderland genannt habe. Wunder über Wunder treten uns in den Ländern entgegen, in denen die Wiege des Menschengeschlechts gestanden haben soll, und in dem sicherlich die älteste Kultur uns entgegentritt und selbst da noch ihre gewaltigen Spuren offenbart, wo seit mehr als tausend Jahren, ja wohl seit zwei Jahrtausenden die ehemalige Pracht in Staub und Trümmer gesunken ist. Wir finden, daß schon in jener nebelgrauen Vorzeit die Kultur geherrscht hat, die in vielen Gegenden heute noch nicht wieder erreicht worden ist, eine Kultur, die aber doch unserem Empfinden und Verstehen ferner liegt, als man glauben sollte. Wir sehen das besonders aus den Erscheinungen des Liebes lebens, das eine Brutalität, eine rohe Sinnlichkeit und eine Barbarei erkennen läßt, die unser Gefühl verletzen, wenn wir auch überall Übereinstimmungen mit dem finden, was sich auf unseren Schollen abgespielt hat. Im Osten, wo die Sonne in morgendlicher Pracht am Himmelsgewölbe aufsteigt, ist auch die Sonne der Kultur aufgegangen. Wie aber hat sich das geändert. Freilich die Sonne geht noch immer im Osten auf, weil die Natur ihre Bahn läuft, unbeeinflusst von der Menschen Treiben. Aber der Osten erschließt uns keine neuen Kulturen mehr. Hierin ist der Wandel geschaffen, denn jetzt geht für den Orient die Sonne der Kultur und der Menschlichkeit im Abendlande auf.




Unendlich viel hat sich im Morgenlande geändert, seitdem dem der Einfluß europäischer Wissenschaft, europäischer Anschauungen und europäischer Kultur sich im Orient geltend macht. Wohl hat selbst das Land, das berufen erscheint, an der Spitze der gelben Rasse zu marschieren, dem man nicht mit Unrecht zutraut, daß es ein neues Weltreich begründen könne, eine wilde Grausamkeit in den Strafen, ein entsetzliches Blutvergießen und so viele andere Dinge, die ein Volk als Halbwilde erscheinen lassen, noch nicht überwunden; aber welcher staunenswerte Fortschritt tritt uns doch überall vor Augen. Nicht zum wenigsten im japanischen Liebesleben und in der Stellung der Frau. Selbst das himmlische Reich der Mitte, das sich noch bis vor kurzer Zeit hermetisch abschloss vom Weltverkehr, und das deshalb einen tausendjährigen Dornröschenschlaf gehalten hat, erwacht langsam, und es wird kein Menschenalter dauern, dann hat China den Segen einer humaneren Kultur erhalten. Auch dort beginnt die Frau sich aus den niedrigsten Fesseln zu befreien. Es sind zuweilen kleine Dinge, um die gekämpft wird. Man hat bei der widernatürlichen Schuhtracht der chinesischen Frauen angefangen, und man wird bei der Gleichstellung aufhören. In Kreta, wo die Mädchen noch vor nicht langer Zeit ein Los zogen, das dem der orientalischen Form im Altertum nicht unähnlich war, hat sich ein Wandel vollzogen, der Staunen erregt, und selbst die Türkei hat das Frauenleben schon etwas reformiert und wird es unter der Herrschaft der Jungtürken noch mehr reformieren.

So wird dem Morgenlande jetzt das Abendland zum Ende des Sonnenaufganges, und wo erst einmal der ganze Tag zu erhellen beginnt, da wird es schnell hell und heller. Man soll nur keine Wunder erwarten und denken, daß der Orientale mit einem einzigen Sprunge von den Jahrtausende alten Vorurteilen sich frei machen, daß er seine Natur plötzlich ablegen kann, wie man sein Kleid auszieht. Wir werden aus dem Orient noch lange Dinge erfahren, die uns erschauern lassen. Aber deshalb vollzieht sich doch langsam und sicher der Wandel.







Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Liebesleben im Orient