Der Schleier

Der Schleier.

Es ist eine dem Europäer besonders auffallende Erscheinung, daß die orientalischen Frauen, wenigstens in den überwiegenden Ländergebieten sich, nur tief verschleiert zeigen. Der Schleier ist dabei nicht das, was er bei uns zu sein pflegt, ein duftiges, durchsichtiges Gewebe, das nur dann die Reize des Gesichts verhüllt, wenn diese — überhaupt nicht vorhanden sind, sonst aber sehr wohl die Gesichtszüge unserer Damen deutlich erkennen läßt, ihnen sogar nicht selten noch einen besonderen pikanten und koketten Reiz gewährt, sondern eine völlige Verhüllung, die nichts frei läßt als die Augen, die aus dieser Hülle das leidenschaftliche Feuer des Empfindens hervorsprühen lassen. Der Schleier wird aus verschiedenen Streifen eines weißen Stoffes kunstvoll angelegt, und erinnert zuweilen an das Aussehen eines Corpsstudenten, der bei der Mensur allzu reichlich mit Schmissen beglückt worden ist die ihm im späteren Leben einen hübschen Nimbus verleihen als Beweis besonderer Bravour gelten und doch eigentlich nur beweisen, daß — der Gegner die Waffe besser zu führen wußte.


Daß eine solche Verschleierung nicht gerade die Lust des Daseins erhöhen kann, daß sie vielmehr an und für sich schon höchst unbequem, in orientalischer Temperatur geradezu unerträglich ist, das bedarf wohl keines besonderen Nachweises, und wenn man auch bei uns die tägliche Erfahrung machen kann, daß auf die Modedame das passt, was der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief 13 über die Liebe sagt: „Sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles“, wenn wir auch von unserer Herrenwelt feststellen, daß der Mode zur Liebe selbst die höchsten Kragen, die keine freie Bewegung gestatten, das Atmen erschweren und selbst die Folter dadurch, daß sie länger peinigen, übertreffen, mit freudigem Mute getragen werden, daß die unnatürliche Stärkewäsche den Oberkörper in eine Art Backofen verwandelt, so läßt sich doch wohl ohne weiteres annehmen, daß die orientalischen Frauen einem anderen Gebote als dem der Mode folgen. Das trifft auch in der Tat zu.



Man hält nun in der Regel den weisen Mohammed für den verantwortlichen Redakteur dieser „Modetorheit“, tut ihm damit allerdings ebenso bitteres Unrecht wie so oft dem „Verantwortlichen“, den man büßen und leiden läßt für Dinge, an denen er ungeheuer unschuldig ist, wenn man nicht den Begriff des dolus eventualis so weit ausdehnen will, um anzunehmen, der Verantwortliche müsse wissen, es könne auch einmal in sein Blatt eine bedenkliche Notiz geraten, sogar habe er diese schon dadurch gewollt, daß er überhaupt Redakteur geworden sei. Anders ließe sich wenigstens auch ein Verschulden des großen Propheten an der Verschleierung der Orientalinnen nicht konstruieren, denn Mohammed hat sie nicht befohlen, und der Koran gebietet sie nicht. Man darf aber doch sagen, daß die Vorschrift des Schleiers nicht so völlig unsinnig und unbegründet ist, wie sie gewöhnlich dem Fremden erscheint. Die Frauen im Orient haben geliebt und gelebt, wie es ihre leidenschaftliche Natur ihnen wünschenswert erschienen ließ; sie haben sich als leichtfertig und oberflächlich und, wie die Gelehrten des Islam behaupten, auch als minderwertig erwiesen und es dadurch selbst verschuldet, wenn schließlich energischere Maßregeln getroffen wurden, um ihnen ihre Pflichten als Frauen erheblich nachdrücklicher zu Gemüte zu führen als durch einfache religiöse Hinweise und Wünsche seitens der gestrengen Gatten, die gegen ihre eigene Moral allerdings weniger streng waren, dies ja aber auch nicht zu sein brauchten, da die Rechte von Mann und Weib, besonders in der Ehe, wie wir gesehen haben, durchaus nicht die gleichen sein konnten. Es gab kein besseres Mittel als den Schleier. Haben doch selbst die christlichen Nonnen dieses Mittel angenommen, um dadurch allen Anfechtungen der Welt zu entgehen und auch äußerlich zum Ausdruck zu bringen, daß sie auf irdische Freuden Verzicht geleistet haben und als Himmelsbräute die Treue halten wollen. Wenn es nun auch gewiß im Abendlande niemals gelungen sein würde, gegen alle weiblichen Wesen einer derartigen Vorschrift Geltung zu verschaffen, so würde dies im Orient nur belächelt worden sein, denn dort gilt der Wille des Mannes, und das Weib hat zu gehorchen, mindestens in der Öffentlichkeit. So war es dort nicht übermäßig schwer, ein Gebot ein- und durchzuführen, das die Verwunderung des Abendlandes erregen muß. Die Sache hat allerdings doch noch einen Haken. Auch im Orient wäre die Verschleierung wohl schwerlich allgemein durchgeführt worden, wenn man nicht doch das religiöse Moment als Beweis für die Notwendigkeit dieser Sitte hätte heranzuziehen können.

Ich habe schon gesagt, daß der Koran solchen Brauch nicht vorschreibt, und Kenner des Islam werden sogar ohne besondere Mühe den Nachweis zu führen vermögen, daß im Gegenteil die Verhüllung des Gesichts dem religiösen Gesetz direkt zuwiderläuft, der Schleier ist also viel eher verboten als vorgeschrieben. Was tuts? Ohne ein religiöses Mäntelchen hätten wohl selbst die Männer nicht allgemein eingewilligt oder gar erst angeordnet, daß ihre Frauen nur verschleiert die Straße betreten dürften, und niemals würde schon aus diesem Grunde der Schleier Brauch geworden sein. Was wird aber selbst aus den klarsten Religionslehren im Laufe der Jahrhunderte gemacht? Ist es in irgend einem religiösen Bekenntnis jemals anders gewesen? Wer die Zersplitterung der christlichen Konfessionen, die doch alle auf den sonnenklaren Lehren Christi aufgebaut sein sollen, die es also gar nicht geben könnte, kennt, der wird wissen, daß auf diesem Gebiete stets aus schwarz weiß und aus weiß schwarz gemacht wird, daß es dann noch ein Dutzend Zwischensekten gibt, die grau sagen, was die andern schwarz oder weiß bekennen, und daß bei allem Dogma die Grundlehre vergessen und verbessert und vermehrt ist. Warum soll der gläubige Muselmann nicht auch glauben, daß eigentlich Mohammed doch den Frauen habe anbefehlen wollen, wenn es die gelehrten Koranausleger so interpretieren? Das aber gilt für des Glaubens schönsten Beweis, daß nicht die klare Vernunft entscheidet, denn was man weiß, das braucht man nicht erst zu glauben, sondern der Glaube soll auch da nicht wanken, wo die klare Menschenvernunft das Gegenteil beweist. Diesen Glauben besitzt der orientalische Fatalist viel eher als sonst ein Mensch auf Gottes schöner Welt, mag er auch sein „Credo quiaabsurdum“, noch so laut in die Welt hinausrufen. Der Koran schreibt den Frauen ein sittliches Betragen vor, gebietet ihnen, die Männer nicht an sich zu locken und sie nicht zu viel zu reizen, sondern viel eher die Augen niederzuschlagen, wenn freche Blicke sie begehrend anschmachten. Das war gut und weise; auch Mohammed kannte seine Landsleute und sein Volk und wußte recht gut, warum er solche Lehren niederschrieb, resp. sie mündlich verbreitete. Wer den Orient kennt, weiß, daß ein solches Gebot sehr notwendig war und auch heute noch ist. Andere Länder könnten davon nur lernen. Wenn nun die Ausleger aus dieser Vorschrift das Gebot des Schleiers fabriziert haben, so ist gar nicht in Abrede zu stellen, daß sie etwas interpretiert haben, was im Koran nicht steht, dem Koran sogar widerspricht, was aber gleichwohl mit dem Geiste der mohammedanischen Religion durchaus vereinbar ist und nach diesem Geiste tausendmal vernünftiger und berechtigter ist als vieles von dem, was in andere Religionen hineininterpretiert worden ist, nicht selten Grund zu den grausamsten Menschenschlächtereien gegeben und so der Welt ein Schauspiel geboten hat, das sehr wohl geeignet gewesen wäre, das ganze religiöse Gebäude zum Einsturz zu bringen, wenn der Mensch nicht schon instinktiv das Bedürfnis nach einem religiösen Halt empfände.

Nun gehörte aber auch keine besondere Erfindungsgabe dazu, den Schleier einzuführen; die Gelehrten des Islam brauchten vielmehr nur Bestehendes zu akzeptieren, denn die Verschleierung der Weiber ist in der Tat älter als der Mohammedanismus. Schon lange vor Mohammed bestand sie bei verschiedenen orientalischen Völkern. Es läßt sich freilich absolut nicht feststellen, wo zuerst diese Sitte entstanden ist. Sie dürfte aber bereits den ältesten Ägyptern ebenso den Assyrern nicht unbekannt gewesen sein. Zu einer Art religiöser Vorschrift — wir haben gesehen, mit welcher Berechtigung — ist sie aber erst durch die Anhänger Mohammeds erhoben worden.



Auch im alten Griechenland und selbst im alten Rom kannte man die Schleier, verwendete sie allerdings nur, wie dies unsere heutige Damenwelt noch tut, mehr als Schmuck- und Zierstück. Es ist nicht zu verkennen, daß der Schleier sich zu diesem Zwecke ganz vorzüglich eignet; er ist geradezu eine raffinierte Toilettentechnik, denn niemals werden Reize, die frei und offen zur Schau getragen werden, in dem Maße die Aufmerksamkeit und Begierde reizen, wie dies durch die zarte Verhüllung des Schleiers geschieht, der die Schönheit nicht völlig verbirgt, ihre detaillierten Geheimnisse aber nur erraten, nicht klar erkennen läßt. Wenn in unserer Zeit der Schleiertanz seinen Zauber auf die Besucher unserer Theater wirken läßt, so ahnt man wohl kaum, daß auch dieses graziöse Spiel das orientalische Altertum bereits gekannt und bewundert hat. Freilich gab es in früheren Jahrhunderten nicht den Glanz der feenhaften Beleuchtung, die in unseren Tagen durch die wunderbare Wirkung der besten Beleuchtungseffekte erst den Schleiertanz zu dem macht, als was er jetzt erscheint, sondern die altorientalischen Tänzerinnen konnten nur durch die Grazie ihrer Bewegungen die Zuschauer hinreißen. Das ist ihnen aber auch vorzüglich gelungen. Das Publikum, die sinnlich veranlagten Männer, liebte allerdings die weibliche Grazie mit und ohne Schleier. Letzterer übte auch da seine magische Kraft dadurch, daß er die Reize mehr ahnen als erkennen ließ. Es liegt zu tief in der menschlichen Natur begründet, daß nicht bloß das Verbotene, sondern auch das Geheimnisvolle reizt. Ich möchte deshalb wohl behaupten, daß man der wirklichen Sittlichkeit einen schlechten Dienst erweist, wenn man auf alles Nackte so fanatisch Jagd macht. Wer zur Unsittlichkeit anreizen will, der wird seinen Zweck viel eher erreichen, wenn er sich in geschickter Weise des Schleiers bedient, als wenn er brutal das Nackte zur Schau stellt. Ob man daran nicht auch im Orient gedacht hat? Ob nicht der seltene Anblick des Weibes dort die Männer viel mehr reizt, als wenn die Weiber frei von Schleiern sich stets und ständig den Blicken präsentieren? Wie vorteilhaft die orientalische Sitte zuweilen sein kann, das werden diejenigen Frauen am besten beurteilen können, die von der gütigen Natur bei der Verteilung der Schönheit besonders stiefmütterlich behandelt worden sind. Für diese ist allerdings der Schleier nicht erfunden worden, und das ist eigentlich das Wunderbarste an der Sache.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Liebesleben im Orient