Berlin, den 15. Oktober 1853

Lieber Freund!

Ihre freundlich besorgte Nachfrage, welche mich wohltuend berührte, obschon ich als Unkraut in keinerlei Gefahr schwebe, veranlaßt mich, Ihnen endlich den schuldigen Brief zu entrichten.


Vor allem wünsche ich, daß sich die Gesundheitszustände in Ihrer lieben Familie gebessert haben... Daß es Ihnen am Meere gut erging und gut gefiel, freut mich; ich bin nur neugierig, ob ich auch noch den Tag erlebe, wo ich wieder in eine vernünftige Gegend komme und entweder Meer oder Gebirg sehe. Die märkische Landschaft hat zwar etwas recht Elegisches, aber im ganzen ist sie doch schwächend für den Geist; und dann kann man nicht einmal hinkommen, da man jedesmal einen schrecklichen Anlauf nehmen muß, um in den Sand hineinzuwaten. Ich bin fest überzeugt, daß es an der Landschaft liegt, daß die Leute hier unproduktiv werden. Ich sagte es schon hundertmal zu hiesigen Poeten, die sich domiziliert haben, und sie stimmen alle ein und schimpfen womöglich noch mehr als ich; aber keiner weicht vom Fleck, lieber sterben sie elendiglich auf dem Platze, ehe sie von dem verfluchten Klatschnest weggehen. Wie sehr werde ich mich sputen, wenn ich einmal kann! Denn ich fühle wohl, daß ich hier auch eintrocknen würde. Ein Hauptgrund zu der Impotenz ist auch die verfluchte Hohlheit und Charakterlosigkeit der hiesigen Menschen, die gar keinen ordentlichen fruchtbaren Gefühlswechsel und -ausdruck möglich macht. So kommen die Leute aus dem Rechten heraus, ohne zu wissen, wie es eigentlich zugegangen. Doch muß ich gestehen, daß für die eigentliche Gelehrtenwelt die Sache sich anders verhält und hier eine gute Luft zu sein scheint oder wenigstens einmal war.

Ein vorübergehender Aufenthalt hier hingegen ist jedenfalls auch für künstlerische und andere Seiltänzernaturen gut...

Ich kann jetzt endlich sagen, daß ich in ein kontinuierliches und ergiebiges Arbeiten hineingekommen bin und denke mich binnen einem Vierteljahre herauszufressen. Das Romanzerogedicht werde ich auf Weihnachten nun doch allein herausgeben, da es in dem Gedichtbändchen nicht mehr Platz hatte, ›weil die vorrätigen gepreßten und vergoldeten Pappdeckel zu eng seien‹. Das kommt von unserer Buchbinderpoesie. Man wird nächstens leere Einbände kaufen mit schönen Titeln. Vieweg hat vor zwei Jahren die starke Zahl von 1500 gedruckt mit der Bedingung, daß er nach einiger Zeit den Rest, der nicht verkauft sei, als zweite Auflage mit Vermehrung, die ich unentgeltlich liefern muß, versende. Die Auflagen der Geibel usw. sind nur 500 stark; Vieweg hat mir also drei Auflagen mit einer abgezwackt. Doch muß er mir nun den Romanzero erklecklich bezahlen...

Ein Bändchen Novellen ist ganz spielend entstanden, und Vieweg wird es wahrscheinlich mit dem vierten Band des Romans zusammen herausschicken. Nur fürchte ich, daß nun zuviel nacheinander kommt und ich den Anschein eines anmaßlichen Schmierers gewinne, da die Leute nicht wissen, wie langsam und jämmerlich es bei mir herging.

Ich werde Ihnen nächstens wegen des Romanes noch einmal schreiben und schließe daher für heute.

Mit tausend Grüßen Ihr
G. Keller.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe