An Theodor Storm - Zürich, den 21. November 1882.

Liebwertester Freund und Storm!

Endlich fließt mein durch allerlei Trubel gestörtes Wässerlein wieder so ruhig, daß auch die leichten Briefblätter darauf schwimmen können, wie üblich. Mein Wohnungswechsel verlief widerwärtig und mühevoll. Das Gerümpel eines seit 1817 bestehenden Haushaltes mit noch dreißig Jahre älteren Nichtswürdigkeiten, die sich immer mitschleppen, war wie verhext und von Bosheit besessen. Beim Öffnen einer alten Schachtel fand ich unser ehemaliges Taufhäubchen von rotem Sammet, worin vermutlich die sechs ›gehabten‹ Kinder der Mutter getauft worden sind. Eine dabei liegende dicke seidene Fallmütze in Form einer Kaiserkrone war mir bekannt, und ich wußte, daß ich sie selbst getragen hatte. Nun gut, eine Stunde später purzelte ich von der Bücherleiter mit einem Arm voll Bücher hinunter und schlug den Schädel beinahe zuschanden; man mußte mir die Schramme zunähen. Es war Sonntags am 1. Oktober, nachdem ich, wie gesagt, vorher meine Kinderfallmütze in der Hand gehabt von Anno 1820 oder 21. In diese Ironie des Schicksals mischte sich noch ein Tropfen Selbstverachtung; denn die Schuld des Sturzes lag in einer meiner Charakterschwächen. Ich war in den Laden eines Schusters gegangen, um ein Paar warme Pantoffeln für den Winter zu kaufen; da er keine passenden von der verlangten Art hatte, ließ ich mir mit offenen Augen ein Paar aufschwatzen, das für meinen Fuß anderthalb Zoll zu lang war, eben weil ich nie den Mut habe, aus einem Laden wegzugehen, ohne zu kaufen. In diesen Pantoffeln blieb, wenn ich darin stand, vorn vor den Zehen ein leerer Raum, und auf diesen trat ich, als ich, von der Leiter heruntersteigend, die untere Stufe suchte.


Derlei Ärgernis hat mich denn auch verhindert, vor Mitte Oktober auf das Museum zu gehen und Ihre ›Kirchs‹ aufzusuchen. Und als ich die Hälfte gelesen und nach einigen Tagen wieder hinging, war der ›Westermann‹ des Monats verschwunden und ein neuer an der Stelle, ganz ausnahmsweise; denn gewöhnlich kommt das Heft immer zu spät. So habe ich einstweilen nur sehen können, daß Sie mit kräftiger Hand, wie immer, geschrieben oder vielmehr geschafft haben, und obgleich ich die harten Köpfe, die ihre Söhne quälen, sonst nicht liebe (als poetische Gestalten), so habe ich doch schon gesehen, daß die Sache hier so sein muß, um die neue Schöpfung Ihrer Resignationspoesie organisch zu gestalten. Ich habe das Ende der Novelle schnell angesehen und muß nun noch das Zwischenschicksal des Sohnes erfahren. Die Wendung mit dem unfrankierten Brief ist ebenso schauerlich als verhängnisvoll. Man fühlt mit, wie wenn der alte Geldtropf ein Schiff voll lebendiger Menschen in die brandende See zurückstieße. Ich werde mir das Heft nächstens mit Beschlag legen, sobald es der fortschlepperische Verehrer wieder abgeliefert hat.

Nun sind auch die Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer erschienen. Sie sollten sich den Band ansehen oder vielmehr fest anschaffen; es würde Sie nicht gereuen, und Sie werden an diesen langen Winterabenden auch Ihre Damen mit mehr als einer guten Vorlesung regalieren können. Auch dem Herrn Sohn, dem Juristen, würden die Sachen Freude machen.

Übrigens wünsche ich Ihnen, wie Freund Petersen, ein ausgiebig genießliches, feierlich geschäftiges Herannahen der Jultage mit hundert Vorschmäcken, namentlich einen gelungenen Märchenzweig, und hoffe, daß das Notwendigste, eine gute Gesundheit, dermalen reichlich vorhanden ist. Schönste Grüße von

Ihrem
G.Keller

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe