Venedigs Bedeutung im Mittelalter

Venedig, eine der berühmtesten Städte des Mittelalters, verdankt ihre Größe vornehmlich ihrer günstigen Lage. Gegen feindliche Angriffe vom Lande wie von der See her gesichert, vereinigt dieser wichtige Handelsplatz zugleich wie kein anderer alle Vorzüge, die zur Herrschaft über das Meer befähigen. Schützend umgibt die reich gesegnete Stadt von allen Seiten die Lagune, ein tiefliegendes, weit ausgedehntes Delta, welches in alten Zeiten von den Venetern (Venetia maritima) bewohnt und schon damals wegen seiner Schifffahrt berühmt war. Alle Gewässer der Alpen und Apenninen haben in diesem Delta ihre Mündungen: der Isonzo, die Livenza und der Tagliamento, die von den Julischen Alpen kommen, die Piave, der Musone, die Brenta und Adige (Etsch) von den Alpen Tirols her, endlich der Po, in dem sich die übrigen Abflüsse der Alpen und Apenninen vereinen. Nahe dem Meere, wo diese Flüsse an Strömung und Tiefe verlieren, teilen sie sich in zahlreiche Arme und bilden viele Inseln und Niederungen. Den aus letzteren zusammengesetzten Landstrich schützt gegen das Meer hin eine lange Kette schmaler, langgestreckter Inseln, welche durch Brücken zu einem Damm, Lido genannt, von 10 Stunden Länge und etwa 1 Stunde Breite verbunden sind. An den gefährlichsten, am meisten ausgesetzten Stellen sind jene Dünen durch ungeheure Bauwerke verstärkt worden. Acht Einschnitte in dem Damm, Porti, verbinden das Meer mit der Lagune: zwischen den Häfen liegen ebenso viele Inseln: St. Erasmo, Malamocco, Palestrina, Brandolo u. a. Die auf so starke Weise gegen das Meer geschützte Lagune hat eine Länge von etwa 32 geogr. Meilen von der Mündung der Brenta bis zu der des Sike (der alten Piave), eine Breite von 4 — 8 Meilen und einen Flächeninhalt von 172 Quadrat-Meilen. — Drei Teile dieser Lagune sind zu unterscheiden.

Der erste, Barene genannt, welcher aus Morästen mit Seepflanzen und Gräsern besteht, ist wenige Zoll über der gewöhnlichen Fluthöhe und bei starker Flut ganz überschwemmt, auch von zahlreichen Kanälen nach allen Seiten durchschnitten. Den zweiten Teil bilden die Velme, von jeder Flut überschwemmt, doch trocken bei der Ebbe, mit teils schlammigem, teils sandigem Boden, gleichfalls von Kanälen durchschnitten und von Vertiefungen unterbrochen, die stets Wasser ansammeln. Den dritten Teil bilden ununterbrochene Landstriche, die selbst bei den höchsten Fluten trocken liegen und als künstlich vergrößerte wie befestigte Inseln den Grund der Stadt Venedig bilden. Der täglich viermal sich hebende und senkende Wasserspiegel verändert eben so oft den Anblick dieser Lagune: bei der Ebbe ist es ringsum eine weite Ebene mit tief einschneidenden Kanälen, bei der Flut erscheint die Stadt Venedig mit ihrer nächsten Umgebung wie eine Inselgruppe mitten auf der Meeresfläche. Die stets mit Wasser gefüllten Kanäle verzweigen sich tief in das Land hinein und laufen zuletzt in dünne Wasserfäden aus. Mit dem Meere durch die Porti in steter Verbindung, bilden sie die eigentlichen Lebensadern von Venedig und waren daher zu allen Zeiten ein Gegenstand aufmerksamster Sorge für die Venetianer. Die Mehrzahl der Flüsse findet ihren Ausgang an den äußersten nördlichen und südlichen Enden der Lagune, die Brenta dagegen und der Sile ergossen sich früher in zahlreichen Armen mitten durch dieselbe und erhielten erst später fern von diesem Mittelpunkt künstliche Ausmündungen. Die Porti sind nichts als die alten Mündungen, die Hauptkanäle die alten Flussbetten, der Canal grande z. B., der Venedig in zwei Hälften teilt, ein Arm der Brenta. Mit unglaublichen Anstrengungen wurden diese Häfen und Kanäle sowohl gegen den Flutandrang des Meeres wie gegen den Schlamm und Sand der Gebirgsflüsse gesichert, und nur dadurch der Stadt die geschützte und vorteilhafte Insellage erhalten, welche sonst längst verloren gegangen wäre.


Der hohe Wert der Lagune zeigte sich zum ersten Male während der Zeit der Völkerwanderung, als das Festland von Venetien nach einander die Beute der Gothen, Sueven, Heruler, Franken und Langobarden wurde, die Lagune aber mit ihren Inseln einen sichern Zufluchtsort den Vertriebenen gewährte. Der Zug Attilas nach Italien im Jahre 452 und die Eroberungen der Langobarden im Jahre 640 gaben den hauptsächlichsten Anlass zur Bevölkerung derselben. Aus den bedrohten Städten des Festlandes flohen alle Einwohner mit ihrer Habe dorthin: ihre Behörden und ihre Geistlichkeit folgte ihnen und man setzte in getrennten Kolonien das gewohnte Gemeindeleben fort.

So entstand das Venitia nova oder See-Venetien, im Gegensatz zu dem durch die Feinde eroberten festen Venetien. Diese ersten Niederlassungen blieben auf den nordöstlichen Teil der Lagune zwischen dem Isonzo und der Livenza beschränkt. Die flüchtigen Einwohner vonAquileja, Coneordia und anderen Städten bevölkerten dann die Inseln Murano, Torcello, Mazarbo und Burano, die Einwohner von Ateste, Treviso und Altinum die Inselgruppe von Rialto und den Lido Malamocco, die von Padua, Este und Monfelice die Inseln Chioggia, Palestrina und Albiola, während die Bewohner von Feltre und Belluno an der Mündung des Sile (Piave) Eraklea gründeten. Unter den altgewohnten Einrichtungen lebten die Gemeinden Jahrhunderte lang in sicherem Frieden, während mehr als einmal Alles ringsum mit Feuer und Schwert verwüstet wurde. Kräftig und erfolgreich wandten sie sich in kühnen, glücklichen Seekämpfen gegen die seeräuberischen Bewohner Illyriens und Dalmatiens, und gewannen dadurch zuerst Sinn und Geschick für die Schifffahrt und den Seekrieg. Nachdem einmal ihr Unternehmungsgeist diese Richtung erhalten hatte, pflegten sie bald einen immer weiter greifenden Handel über's Meer, der in den mitgebrachten Hilfsmitteln, Schätzen und Gewerbskräften eine nachhaltige Stütze erhielt. Schon im 7. Jahrhundert sollen die Häfen Syriens, des Archipelagus und des Schwarzen Meeres hauptsächlich von venetianischen Schiffen belebt gewesen sein, und ihre Schifffahrtskunde und Kühnheit, wie ihr Reichtum an Schiffen, wird von den Schriftstellern jener Zeit anerkannt und hoch gerühmt.

Vor der Wut der Langobarden, welche der arianischen Lehre anhingen, flohen auch die Bischöfe von Oderzo, Altinum, Padua und der Patriarch von Aquileja auf die Lagunen, schlossen sich dem neuen Gemeinwesen an und gaben demselben dadurch auch kirchlichen Abschluss und entsprechende Unabhängigkeit. Die Langobarden folgten ihnen zwar bis in die Lagune, vermochten aber nur Grado zu erobern. Um so stärker befestigten die Venetianer die übrigen Inseln. Jede Stadt und jede Insel ernannte in besonderer Volksversammlung auch ihre besondere Oberbehörde, Tribunen, auf ein Jahr, die wieder bei allen wichtigen gemeinsamen Angelegenheiten zusammentraten und die Versammlung sämtlicher Bewohner der Lagune, arrenso, beriefen: so bildeten die Gemeinden in ihrer Gesamtheit eine föderative Republik. Die von Außen stets drohende Kriegsgefahr und die Fortschritte der Kolonien im Innern veranlassten im Jahre 503 die Wahl eines obersten Tribunen, der aber durch den Beirat der sämtlichen übrigen Tribunen beschränkt war. Im Laufe des VI. und VII. Jahrhunderts wurde diese Einrichtung, da man die zu große Macht des Einzelnen fürchtete, noch mannichfach umgeändert, bis endlich bei einem neuen Andrang der Langobarden vom Festlande und der Selavonier vom Meere her im Jahre 697 durch die Volksversammlung zu Eraklea ein Doge (dux) als Kriegsführer an die Spitze gestellt wurde. Paolo Lucas Anafesto, Bürger von Eraklea, wurde der erste Doge. Als solcher hatte er die Volksversammlungen zu berufen, die Heere zu befehligen, die Wahl aller Beamten und auch der Geistlichen zu leiten und die Prozesse in letzter Instanz zu entscheiden. Selbst dem Papst blieb nichts als das Recht über die Person des Geistlichen, und der Volksversammlung die Entscheidung über Krieg und Frieden. So ward Venedig aus einer Republik eine Wahlmonarchie. Anafesto regierte von Eraklea aus mit Klugheit und Strenge, hielt die inneren Parteiungen nieder, sicherte die bedeutendsten Inseln durch stärkere Festungswerke, legte eine Kriegsflotte an und reichgefüllte Waffenhäuser. Die Selavonier vertrieb er aus der Lagune und mit den Langobarden schloss er einen Vertrag, der Venedig die Unabhängigkeit und große Handelsvorteile sicherte. Nach zwanzigjähriger glücklicher Regierung folgte ihm Marcello Tegaliano (717), der mit eben so gutem Erfolge Venedigs Handel, Schifffahrt und inneren Wohlstand förderte. Der dritte Doge, Orso, ein Mann von kriegerischem Geiste, rüstete, da ein neuer Krieg zwischen den Langobarden und Griechen ausgebrochen war, eine zahlreiche Flotte und eroberte im Bunde mit dem vertriebenen Exarchen von Ravenna diese Stadt von den Langobarden zurück. Nach dem Siege jedoch erstrebte er in Venedig die unumschränkte Gewalt. Er wurde deshalb von dem erzürnten Volke im eigenen Palast erwürgt, und die Dogenwürde fortan als zu gefährlich für den Staat abgeschafft, dagegen ein jährlich zu ernennender „General der Miliz“ an die Spitze desselben gestellt.

Nachdem aber fünf Generäle hinter einander dem Staate nichts genützt hatten, wurde der fünfte abgesetzt und geblendet und Theodato Orso, Sohn des letzten Dogen, im Jahre 742 wieder zum Dogen erwählt. Dieser machte Malamocco zum Mittelpunkt von Venedig, errichtete auf der Insel Brandolo einen festen Turm gegen die Langobarden, wurde aber gleichfalls in einem Aufstand, da das Volk glaubte, der Turm sei gegen seine Freiheit erbaut, gestürzt und geblendet. Dasselbe Schicksal widerfuhr seinem Nachfolger Galla, dem Urheber des Aufstandes, desgleichen Domenico Monegario im Jahre 764. Endlich folgte wieder ein Doge, Mauricio Galbaio, der durch seine Mäßigung und durch die Strenge der eigenen Sitten, durch die Weisheit, mit welcher er sich stets als erster Bürger des Staates den Gesetzen unterordnete, sich das Vertrauen des Volkes auf die Dauer wieder zu erwerben wusste. Ihm gelang es, den Frieden der Republik im Innern wie ihre Unabhängigkeit nach Außen zu befestigen, letztere namentlich durch Verträge mit Pipin sowie mit dem griechischen Kaiser. Von den Langobarden, welche Karl der Große um diese Zeit aus Italien vertrieb, wurde Venedig ohne Kampf befreit. Tief bedauert vom Volke, starb dieser Doge im Jahre 787, nachdem sein Sohn Giovanni zu seinem Nachfolger erwählt war. Leider schlug dieser jedoch wieder eine entgegengesetzte Politik ein: er strebte mit Grausamkeit nach unumschränkter Macht und wurde deshalb im Jahre 804 durch einen Volksaufstand vertrieben. Sein Nachfolger Obelerio erregte durch seine zweideutige Politik Pipins Zorn, in Folge dessen die Städte Equilo und Eraklea verwüstet wurden. Als Obelerio in offentlicher Versammlung Unterwerfung verriet, wurde er zum Verräter erklärt und mit seinem Bruder, den er als Mitregenten angenommen hatte, verbannt. Darauf rüstete sich das Volk voll Begeisterung zur kräftigsten Gegenwehr, sperrte die Eingänge der Lagunen durch versenkte Barken, entfernte die Marksteine, welche den Lauf der Kanäle anzeigten, und verrammelte diese mit starkem Pfahlwerk. Unterdes nahm Pipin den Turm von Brandolo, die Insel Gioggia, Palestrina und Albiola und bereitete sich zum Sturm auf Malamocco. Da gaben die Bewohner auf den Rat des Angelo Participazio diese Stadt freiwillig auf und zogen Alle auf den durch einen breiteren Meeresarm geschützten Rialto. Die fränkischen Schiffe drangen mit der Flut in die Lagunen, um den Rialto zu erstürmen, gerieten aber, da sie den Lauf der Kanäle nicht mehr zu erkennen vermochten, bei eintretender Ebbe in seichtes Fahrwasser und erlitten so durch die leichten venetianischen Schiffe eine vollständige Niederlage. Von dieser blutigen Schlacht, die Venedigs Unabhängigkeit entschied, hieß der Kanal seit dem Canale orfano. Participazio ward darauf Doge, erbaute die zerstörten Städte neu, wobei Eraklea den Namen Citta nuova (Neustadt) erhielt, und machte den Rialto zum Mittelpunkt der Stadt. Die sechzig kleineren Inseln, welche diesen umgaben, wurden durch Brücken und durch eine große Umfassungsmauer mit einander verbunden, der Dogenpalast und eine große Anzahl prächtiger Gebäude erhoben sich in kurzer Zeit, und diese rasch erblühte neue Hauptstadt erhielt jetzt den Namen Venizia. Unter der Regierung Giustinianos, Participazios Sohn, wandten sich die Venetianer zuerst gegen die Sarazenen, womit ein für die Geschichte merkwürdiges Ereignis in Verbindung steht. Zwei venetianische Kaufleute, Bono von Malamocco und Rustico von Torcello, waren gerade in Alexandria, als hier die Kirche, welche die Gebeine des heiligen Mareus enthielt, von den Sarazenen ausgeräumt werden sollte. Zwischen Lagen von Speck und Schweinefleisch, das die Ungläubigen nicht anzurühren wagten, retteten sie das kostbare Behältnis, welches die Reliquie einschloss, auf das Schiff und brachten es glücklich nach Venedig. Hier wurden sie unter allgemeinem Jubel des Volkes empfangen, da Jeder glaubte, dass diese Reliquie die Republik unüberwindlich mache. Durch die Stiftung der Dogen wurde eine besondere Kirche dafür erbaut und der Ruf: „Es lebe der heilige Marcus!“ blieb seitdem Feldgeschrei und Wahlspruch der Venetianer.

Nach dem Tode Giustinianos folgte wieder eine Zeit des inneren Unfriedens und des Kriegsunglücks gegen die Sarazenen, bis im Jahre 864 Orso Participazio, der Enkel des „Vaterlandsretters“, im Bunde mit dem fränkischen König Karl dem Kahlen dem Vordringen der Sarazenen eine Grenze setzte und über seine Stadt einen 17jährigen ununterbrochenen Frieden heraufführte. Nach ihm folgten wieder unruhige und unglücklichere Zeiten, doch der Doge Pietro Tribuno stellte in glücklichen Kämpfen Venedigs Waffenruhm wieder her und verstärkte die Befestigung zu wirksamer Widerstandsfähigkeit gegen die andringenden Heeresmassen der Ungarn, welche der Doge nach mehreren blutigen Siegen von den Toren endlich zurücktrieb. Nicht minder kraftvoll und glücklich war die Regierung der beiden Nachfolger Orso Participazio und Pietro Candiano II.

In die Zeit des Letzteren fällt der berühmte Raub der venetianischen Bräute. Nach alter Sitte wurde die Trauung der edlen Bürger Venedigs an einem Tage und in derselben Kirche vollzogen. Am frühen Morgen des Tages vor Mariä Reinigung ruderten die glänzenden Barken nach der Insel Olivolo, wo die prächtig geschmückten Bräute von ihren Verwandten und einer großen Menge Volkes empfangen und zur Kirche geleitet wurden. Vorher aber hatten sich istrische Seeräuber auf der nächsten Insel verborgen und stürmten nun unversehens über den schmalen Kanal, trieben die unbewaffneten Begleiter der Bräute in die Flucht und ruderten mit Letzteren davon. Doch eben so rasch folgte auf die erste Kunde der Doge mit den Verlobten und erreichte die Räuber noch in den Lagunen von Caorla. Nach wütendem Kampfe, worin Letztere alle niedergemacht wurden, kehrten die Sieger mit den Bräuten im Triumph zurück. Zum Gedächtnis feierte Venedig jährlich das Fest della Maria, wobei zwölf prächtig geschmückte Mädchen mit zahlreichem Gefolge einen Umzug hielten, den ein glänzendes Gastmahl schloss.

Innerer Unfriede und insbesondere die Parteiungen zwischen den Morosini und Caloprini brachte Venedig wiederum eine Zeit lang tief herunter, bis der Doge Urseolo II. (991) eine neue glänzende Zeit, die Zeit der großen Eroberungen, heraufführte. In Folge der Wirren im griechischen Kaiserreich hatten sich an der Adriatischen Küste eine Menge Republiken gebildet, die jetzt zum Zweck gemeinsamer Verteidigung einen Bund schlossen und die Republik Venedig an ihre Spitze stellten. Mit einer zahlreichen Flotte erschien nun der Doge im Jahre 997 an der Istrischen Küste, nahm von allen Städten den Lehnseid und unterwarf ganz Dalmatien, so dass nach seiner Rückkehr dem Staatsoberhaupte der Titel eines „Herzogs von Venedig und Dalmatien“ beigelegt wurde. Unter den folgenden Dogen führte Venedig mit abwechselndem Glück Kriege gegen seine Nachbarn, insbesondere gegen die Normannen. Inzwischen war durch das Vordringen der Türken in Kleinasien Venedig in seiner Handelsstellung sehr bedroht, denn die Ungläubigen machten sich eine Stadt nach der andern untertänig, wo sich Venedig einen sicheren Markt erworben hatte. Jetzt drohten sie durch Ausbreitung ihrer Herrschaft über den griechischen Archipelagus die Handelsstraße nach Asien völlig zu versperren.

Daher schloss sich die Republik unter dem Dogen Vitale Michieli mit einer Flotte von 200 Segeln dem ersten Kreuzzuge an und unterstützte auf das Kräftigste die Eroberung Jaffas durch Gottfried von Bouillon. Zum Dank für seine Dienste erhielt Venedig nach Eroberung des Morgenlandes im Jahre 1104 ein Viertel von Ptolemais (S. Jean d’Acre) und das Recht, im ganzen Umkreis des neuen Königreichs ungehindert Handel zu treiben. Dasselbe Recht erhielten jedoch auch die Pisaner und Genueser, wodurch der Grund zu den hundertjährigen Kriegen mit diesen Republiken gelegt wurde. — Eben so kräftig schlossen sich im Jahre 1117 die Venetianer den Kreuzfahrern an, welche dem gefangenen König Balduin Hilfe brachten. Unter Domenico Michieli halfen sie Jaffa, Asealon und Tyrus wieder erobern und gelangten hierdurch in Besitz eines Drittels jeder dieser Städte sowie in allen übrigen zu einer Straße mit Markt und Kirche.

Aus Furcht vor der außerordentlich wachsenden Macht und Handelsblüte der Venetianer schloss der griechische Kaiser Alexius Komnenus mit dem König Stephan von Ungarn ein Bündnis gegen die Lagunenstadt. Sogleich war aber Domenico Michieli mit der venetianischen Flotte da, eroberte Rhodus (1125) und Skios, nahm den Ungarn Dalmatien wieder und hob Venedigs Ansehen auf so glänzende Höhe, wie nie zuvor. Domenicos Nachfolger Pietro Polani kämpfte ebenso glücklich gegen die Pisaner und Paduaner, schlug im Bunde mit dem wieder versöhnten griechischen Kaiser die Normannen in mehreren Schlachten und erwarb dadurch freien Handel für die venetianischen Kaufleute auf der Insel Sicilien, zugleich vom griechischen Kaiser auf Cypern und Kreta.

Neue Feindseligkeiten mit dem griechischen Kaiser brachen unter dem Dogen Vitale Michieli aus. Mit einer Flotte von 120 Schiffen segelte dieser an die dalmatinische Küste, ließ sich hier aber durch falsche Friedensverhandlungen so lange festhalten, bis die Pest über die Flotte kam. Als ein Teil der Schiffsmannschaft weggerafft war, griff die griechische Flotte an und trieb die venetianische mit großen Verlusten nach Venedig zurück, wohin nun auch die Pest eingeschleppt wurde. Voll Zorn darüber ermordete das Volk den Dogen.

Durch die Quarantia, ein aus 40 Mitgliedern bestehendes Gericht, wurde nun die Verfassung der Republik dahin verändert, dass künftig die sechs Stadtteile jährlich 12 Wähler, diese aber aus Bürgern aller Klassen 470 Personen zu einem „großen Rat“ ernannten. Dieser hatte über alle wichtigen Angelegenheiten des Staates Beschluss zu fassen: daneben sorgte ein Ausschuss aus demselben von 60 Personen als „Senat“ für Vollziehung der Beschlüsse, während ein kleinerer Rat von sechs Personen dem Dogen beschränkend an die Seite trat.

Der nächste Doge war Sebastiano Ziani, 1172, der im Bunde mit Papst Alexander III. glücklich gegen Kaiser Friedrich I. kämpfte und dadurch zu dem Friedensschluss dieses Kaisers mit dem Papste viel beitrug. Zum Dank für diese Hilfe wies der Papst der Republik Venedig die Herrschaft über das Adriatische Meer an und übergab dem Dogen als Symbol solcher Belehnung einen Ring mit den Worten: „Durch dies Zeichen sollt ihr und eure Nachfolger euch alljährlich mit dem Meer vermählen, auf dass dasselbe euch und eurer Gattin unterworfen sei, wie die Gattin dem Gatten.“ Seitdem fand jährlich am Himmelfahrtstage das große Nationalfest statt. Auf der von Gold strahlenden und mit kostbaren Teppichen ausgeschlagenen Staatsgaleere, dem Bucentauro, fuhr der Doge, vom Adel und den obersten Staatsbeamten umgeben, nach dem Paß des Lido und warf hier unter den Gesängen der Geistlichkeit und vor den Augen aller Gesandten einen goldenen Ring in das Meer mit dem feierlichen Ausruf: „Wir vermählen uns dir, Meer, zum Zeichen einer beständigen Herrschaft!“

Der folgende Doge Orio Malapiero schloss sich dem dritten Kreuzzug unter Philipp August von Frankreich und Richard Löwenherz an und half Ptolemais wieder erobern. Ihm folgte Enrico Dandolo, der größte Mann der venetianischen Geschichte. Zwanzig Jahre vorher war er als venetianischer Gesandter in Konstantinopel vom Kaiser Komnenus geblendet worden, jetzt bestieg er als blinder Greis von 80 Jahren den Thron.

Die Türken hatten damals Jerusalem besetzt, den König Lusignan gefangen und das neue christliche Königreich aufgelöst. Nachdem mehrere Kreuzheere vergeblich versucht hatten, Hilfe zu bringen, sammelte sich auf des Papstes Innocenz III. Mahnruf ein gewaltiges Kreuzheer unter Führung des Grafen Balduin von Flandern, Ludwigs von Blois, Gottfrieds von Perche und anderer, hauptsächlich französischer Großen. Venedig sollte die Überfahrt besorgen und ein Heer von 9.000 Schildknappen, 4.500 Rittern und 20.000 Mann zu Fuß überführen gegen eine Bezahlung von 85.000 Mark feinen Silbers (ungefähr 1.300.000 Thlr.). Außerdem stellte Venedig eine Beihilfe von fünf bewaffneten Galeeren und bedung sich dafür die Hälfte der Beute und Eroberungen aus. Als aber die Kreuzfahrer (im Jahre 1202) das verabredete Fahrgeld nicht völlig aufzubringen vermochten, mussten sie dafür der Republik die Stadt Zara und andere Orte Dalmatiens und Istriens zurückerobern helfen. Dandolo, jetzt 94Jahre alt, führte am 8. Oktober 1202, unter der Fahne des heiligen Marcus, die Flotte aus der Lagune, im Ganzen 40 venetianische Kriegsgaleeren und 430 Transportschiffe. Nach fünftägigem Sturm ward Zara erobert: doch die über die Beute entstandenen Zwistigkeiten sowie die Drohungen des Papstes, der mit solcher Richtung des Kreuzzuges höchst unzufrieden war, zwangen die Flotte, in diesem Hafen zu überwintern. Unterdessen kam Alexius, der Sohn des von seinem Bruder Alexius vertriebenen griechischen Kaisers Isaak Angelus, zu der Kreuzflotte und bat um Hilfe zur Eroberung Konstantinopels. Dandolo, die großen Vorteile derselben für seinen Staat erkennend, ging trotz der wiederholten Banndrohung des Papstes am 8. Juni 1203 mit seinerFlotte im Kanal von Konstantinopel vor Anker. Nachdem bei Skutari, im Angesichte der Kaiserstadt, ein Lager geschlagen war, führte Alexius zur Verteidigung 70.000 Mann aus den Mauern, die aber beim ersten ungestümen Angriff der Kreuzfahrer entflohen. Nachdem der Turm von Galata, der Schlüssel des Hafens, erobert und die griechische Flotte vernichtet war, wurde am 4. Juli ein allgemeiner Sturm unternommen, bei welchem die Franzosen vom Lande, die Venetianer vom Hafen aus vordrangen. Dandolo, von Kopf bis zu Fuß gewappnet, mit dem Banner von San Marco auf dem Vorderteil seiner Galeere stehend, befahl die Landung und stieg selbst als der Erste an sLand. Er eroberte mit seinen Venetianern im unaufhaltsamen Vordringen 25 Türme. Da jedoch die Franzosen vor einem Ausfall der Griechen zurückwichen, mussten auch die Venetianer den Rückzug antreten. Am nächsten Tage aber floh Alexius mit seiner Tochter Irene und seinen Schätzen in die Bulgarei, worauf die Griechen die Tore öffneten und Isaak auf den Thron setzten.

Nach achttägiger Belagerung wurde am 1. August 1203 der glänzende Einzug gehalten. In Folge neuer Aufstände ging Konstantinopel allerdings wieder verloren und musste am 9. April 1204 zum zweiten Mal erobert werden, worauf die Wahl Balduins von Flandern zum Kaiser und die Teilung des griechischen Reiches erfolgte. Venedig erhielt außer der Hälfte der unermesslichen Beute einen Teil von Konstantinopel und 1 ½ Viertel des griechischen Kaiserreichs, dazu die Insel Candia, welche später als ein besonderes Königreich die wichtigste Provinz Venedigs wurde. Durch diese glänzenden Kriegstaten wurde die Republik auf die Höhe ihrer Macht und Handelsstellung gehoben. Selbst nur eine Stadt von höchstens 300.000 Einwohnern, übte sie jetzt die Herrschaft über einen Länderbesitz von 7 — 8.000 Quadratmeilen mit 7 — 8 Millionen Einwohnern aus, dessen Behauptung auf die Dauer freilich weit über die Kräfte des Handelsstaates ging und in der Folgezeit denselben in unaufhörliche und verderbliche Kämpfe verwickelten.

Als wichtigste Folge dieser Eroberungen erhielt Venedig die Herrschaft über den östlichen Teil des Mittelländischen Meeres und somit über den gesamten levantinischen Handel. Beide Vorteile wurden freilich trotz allen Kriegsglückes unaufhörlich von den Pisanern und Genuesen streitig gemacht. Der Welthandel des Mittelalters beruhte vor Allem auf dem mächtigen Warenumtausch zwischen den asiatischen Ländern bis an die indischen Meere und den Reichen Europas. Bis gegen das vierzehnte Jahrhundert war die indische Welt — damals nannte man Indien den größten Teil des asiatischen Weltteils — mit den kleinasiatischen Küstenländern und Konstantinopel das eigentliche Erzeugungsgebiet für alle die kostbaren und kunstreichen Waren, welche die prachtliebenden Fürsten- und Ritterstände des Abendlandes auf beiden Seiten der Alpen nicht entbehren mochten. Die reichen Naturerzeugnisse des Morgenlandes und Ostindiens bildeten damals schon einen Teil seiner unermesslichen Ausfuhr, denn nach und nach lernte selbst das nördliche Europa die Früchte, Gewürze und Drogen der heißen Zone kennen und schätzen. Wichtiger aber noch war die Ausfuhr einer Menge von Erzeugnissen der Industrie, insbesondere der kunstreichen Weberei und Stickerei in Seide, Wolle und Baumwolle. Alle kostbaren Stoffe von Atlas, Damast. Zindeltaft, Gold- und Silberbrokat mit ihren reichen, phantastischen Mustern, deren Kunstvollendung wir jetzt in so manchen Sammlungen bewundern, alle feinen Woll- und Baumwoll- Webereien, deren altberühmte Namen noch jetzt unsere Nachahmungen führen, kamen aus jenen uralten Sitzen der Industrie und waren im Abendlande jeder Kirche und jedem vornehmen Haus zu Gewand und Zierde unentbehrlich. Aber auch die Künste, welche in den edlen Metallen und unedlen Steinen arbeiten, lieferten bis ins dreizehnte Jahrhundert aus dem Morgenlande dem in der Kunstentwickelung noch zurückgebliebenen Abendlande eine Menge kostbarer und vielbewunderter Kunstwerke. Konstantinopel bildete einen Hauptsammelplatz für die eben so unerschöpflichen wie reichen Warenströmungen und war ein Hauptträger des Austausches derselben mit den tiefer stehenden Erzeugnissen Europas. Auch war jene, damals Welthandelsstadt, selbst der Sitz einer blühenden Kunstindustrie, einer reich entfalteten Seiden-, Gold- und Silberwirkerei wie aller feineren Schmiedekünste und führte eine Menge der kostbarsten Waren in den Welthandelsstrom. Die nordwestlichen Küsten des Mittelmeeres, die italienischen, französischen und spanischen Küstenstädte, Venedig, Pisa,Genua, Marseille, Barcelona u. a., erscheinen zuerst auf europäischer Seite als Träger dieses Welthandels, führen die Waren ihrer Hinterländer, bald auch der Länder nördlich der Alpen, insbesondere Getreide, Mehl und Hülsenfrüchte, alle Arten Waffen und Kriegsgerät, Schiffs- und Bauholz jeder Gestalt, alle Bedürfnisse des Schiffsbaues, die unedlen Metalle, als Stabeisen und Eisendraht, Stahl, Kupfer, Blei, und Geräte aus diesen Metallen, Leinwand, Kleidungsstoffe u. dgl. m., den Griechen zu, um von diesen die asiatischen Waren als Rückfracht einzutauschen. Bald entwickelte sich aus dieser Zu- und Abfuhr eine Konkurrenz mit dem griechischen Handel und das Streben, ohne Vermittlung Konstantinopels die Erzeugnisse Asiens einzutauschen. Begünstigt wurde dasselbe durch die Berührung mit den handels - und gewerbskundigen Arabern, welche unabhängig von den Griechen die Waren eines Teiles von Asien und Afrika an die südlichen Küsten des Mittelmeeres führten und hier mit europäischen Handelsschiffen zusammentrafen. Marseille, Pisa, Genua, Avignon, Lyon standen um die Mitte des zwölften Jahrhunderts schon mit Alexandria in regelmäßigem Verkehr, denn zweimal im Jahre holten ihre Kauffahrer hier die arabischen und indischen Waren. Venedig wurde durch seine enge Verbindung mit Konstantinopel und dem griechischen Kaiserreich zuerst von dem Handel mit Ägypten und Syrien fern gehalten, ein solcher hier sogar im IX. Jahrhundert geradezu verboten: dennoch war auch diesem Handelsstaat der ergiebigere und unabhängigere Handelsweg nicht mehr abzuschneiden, und die Überführung der Gebeine des heiligen Macus beweist, dass venetianische Kauffahrer den Weg in jene Häfen schon gefunden hatten. Noch während der Kreuzzüge wurde dieser Handel insbesondere mit Waffen, Metallen und Schiffsbedarf wiederholt, doch stets vergeblich untersagt, und heimlich und öffentlich trat Venedig auch hier den wetteifernden Städten mit Glück an die Seite. Diese zusehends mächtiger aufblühende neue Handelsrichtung schwächte die Handelsbedeutung Konstantinopels mehr und mehr ab. Die Überführung der Kunstindustrie in die italienischen, französischen und spanischen Handelsstädte tat seiner gewerblichen Größe immer weiteren Abbruch, die Eroberung durch Venedig und die Kreuzfahrer legte beide gänzlich nieder.

002 Der Bucentauro, oder das Dogenschiff.

003 Venetianische Galeere aus späterer Zeit

004 Abschied der Gebrüder Poli von Konstantinopel. (Diese und die folgenden Abbildungen sind dem Livre des mervilles, einem französischen Manuscripte vom Ende des XIV. Jahrhunderts, das in der kaiserlichen Bibliothek zu Paris bewahrt wir, nachgebildet.)