An Maria Knopf - Maria Knopf hatte im August 1883 Keller eine Sendung Kirschwasser aus der Besitzung ihres Vaters im Schwarzwald gesandt. Ihr Vater war Senator der Stadt Frankfurt a. M. - 22. Januar 1884

Verehrtes Fräulein!

In Ihrem gütigen Briefe vom 16. November haben Sie eine so liebenswürdige und anmutige Schilderung von sich selbst gemacht, daß ich mich nicht sympathischer erweisen zu können glaubte, als wenn ich meiner Trägheit den Zügel schießen ließ, um die holde Bequemlichkeit, deren Sie sich so artig beschuldigen, zu überbieten. Das hatte ich zwar nicht einmal nötig; denn von meiner Faulheit zeugt ja schon der kleine Katalog meiner Ihnen bekannten Werke, den Sie mir mitteilten und der trotz seiner Kürze so vollständig ist, daß ich Ihnen nicht ein noch ungelesenes Buch senden konnte, das aus meiner Fabrik hervorgegangen!


Ich habe zwar immer vor, mich noch recht fleißig zu erweisen, wobei ich auf die Langeweile, Geiz, Eigensinn und andere Übel rechne, welche manchen alten Leuten anhaften und sie zur Tätigkeit anspornen; allein ich bin noch keineswegs sicher, ob die Torheiten bei mir einen so günstigen Verlauf nehmen werden.

Nun danke ich Ihnen aber auch allerschönstens für die neuste Güte und den freundlichen blumigen Weihnachtsgruß! Sie sind ja eine stete reizende Wandelbarkeit in aller Ruhe, deren Sie sich erfreuen! Aus einer würdigen Matrone, die ich mir vorstellte, ist ein Fräulein, sogar eine Senatorstochter geworden, aus der Gärtnerin vom Schwarzwald eine Zuckerbeckin (wie man hier zu sagen pflegt); denn ich bin schon so vorwitzig, mir einzubilden, daß das süße Hausgebäck unter Ihrer eigenen Aufsicht entstanden sei.

Die Vorstellung solchen Fleißes hätte mich fast verleitet, an einem kleinen Roman, den ich jetzt schreibe, rascher zu arbeiten und das tägliche Pensum zu vergrößern; jedoch fürchtete ich bei reiflicher Überlegung, Ihnen durch ein so tobsüchtiges Gebaren zu mißfallen, was ich nicht wünschte.

Soeben fällt mir ein, daß im letzten Spätjahr ›Gesammelte Gedichte‹ von mir erschienen sind, die zwar kein Damenbuch genannt werden können und zum guten Teil Ihnen schon bekannt sind. Ich werde mir daher erlauben, Ihnen den unförmlichen und sehr problematischen Band gelegentlich doch zu senden und Sie zu bitten, die alten, noch kruden Wildlinge, die Sie haben, dafür zu verbrennen.

Da der Januar noch nicht vorbei ist, so schließe ich meine herzlichsten Wünsche für gegenwärtiges Schaltjahr an. Möge dasselbe Ihnen seine 366 Sonnen wenigstens in der Seele schon und gleichmäßig heiter aufgehen lassen und über Ihrem und des Kaisers Reich freundlich hinweggehen.

Ihr mit größter Hochachtung ergebener

Gottfr. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe