Heidelberg, den 7. Dezember 1849.

Teure Freundin!

Obgleich ohne Berechtigung war ich doch in einer Art unbestimmter Erwartung, daß ich heute oder morgen noch etwas Freundliches von Ihnen empfangen würde. Die bittere Notwendigkeit zwang mich in diesem instinktmäßigen Hoffen, und kein liebevoller Gruß hat je seine Sendung besser erfüllen können, als Ihr letzter vor Ihrem Scheiden. Die Gewißheit, daß nichts Konventionelles in Ihrer Handlungsweise sein kann, hat mir seine Wirkung noch versüßt. Trotz des leidenschaftlichen Lebens, welches ich seit einiger Zeit geführt habe, hätte ich doch nicht geglaubt, daß es mir noch so elend zu Mute sein könnte, als es mir vergangene Nacht und den Morgen darauf gewesen ist. Ich war die letzten Wochen hindurch sozusagen glücklich gewesen, ich kannte nichts Wünschenswertes mehr, als einige Stunden mit Ihnen zuzubringen, und war ich bei Ihnen, so dachte ich in glücklicher Vergessenheit weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit, nicht an mich selbst und nicht einmal an Sie. Ich hatte von der ganzen Welt genug, wenn ich auf den Bergen hinter Ihnen oder neben Ihnen hergehend Ihre Stimme fortwährend hörte und manchmal in Ihr Gesicht sah oder im Zimmer auf Ihre Hände schauen konnte, wenn Sie etwas arbeiteten. Es war gerade kein rühmlicher Zustand, und es ist vielleicht unschicklich, daß ich Sie noch mit diesen Klagen in die Ferne verfolge, Sie, welche genug selbst zu tragen haben. Aber erstens kann ich den heutigen Tag nur dadurch erträglich zubringen, daß ich irgend etwas an Sie schreibe; und dann werden Sie auch, wenn Sie diese Zeilen erhalten, überzeugt sein können, daß es mir wieder frischer und besser zu Mute ist. Ich will Ihnen zukünftig nie mehr von meiner Liebe schreiben, sondern ganz vernünftig von Menschen und Dingen, die ich sehe, und mit tausend Freuden von Ihnen selbst und Ihrem Schicksale, wenn ich Ihnen auf Ihre Aufforderung irgend etwas Gutes oder Aufmunterndes sagen kann. Nur muß ich Sie bitten, immer und so lange zu leiden und zu glauben, daß mein Herz an Ihnen hängt, auch wenn ich nichts mehr davon sage, bis ich Ihnen selbst meinen Abfall verkündige; und ich werde fröhlichen Sinnes der erste sein, welcher die drückende Last von Ihnen und mir zugleich nimmt. Daß dies jedoch bald geschehen werde, daran zweifle ich selbst. Meine Jugend ist nun vorüber, und mit ihr wird auch das Bedürfnis nach einem jugendlich poetischen Glücke schwinden; vielleicht, wenn es mir in der Welt sonst gut geht, werde ich noch ein fröhlicher Mensch, der diesen oder jenen Winterschwank aufführt. Mein Herz aber einem liebenden Weibe noch als bare Münze anzubieten, dazu, dünkt mich, habe ich es nun schon zu sehr abgebraucht und werde es noch ferner abbrauchen, bis es nur von Ihnen frei ist. Und was sollte ich auch mit den heiligen und süßen Erinnerungen anfangen, müßte ich nicht jeden traurigen oder glücklichen Moment, welchen ich früher verlebt, wie etwas Verstohlenes verbergen und verschweigen? Es wäre mir ganz ärgerlich, zu denken, daß ich z. B. die letzte Nacht umsonst so traurig gewesen wäre und sie ganz aus meinem Gedächtnisse vertilgen müßte.


Ich hatte ganz fest geschlafen bis gegen Morgen; aber um 1/2 3 Uhr erwachte ich, wie wenn ich selbst verreisen müßte. Während ich munter wurde, kam es mir nach und nach in den Sinn, worum es sich handelte. Ich ging ans Fenster und sah jenseits des Neckars Licht in Ihrem Zimmer; es strahlte hell und still durch die helle Winternacht und spiegelte sich so schön im Flusse, wie ich es noch nie gesehen. Obgleich von Schlaf keine Rede mehr war, so hätte ich doch um keinen Preis ein Licht angezündet, aus Furcht, Sie möchten es bemerken; und ich wollte Ihnen mein armseliges Bild nicht noch aufdrängen bei Ihrer sonstigen Aufregung. Nach einiger Zeit glaubte ich einen Wagen hinausfahren zu hören, und bald drauf rollte er zurück über die Brücke. Jetzt geht sie, dachte ich, drückte mein Gesicht in das Kissen und führte mich so schlecht auf wie ein Kind, dem man ein Stück Zuckerbrot genommen hat. Den ganzen Vormittag war ich dumpf und tot und sagte nur: diese Zeit wird auch vorübergehen! Ja, sonderbarerweise mischte sich in meine Trauer ein Ärger über jene kahlen Jahre, wo ich, wie ich vorauszusehen glaubte, über meinen jetzigen Schmerz lächeln würde, und gerade aus diesem Ärger lauschte eigentlich nur meine einzige Hoffnung, die Hoffnung auf jene Zeit der Ruhe und Unbefangenheit. Es war der altbekannte Strohhalm des Ertrinkenden.

Da brachte mir Max nach Tisch Ihr allerliebstes Briefchen, welches mir wie eine Sonne aufging. Ihre lieben Worte versetzten mich bald in die Normalstimmung, in welcher ich nun längere Zeit bleiben werde. Ich wurde so aufgeweckt, daß ich singend in meinen Papieren zu kramen anfing und Sie auf eine Viertelstunde rein vergaß! Darauf machte ich einen tüchtigen Spaziergang und wurde wieder traurig; und nun schreibe ich an Sie. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie weich und lind mich Ihr Wunsch überkommen hat, daß ich Ihnen unter allen Lebensverhältnissen gut bleiben möchte! Das ist doch halbwegs das, was ich gewünscht habe, eine Heimat in einem edlen und verständnisreichen weiblichen Herzen, und mehr will ich jetzt nicht. Ach, ich glaub, ich schreibe immer das gleiche, das ist ein sehr langweiliger Brief für Sie; aber ich schreibe ihn nur für mich, Sie brauchen ihn nicht auf einmal zu lesen, und wenn es Ihnen unbequem ist, denselben aufzubewahren, so verbrennen Sie ihn sogleich. Ich will künftig über andere Dinge schreiben und nicht mehr so viel. Heut abend will ich zu Hettners gehen, damit ich doch etwas von Ihnen sprechen höre. Wenn man Durst hat, so ist schlechtes Wasser besser als gar keins. Sie werden jetzt in Stuttgart sein, leben Sie recht wohl!

Ihr ergebenster
Gottfr. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe