Heidelberg, den 11. Dezember 1849.

Ich weiß noch nicht, wenn dies Papier fort kommt, und will es noch voll schreiben. Ich war seit Ihrer Abreise schon zweimal in Ihrem elterlichen Haus, habe aber nur Ihre Mutter gesehen, indem Ihr Vater, von früheren Besuchen ermüdet, auf seinem Zimmer war, und ich ihn durchaus nicht stören mochte. Ihre Mutter spricht zu meinem großen Vergnügen sehr viel von Ihnen... Für Ihre Veilchen danke ich herzlich; sie liegen in Ihrem Brieftäschchen, und wenn der Ort, wo dieses liegt, eine Ruhestätte genannt werden kann, so haben die Blumen allerdings eine solche gefunden. Ich hatte sie dazumal in einer melancholisch-widerspenstigen Stimmung fast absichtlich auf Ihrem Fenstersims liegen lassen und es nachher sehr bereut; nun habe ich sie doch noch bekommen. Ich mache mir manchmal Vorwürfe, und ich weiß nicht, ob ich sie meinem ganzen Geschlecht machen soll, daß ich so wenig Geschick für einen unbefangen anmutigen Verkehr habe, daß ich erst durch bittere Schmerzen lernen mußte, mein Gefühl in Bande zu legen und mich in einer schönen Freundschaft froh zurecht zu finden, statt gleich Liebe zu begehren und geben zu wollen. Es kommt übrigens vielleicht von dem verhältnismäßig kleinen Begriff, welcher sich in Beziehung auf Freundschaft überhaupt nach und nach in mir ausgebildet hat. Ich muß wirklich gestehen, daß mir die Freundschaft keine große Lücke in meinem Leben ausfüllt. Es versteht sich bei mir von selbst, daß alle tüchtigen und offenherzigen Leute sich gegenseitig gut sind, daß die Gleichgesinnten zusammenwirken, daß man sich hilft, wo man kann, sich duldet und seine Meinungen liebevoll austauscht. Was aber hierbei für die tiefsten und innersten Herzensbedürfnisse Genügendes herauskommt, das sehe ich nicht recht ein. Man wird so oft getrennt; ich erwerbe mir neue Freunde, welche mir so lieb werden wie die früheren; diese ihrerseits tun das gleiche, und so entsteht ein großes Gewebe von guten und mannigfachen Charakteren, welche voneinander hören und oft eine gemeinschaftliche Sympathie haben. Aber gerade dadurch wird die Freundschaft mehr öffentlich, sozial und mich dünkt das, was sie sein soll und am besten ist. Es mag eine Zeit gegeben haben, wo die großen leidenschaftlichen und idealen Freundschaften gerechtfertigt waren; jetzt aber glaube ich, sind sie es nicht mehr. Unter den Männern wenigstens scheint es mir je länger je mehr unpassend zu werden, wenn zwei so etwas recht Besonderes und Exquisites unter sich haben wollen; es ist unbürgerlich und unpolitisch. Es ist schön, wenn sich Jugendfreunde ihr ganzes Leben durch so lang als möglich aufmerksam und treu bleiben, aber der innerste heiße Hunger des Herzens hat davon nichts, bei mir wenigstens nicht. In Beziehung auf Frauen ist es etwas anderes, aber auch da muß ich, wenn ich für eine einzelne eine recht hingebende Freundschaft bekommen soll, zuerst geliebt haben, oder vielmehr ich kenne hier keinen Unterschied zwischen beiden Neigungen, und das Wohlwollen, das ich für die Frauen im allgemeinen empfinde, ist durchaus keine Freundschaft, wenn sie mir auch noch so nah stehen, es ist nur Artigkeit. Zu meinem Nachteil vermisse ich leider eine gesellschaftliche Tugend, jenes unschuldige Kokettieren und Freundlichtun bei kaltem Blute, womit viele junge Leute sich sonst das Leben angenehm machen.

O je, was ist das für eine langweilige Predigt! Es ist, wie ich es überlese, doch nicht alles wahr! Aber ich kann mich jetzt nicht recht ausdrücken. Ich danke sehr für Ludwig Feuerbachs Gruß. Bei diesem Anlaß möchte ich Sie bitten, nicht so entschieden resigniert in die Zukunft zu blicken; zwei, drei nächste Jahre können solche Veränderungen und Umwälzungen in weiten wie in engeren Verhältnissen hervorbringen, daß viele Rücksichten von selbst schwinden, andere aber zur Seite zu werfen, die erste Pflicht werden kann. Es kann einen solchen Durcheinander geben, daß alles, was sich liebt, fest aneinander klammern muß, ohne daß die andern deswegen schlimmer dran sind. Nur die Halbheit hat gar keine Zukunft. Legen Sie mir dies nicht als Leichtsinn aus, ich bin eben sehr bekümmert für Sie. Leben Sie so glücklich und heiter als möglich, Sie können es gewiß und sagen es ja selbst! Ich hoffe bald von Ihren Fortschritten in der Kunst zu hören; ob ich wohl jemals etwas von Ihnen zu sehen bekomme?


Ihr ergebenster
Gottfr. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe