An Wilhelm Petersen - Zürich, den 21. April 1881.

Mein lieber Herr und bester Freund!

Da Sie nicht nur die Fische des Meeres, sondern auch die Vögel der Luft gegen mich absenden, so muß ich den Vorsatz, an Sie zu schreiben, endlich zur Tat werden lassen. Seit Neujahr habe ich alles Briefschreiben und Privat- und Freundschaftssachen wieder einmal müssen liegen lassen, nicht weil ich nicht manche müßige Stunden und Tage dazu gefunden hätte, sondern weil gerade das Briefschreiben con amore mit dem Schriftstellern zu nah verwandt ist, wenigstens wie ich dieses treibe, und daher ein Allotrion zu sein scheint, wenn die Setzer auf Manuskript lauern. Der eigentliche Müßiggang aber, bestehe er in Lektüre oder in irgend einer anderen eigensinnigen heterogenen Übung, trägt immer seine göttliche Berechtigung des Daseins ›an sich‹ in sich. Und so scheut man sich, Briefe zu schreiben, indessen man sich nicht entblödet, plötzlich ein historisches Kapitel zu studieren oder ein paar Tage zu zeichnen und dergleichen.


Also die zierlichen Kiebitzeier sind glücklich angekommen und in ihrer ganzen Schmackhaftigkeit verzehrt worden, nicht ohne einiges Mitgefühl an den Hervorbringern, denen so räuberisch zu Nest gestiegen wird. Mit der Adresse meines herzlichen Dankes bin ich etwas verlegen; denn eine auf dem Kistchen haften gebliebene Adresse zeigt an, daß die Nordfrüchte rechtmäßig zuerst der Frau Gemahlin angehört haben. Ich kann nicht untersuchen, ob eine Gewalttat in Form einer Besteuerung oder einer einfachen Wegnahme, Konfiskation, oder einer Überredung, eine gütliche Transaktion stattgefunden hat, und bitte nur, meinen Dank nach dem Gebote Ihres Gewissens ausrichten und verteilen zu wollen! -

Ihre und Freund Storms Weihnachtsfreuden habe ich voll Teilnahme aus der Ferne mitgetan; dergleichen scheint blühender und intensiver zu werden, je weiter hinauf es nach Norden geht, und der goldene Märchenzweig schimmert gar feierlich herüber, nur weiß ich nicht, auf welche Art die Lärchennadeln vergoldet sind. Ein bloßes Anwerfen von Goldschaum wird schwerlich genügen. Ihr Treiben mit den Kindern am Neujahrsmorgen hat mich wieder recht erbaut. Sie sammeln ihnen den schönsten Schatz von Erinnerungen, der fast notwendig spät noch Früchte tragen muß ...

Ihre Äußerungen wegen des pathologischen Zuges, der Ihnen eigen sei, berühren schmerzlich, weil Sie einen Zug, den viele unbewußt haben, mehr fühlen als die anderen. Mehr oder weniger traurig sind am Ende alle, die über die Brotfrage hinaus noch etwas kennen und sind; aber wer wollte am Ende ohne diese stille Grundtrauer leben, ohne die es keine rechte Freude gibt? Selbst wenn sie der Reflex eines körperlichen Leidens ist, kann sie eher vielleicht eine Wohltat als ein Übel sein, eine Schutzwehr gegen triviale Ruchlosigkeit ...

... Die Sinngedichtsnovellchen, deren Anfang Sie gelesen, gehen im Maiheft der ›Rundschau‹ zu Ende. Ich bin jetzt an der Sammlung und Korrektur meiner sämtlichen lyrischen Sünden begriffen, ein bedenkliches Unterfangen; doch kann ich nicht mehr warten, sonst bring ich nichts mehr zustande. Dann denke ich auf einen kleineren Roman, von dem ich aber noch nicht viel zu sagen weiß.

Nochmals Dank also für alle Ihre Güte und Freundlichkeit und eine schöne Empfehlung an die verehrte beraubte Frau Regierungsrat.

Ihr alter
G.Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe