Was wir wollen

(Fortsetzung)

Keine Seite der Kapital-Assoziation gewährleistet im Hinblick auf die persönlichen Interessen des Einzelnen, sowie hinsichtlich der Wohlfahrt ganzer Familien, größeren Segen, als das Versicherungswesen in seinem weitesten Umfange. Wir begnügen uns, einen Zweig desselben in dem Leben und Wirken eines wackern deutschen Mannes Ernst Wilhelm Arnoldi, Gründers der allüberall gekannten Feuer- und Lebensversicherungs-Banken zu Gotha, eingehender zu schildern.


Unvermerkt sind wir unterdessen aus dem Mittelalter in die neuere Zeit hinübergetreten. Neue Mächte und neue, welterschütternde Ideen liegen im Kreisen. Im Osten erhebt sich in kolossalen Umrissen das Reich der Moskowiter. Noch keine zwei Jahrhunderte sind verflossen, als Demide Antusieff, seines Zeichens ein einfacher Schmied, die Aufmerksamkeit Peters, des Großen auf sich zog. Der gewaltige Czar sieht in ihm eines der Werkzeuge zur Wachrufung seines Volks aus dem Beharren in niedrigen, menschenunwürdigen Zuständen. Mehrere Jahrzehnte später erstehen an der Grenzscheide von Asien und Europa die Bergwerks-Industrien des Ural, die in jenen riesigen Etablissements sich immer weiter entwickeln, zu welchen der Schmied von Tula, der Ahnherr des fürstlichen Hauses der Demidoffs, den Grund gelegt hatte und dessen erfolgreiches Wirken wir in der zweiten Sammlung dieses Werkes vorführen.

Während wir in dem wechselvollen Lebenslaufe Johann Peter Hasenclevers einen deutschen, weitausschauenden Handelsherrn, sowie in einem folgenden Bande in Paul Petrowitsch Poschofsky einen gediegenen russischen Kaufmann, Beide dem vorigen Jahrhundert angehörig, kennen lernen, hat sich inzwischen in friedlicher Weise eine völlige Umwälzung in dem industriellen Leben des westlichen Europa vollzogen. Ein neuer Souverän ist aufgetaucht — Cotton is King — „Baumwolle ist König“ geworden, und wie mit einem Zauberschlage erstehen erst in England, dann in andern Teilen Europas Spinnereien, Kattundruckerein und verwandte Anstalten in Menge. Als Richard Arkwright zum ersten Male seinen Namen auf dem Aushängeschild seiner Barbierstube dem Publikum vorführte und später seine erste Spinnmaschine ausstellte: als sein Zeitgenosse William Peel in einem bis dahin kaum gekannten englischen Dorfe die erste Kattundruckerei errichtete, ahnte keiner der Mitlebenden die unendliche Tragweite jener industriellen Großtaten, noch weniger den Segen, welchen der Großväter Wirken auf Enkel und Urenkel bringen werde. Gleiches Verdienst um die Industrie ihres Landes haben sich u. A. in Frankreich der treffliche Lenoir, in der Schweiz der wackere Toggenburger Mathias Näf, sowie in unserer Zeit der zum Millionär emporgekommene Reichenberger Johann Liebieg erworben.

Was der weltbezwingende Handelsgeist eines kulturtüchtigen, an das Wirken „mit vereinten Kräften“ gewöhnten Bruderstammes vermag, lehrt uns die Geschichte der Ostindia-Compagnie, der großartigsten Handelsgesellschaft neuer Zeit, in der durch Robert Clive und Warren Hastings mitbegründeten englischen Staats- und Handelsherrschaft im südlichen Asien. Erringt hier die Tätigkeit eines großen Handelsvolkes solch' ungeahnte Erfolge, so zeigt sich uns in dem schöpferischen Einzelleben eines Bürgers der Neuen Welt, in Cornelius Vanderbilt zu New-York, das wunderbare Emporkommen eines im Vollgefühl eigner Kraft rastlos weiterstrebenden Mannes, an dessen glänzende Tätigkeit sich die überraschende Entwickelung der transatlantischen Dampfschifffahrt knüpft. Ihm Schulter an Schulter stehen in unserem Vaterlande Schiffseeder der Hansestädte: in der Elbmetropole der Hamburger R. M. Sloman, in der Weserstadt ein Bremer Ehrenmann, H. H. Meier. — Ein anderer Sohn der Alten Welt, Johann Jakob Astor, zieht aus den weinumkränzten Geländen zwischen Rhein und Neckar hinweg nach England, bald darauf nach Amerika, und wenige Jahrzehnte später gebietet der Gründer von „Astoria“ über unerschöpfliche Hilfsquellen. In nicht geringerem Grade erregt unsere bewundernde Achtung das gleichfalls den kleinsten Anfängen entsprungene Wirken des später von der Fülle des Glückes wahrhaft überschütteten Sonderlings Stephan Girard, jenes großen Handelsherrn und Rheders zu Philadelphia, der vierzehn Jahre alt als Schiffsjunge der Heimat den Rücken kehrt und in der Neuen Welt im höchsten Greisenalter sein Leben beschließt. Vielfach verkannt und oft geschmäht hat er durch sein Testament alle Neider und Lästerzungen zum Verstummen gebracht: er hinterlässt von seinen 20 Millionen den weitaus größten Teil seinem zweiten Heimatslande zur Gründung von Erziehungs- und Bildungsanstalten.

Im Gegensatz zu dem ruhelosen Schalten und Walten des Weltkaufmanns überkommt uns wohltuendes Behagen, wenn wir Gelegenheit erhalten, eine, wenn auch vom Geräusch der großen Welt entfernt sich entwickelnde, indessen nicht minder erstaunliche Tätigkeit in dem glücklichen Stillleben „eines Kaufmannes, wie er sein soll“, in Samuel Budgett, kennen zu lernen. Stoff zu Charakterbildern verwandter Art sollen uns später liefern: J. Heinrich Stobwasser, John Howard, der Krämer, die Gebr. Platt in Oldham, F. F. Suwe u. A.: während der unermüdliche Menschenfreund Joh. Ernst Gotzkowsky, ebenso der Patriot von Kolberg, Joachim Nettelbeck, dem Leben und der Anschauungsweise zweier Jahrhunderte angehörig, nicht minder J. J. Kabrun, Danzigs Wohltäter zur Zeit der Belagerung im Jahr 1813, uns in einem folgenden Bande Veranlassung geben, von den Zuständen während mehrerer der denkwürdigsten Epochen der Geschichte Preußens lebensvolle Bilder zu entrollen.

Die weittragende Bedeutung des Kapitals beschäftigt uns in der Geschichte der Gideons, der Goldsmids, der Barings u. A., vornehmlich aber in der Geschichte des Hauses M. A. Rothschild und Söhne zu Frankfurt a. M., sowie des trefflichen Salomon Heine in Hamburg, jenes wahrhaft verehrungswürdigen Menschenfreundes, dessen Biographie wir die Geschichte des „auserwählten Volkes Gottes“ und seine Bedeutung für Handel und Industrie vorhergehen lassen. — Ohne den Beistand der Geldfürsten unserer Zeit wäre es selbst den genialsten Erfindern und Förderern auf den Gebieten der Industrie kaum möglich geworden, so riesige Zeugnisse überwältigender Schöpfungskraft zu hinterlassen, als dieses einem der hervorragendsten Meister im Maschinenbaufache, Joh. Fr. Karl August Borsig, mit der Vollendung seiner fünfhundertsten Lokomotive gelungen ist. Diesem Begründer eines neuen Industriezweiges in Deutschland schließt sich in der Schweiz ebenbürtig Hans Kaspar Escher vom Felsenhof an, der Gründer der großen Maschinen-Werkstätten zu Zürich.

Dergleichen Beispiele ließen sich leicht verhundertfachen.

Doch je weittragender der Einfluss einer bedeutsamen Erfindung und deren endliche Einführung in das Leben erscheint, um so abhängiger ist immer ihr Gelingen von der Beihilfe Derer, welche das Kapital und dessen Bewegung vertreten. Dies wird uns weiterhin klar, wenn wir später einen Blick werfen auf die ersten Anfänge jener heut zu Tage so oft erwähnten Industriellen des Krieges, des k. preuß. Geh. Kommissionsrates N. von Dreyse, des Erfinders des Zündnadelgewehrs, sowie auf die sich weithin ausdehnende Arbeiterstadt, welche der Bemeisterer des Stahls, Alfred Krupp, in der Nähe von Essen, sich selbst zum ehrenvollen, bleibenden Andenken, beinahe aus einem Nichts hervorgerufen hat.

Alle die bis dahin geschilderten großartigen Wandlungen auf so mannigfachen Gebieten des gesamten Verkehrs- und Handelslebens sind, auf ihren Grund zurückgeführt, nichts als die Ergebnisse des Wissens und Könnens. Heute ist jeder tüchtige Kaufmann, welcher die Welt, in der er sein Fortkommen gesucht hat, als seinen Markt ansieht, davon überzeugt, dass „Wissen Macht ist.“ — Doch die klare Erkenntnis des Nötigen ist bei einem guten Teile unserer jüngeren Generation noch immer nicht allseitig zum Durchbruch gekommen. Kein Wunder! Es sind kaum siebzig Jahre her, dass J. G. Büsch zu Hamburg die erste Handels-Akademie ins Leben rief, und etwas über zwanzig Jahre erst, dass wir August Schiebe, den verdienstvollen Direktor der Leipziger Handelsschule, dessen Leben in der folgenden Sammlung vorgeführt wird, zur ewigen Ruhe gebettet.

Welch' riesige Umwandlungen haben sich nur im Laufe unseres Jahrhunderts vollzogen! Tausende von Meilen neuer Verkehrsstraßen, Chausseen und Eisenbahnen, durchziehen unsern Erdteil sowie Amerika: Telegraphen und Dampfschifffahrts-Linien verbinden Städte und Länder, Weltteile und Meere: eine Bienentätigkeit entfaltet sich, wo die Merkmale der Industrie, hohe Dampfessen, zu Hunderten sich in die Lüfte erheben. In diesem „Jahrhundert des Dampfes“ und anderer weltbewegender Erfindungen ist Alles anders, — um Vieles besser geworden. Eine gelöste Aufgabe ruft ein anderes, ein neues Problem hervor. Zu den Lehrern an den Schulen gesellen sich Volkslehrer. Die Mahnungen unseres deutschen Volkswirtschaftslehrers Friedrich List, des Mitbegründers des deutschen Eisenbahnwesens, sind nicht wie Spreu im Winde verflogen: aus dem Zollverein ist eine Handelsmacht von kaum geahnter Bedeutung erwachsen, und nachdem ein Sir Robert Peel in England die letzten Reste engherziger Handelspolitik über den Haufen geworfen, sind die Grundsätze des Freihandels durch Richard Cobden und andere glänzende Vertreter der Intelligenz auch im außerenglischen Handelsstande zum Siege gelangt.

So reiht sich ein Entwickelungsgang in überraschender Weise an den vorhergegangenen und vor unsern Augen entrollt sich ein lichtreiches Gesamtbild, in dem die welterobernde Bedeutung der Arbeit und des Handels, der Anfangs- und Ausgangspunkt jeglichen Kulturlebens, sich abspiegelt.

Mit jedem großen Fortschritte in den Bereichen des Handels werden die Folgen politischer Zwistigkeiten und Verderben drohender Kriege auf engere Gebiete beschränkt. Einzelne despotische Gewalten verschwinden mehr und mehr. Eine neue Zeit bringt nicht nur neue Gestaltungen, sondern auch neue Bedürfnisse, neue Verpflichtungen zum Vorschein. Die würdigsten Vorbilder sind nicht mehr nur unter den Helden des Schwertes, unter den Heroen der Kunst und der Wissenschaft allein zu suchen, — in den Reichen, wo das Talent seine erhebendsten Siege feiert. Ja oft sind es nicht einmal die glänzenden Triumphe des Genius, welche am meisten zur Nacheiferung anspornen — erscheint doch dem bescheidenen Geiste das höchste Vorbild oft unerreichbar — sondern die Summe preiswürdiger Handlungen und Taten ist es gemeiniglich, welche in den Entwickelungsjahren des Menschen aneifernd, bildend, erhebend wirkt und zu dem Lebensberufe die volle Hingabe zeitigt.

Da uns im Hinblick auf unsere Raumgrenze die Erfüllung des ursprünglichen Programms in einer Sammlung nicht möglich geworden ist, so bleibt dessen weitere Ausführung einer zweiten Sammlung vorbehalten, für welche unter Anderen, Themata gleich den nachfolgenden in Aussicht genommen sind:

Der Kaufmann und Seefahrer zu allen Zeiten. Finanziers und Staatsmänner, hervorgegangen aus dem Handelsstände. — Deutsche und Schweizer Kaufleute im Auslande. — Förderer des Verkehrs. Märkte und Messen. — Die Tabakfabrikation. Der Weinhandel. Der Holzhandel. — Wollen- und Seiden-Manufaktur. Die Spitzenindustrie. — Die Gobelins. — Die Schweizer Uhrenindustrie. — Der Bergwerksbetrieb und die Gewinnung der unterirdischen Schätze (Kohlen, Metalle u. s. w.). — Der Edelstein- und Perlenhandel. — Die Kautschuk- und Guttapercha-Verarbeitung. — Porzellan und Steingut. — Der Maschinenbau. — Die Industriellen des Krieges — Der Buchhandel. — Förderer der Handelswissenschaften, von Handelsakademien und Handelslehranstalten. — Bahnbrecher des Fortschrittes. Der Handel und die Volkswirtschaftslehren. Freihandel. — Der Assoziationsgeist der Gegenwart. — Förderung des Genossenschaftswesens und des Wohles der arbeitenden Klassen. — Die Solidarität der gesamten Interessen.

Diese bedeutsamen Tätigkeiten und Erscheinungen auf dem Gebiete des Handels- und Verkehrslebens sowie der Industrie und des Gewerbfleißes bringen wir in Verbindung mit dem ersprießlichen Tun und dem interessanten Entwickelungsgange bedeutender Kaufleute, Industrieller oder Förderer des Handels, als beispielsweise aus alter Zeit des karthagischen Seefahrers Hanno, ferner aus dem Mittelalter und später eines Martin Behaimb, Jacques Coeur, — fernereines Gises Gobelin, Chr. Gottf. Frege, Jacques Laffitte, G. R. Graf Schimmelmann, Carl Ludwig von Bruck, David Hansemann, Sir James Brooke, — Chr. Philipp Oberkampf, J. J. Egg, Heinrich Moser, — der Gebr. Karl & Gustav Harkort, Sir Rowland Hill, — Lotzbeck, Vater und Söhne, — Gottlob Nathusius, J. M. Jacquard, Friedrich von Diergardt, Heinrich Runz, Tobias an der Eck, Jean Richard von Bresesses, — C. von Gienaulh, — Familie Demidoff, — John Goodjear, — Joh. Friedr. Böttger, Josiah Wedgwood, A. W. von Faber, — George und Robert Stephenson, John Cockerill, Richard Hartmann, J. von Massei, Freiherr von Cramer-Klett, — J. G. Cotta und sein Sohn Georg; Friedrich Perthes, — J. G. Büsch und August Schiebe, — Friedrich List, Richard Cobden, — Nikolaus v. Dreyse und Alfred Rrupp, — Hans Dollfuß, Gustav Werner u. A. m.

So ersteht vor dem geistigen Auge unserer Leser eine Reihenfolge anregender Beispiele in vorstehend aufgeführten Lebens- und Entwickelungsgängen bedeutender Kaufleute und Industrieller, verschiedenen Zeiten und Völkern angehörend. Wir waren ernstlich bemüht, in einer Anzahl dieser Vorbilder das persönliche Verdienst des Einzelnen zur Anschauung zu bringen, in anderen wieder lebendige Zeit- und Charakterbilder für die Gesamt-Entwickelung des Handels oder einzelner Zweige desselben, zu liefern.

Die Peels gelten in England als ein Muster nationalen Handels- und Tätigkeitseifers, und die von uns vorgeführten Großmeister deutschen Industrie und Handelsfleißes, die Fürsten des Kapitals wie die schlichten deutschen Ehrenmänner am Comptoirpulte, mögen in gleicher Beziehung unseren Lesern als Vorbilder erscheinen. — Sollte unter der Reihe dieser hervorragenden Geister nicht Einer sein, welcher einem jugendlichen Leser als Leitstern auf den oft rauhen Pfaden zur Selbständigkeit leuchten könnte? —

[i]Leipzig, am 29. August 1867.
Franz Otto.[/b]

001 Der große Kanal in Venedig im Mittelalter (zu Anfang dea XV. Jahrhunderts).