An Marie Melos - Schwägerin von Ferd. Freiligrath. - Zürich, den 29. Dezember 1880.

Hochverehrte Fräulein und teuerste Freundin!

... Herr Weibert hat mir geschrieben, er werde Ihnen ein Exemplar des ›Grünen Heinrichs‹ senden, der erst im Spätherbst fertig geworden. Das Buch ist von der Mitte des dritten Bandes an neu geschrieben; Sie brauchen also das frühere nicht zu lesen. Ich habe allerlei hineingeflunkert, um es deutlicher zum Roman zu machen; denn noch immer gibt es Esel, die es für bare biographische Münze nehmen. Das Tollste ist, daß jetzt, nachdem ich ein Jahr redlich daran gearbeitet habe, um allerlei Ungeschmack auszumerzen, und nachdem fünfundzwanzig Jahre lang die Leute sagten, der Tod des Heinrich sei unmotiviert und gewaltsam, Kritiker kommen und behaupten, er müsse tot bleiben, und die alte Ausgabe sei besser. So geht es mir wie dem Bauern in der Fabel, der mit seinem Sohn und seinem Esel zu Markt ging und zuletzt dazu kam, mit dem Sohne den Esel zu tragen.


Ich bin jetzt etwas fleißiger als vorigen Winter. Ich schmiere frische Novellen in die ›Deutsche Rundschau‹, die vom Januar bis April oder Mai monatlich fortgesetzt werden. Da es ein Buch daraus gibt, so werden Sie das Zeugs auch noch zu lesen bekommen, wenn Sie mir bis dahin gewogen bleiben. Haben Sie einen schönen Sommer und Herbst gehabt?

Es dunkelt, und ich muß in die Stadt, um eine kalte Pastete und eine Torte für die nächsten Tage zu bestellen, sowie Konfekt für zwei Patenkinder. Denken Sie sich die Schändlichkeit: erst in den letzten Jahren bin ich wiederholt zu Gevatter gebeten worden; ich mußte in der Kirche herumstehen, Knickse machen und jetzt alljährlich auf Geschenke denken, Schaumünzen oder Sparbüchsengeld einwechseln und so weiter, kurz, was einen armen alten Kerl nur ärgern kann.

Verleben Sie ein friedliches und süßes Neujahr, und verdienen Sie sich ferner den Himmel an mir, als

Ihrem treu ergebenen
Gottfr. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe